Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

V. Die Freiheit im Weltzusammenhange

Vorstellung der Freiheit

La necessità é maestra e tutrice della natura;
la necessità é tema e inventrice della natura
e freno e regola eterna
.
Leonardo da Vinci

Vorüber sind die Zeiten, da es erlaubt war, an die absolute Freiheit des Menschen zu glauben. Nach jahrtausendelangem Kampfe, nach verzweiflungsvollem Widerstande hat sich sein Stolz zuletzt vor der Erkenntnis beugen müssen, dass auch sein Wollen, sein Tun dem universellen Determinismus unterworfen ist. Auch er bezeichnet ein Glied in der lückenlosen Kette der Naturerscheinungen; auch das Reinmenschliche ist zugleich natürlich. Wir sind keine Götter, die voraussetzungslos schaffen, aus dem Nichts gestalten, aus absoluter Freiheit handeln könnten; unser Wollen, Denken und Tun folgt notwendig aus der Interferenz unseres Charakters, dem wir unterworfen sind, mit den Eindrücken und Motiven, denen wir uns nicht entziehen können. Und vor göttlichen Augen erschiene das menschliche Treiben gerade so eindeutig und unabänderlich vorherbestimmt, wie der Flug der Planeten, wie die Brandung des Ozeans.

Und dennoch sind wir autonom; für das Bewusstsein ist das Wollen ein Letztes und die bloße Tatsache eines Willens impliziert für das Subjekt die Vorstellung der Freiheit. Wenn ich tun kann, was ich will, und sei mein Wille noch so bedingt, so ist diese Art der Determination für mein Bewusstsein jedenfalls eine andere als die außer mir; ich empfinde sie als Freiheit. Und diese Freiheit als Vorspiegelung, als Illusion zu bezeichnen, wäre erbärmliche Sophisterei: denn erstens ist eine Illusion subjektiv gerade so wahr und naturnotwendig bedingt, wie die handgreiflichste Realität, zweitens aber wäre es lächerlich, bestreiten zu wollen, dass der Mensch sich frei fühlt, weil er tatsächlich durch Gesetze bestimmt wird. Die innere, subjektive Seite ist der objektiven Betrachtung unzugänglich; daher vermag keine Physik und keine Dialektik die Freiheit aus der Welt zu schaffen1.

Es ist ein häufiger Fehler des Menschengeistes, dass er nachträglich Begriffe auszuschalten oder gar zu leugnen sucht, die durch den Umstand, dass sie überhaupt denkbar und möglich waren, ihre Daseinsberechtigung ein für alle Male nachweisen. Wenn wir im Leben ohne die Begriffe von Kraft und Stoff z. B. nicht auskommen können, so ist es doch offenbar widersinnig, sie deshalb abschaffen zu wollen, weil die Wissenschaft kein physisches oder metaphysisches Substrat für sie nachzuweisen vermag. Und im selben Sinne wäre es absurd, den Begriff Freiheit auszuschalten, weil es keine absurde Freiheit gibt: Begriffe sind ja keine Gegenstände, keine Tatsachen, sondern nur Schemen; sie sind zweckmäßig oder unzulänglich, nicht wahr oder falsch. Daher ist die Existenzfrage ganz sinnleer. Das Wort Freiheit bezeichnet ursprünglich eine psychische Tatsache; gewinnt es nun nachträglich eine Bedeutung, welche dem Tatbestande nicht mehr entspricht, so ist es gewiss rationeller, den Sinn zu berichtigen, als den Begriff selbst zu leugnen. Daher kommt es in unserem Falle, wo es gilt, die Stellung der menschlichen Freiheit innerhalb des kosmischen Zusammenhanges zu begreifen, gar nicht auf die Entscheidung der Frage an, ob es eine Freiheit gibt, sondern einzig auf folgendes: was wir unter Freiheit zu verstehen haben. Denn über die metaphysische Realität von Worten zu diskutieren — das sollte im 20. Jahrhundert nicht mehr notwendig sein!

Der Mensch ist, von außen besehen und aus dem Gesichtswinkel der verflossenen, nicht der verfließenden Zeit betrachtet, dem allgemeinen Determinismus gerade so bedingungslos unterworfen, wie jedes andere Naturobjekt; für sein eigenes Bewusstsein aber ist er frei — wie lässt sich das zusammenreimen? — Offenbar handelt es sich um verschiedene Perspektiven dem gleichen Tatbestande gegenüber — soviel können wir, durch frühere Erfahrungen belehrt, im Voraus aussagen. Um so schwieriger dürfte es dagegen sein, ihren Zusammenhang wirklich aufzudecken; denn hier handelt es sich darum, zwei Dinge, die für das unmittelbare Bewusstsein absolut geschieden sind, mit einem Blicke zu überschauen: das äußere Geschehen und das eigene Wollen und Tun, also gleichsam Physik und Metaphysik — wo wir doch erkannt haben, dass ein derartiger Überblick in concreto unmöglich ist. In der Tat scheint das Problem unlösbar; und dennoch müssen wir es lösen, weil sonst unser ganzes Gebäude zusammenstürzt — fußt es doch auf den Voraussetzungen der unbedingten Einheit der Natur und der Möglichkeit, aus dem Menschlichen ins Universale zu gelangen; denn entzieht sich die Freiheit dem kosmischen Zusammenhange, so ist die Einheit des Weltalls aufgehoben; und gelingt uns hier kein allgemeiner Überblick, so ist ein solcher überhaupt ausgeschlossen, so waren alle unsere bisherigen Bemühungen vergeblich — weil wir ja nur durch Freiheit zur Natur gelangen können.

Das verhängnisvolle Problem ist — um es nur gleich zu sagen — im Wesentlichen schon durch Kant gelöst worden; dessen Freiheitslehre — eines der tiefsten Erzeugnisse der Menschheit — enthält alle Daten, deren wir bedürfen. Nur werden wir ihren Zusammenhang umgestalten oder umkehren müssen; denn die Kantische These ist nicht unmittelbar einleuchtend.

1 Vgl. hierzu Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1888, ch. III, woselbst die Unvergleichbarkeit des menschlichen Handelns mit dem anorganischen Geschehen auf äußerst scharfsinnige Weise nachgewiesen wird. Bergsons Auffassung der Freiheit deckt sich übrigens im Wesentlichen mit derjenigen meines Großvaters, des Grafen Alexander Keyserling, wie sie in seiner posthumen Schrift Einige Worte über Raum und Zeit, Cotta 1894 niedergelegt ist.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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