Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

I. Die Einheit des Universums

Ursachen der Mannigfaltigkeit

Wenden wir uns jetzt, nachdem wir uns mit den Faktoren, welche die Einheit bilden, auseinandergesetzt haben, dem Studium der Einheit selbst zu!
Drei Wege, jeder von ihnen einer bestimmten Denkrichtung entsprechend, sind bisher von der Wissenschaft1 eingeschlagen worden, um den Zusammenhang des Weltganzen zu begreifen: wir wollen sie, nach dem Vorgange Frédéric Houssays2, dem wir so viele schöne erkenntnistheoretische Ausblicke auf die Naturwissenschaften, besonders die Biologie, verdanken, den statischen, den kinematischen und den dynamischen nennen3.

Die statische Einheit der unter den drei Kategorien Stoff, Kraft und Leben von uns zusammengefassten Erscheinungskomplexe ist nun eine empirische Tatsache ebensowohl, wie ein Postulat unseres Denkens. In letzterer Hinsicht beweisen es die philosophischen Systeme aller Zeiten. Ob man das Universum mit Leibniz als die bestmögliche der Welten betrachtet, oder es, wie der grimmige Schopenhauer, für ein Non plus ultra der Unzulänglichkeit erklärt — darin sind alle, wie immer gefühlsbetonten Weltanschauungen einig gewesen, dass es besteht, dass die Planeten nicht mit den Köpfen aneinanderrennen, dass die Welt sich selbst nicht vernichtet, nicht widerspricht. Diese letzte, in Hegelscher Ausdrucksweise freilich arg apriorisch klingende Wahrheit sagt nun weiter nichts aus, als dass die Welt sich in statischem Gleichgewichte befindet, was die Erfahrung uns von jeher gelehrt hat. Jedermann weiß, wie alles in der Welt an allem mitbedingt wird, dass alles Geschehen in der Natur aus einer Störung des Gleichgewichtes seinen Ursprung nimmt, dass der jeweilige Zustand unseres Planeten ebensowohl wie des ganzen Weltalls oder des einzelnen Sandkornes das Resultat der Kompensation alles vorhergehenden wie gleichzeitigen Geschehens darstellt; dass das Leben von tausend anorganischen Faktoren abhängt und umgekehrt viele unter diesen von jenem, wie z. B. der Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre von der Vegetation. Aber ebensowenig wie die Syllogistik kann ihr physikalisches Äquivalent, die Statik, unser Wissen wirklich bereichern. Ein Syllogismus lehrt uns immer nur dasjenige, was die Prämissen schon enthielten, und im selben Sinne ließen sich alle statischen Weltanschauungen in bezug auf ihren Erkenntniswert durch folgenden Satz erschöpfen: Wenn die Welt sich im Gleichgewichte befindet, so folgt daraus, dass sie es tut. Die Statik lehrt uns eben nur den aktuellen Zusammenhang der Erscheinungen, sagt aber über die Entwicklung derselben, ihre Ursachen und das Gesetz, welches den Zusammenhang bewirkt, nichts aus.

Die kinematische Betrachtungsart, als diejenige, welche den Verlauf der Phänomene studiert, ohne auf die Ursachen Rücksicht zu nehmen, betritt zwar den Weg, welchen alle Forschung einschlagen muss, um zu den fundamentalen Prinzipien zu gelangen; aber diese selbst (um welche es sich bei einem befriedigenden Weltbilde doch hauptsächlich handeln muss) erreicht sie überhaupt nicht. Sie bleibt um eine Etage zu tief, ebenso wie die experimentelle Psychologie den transzendentalen Bedingungen der Erfahrung gegenüber. Wie jene uns wohl die Entwicklung unserer Vorstellungen in der Zeit lehren kann, aber gänzlich außerstande ist, auch nur das geringste über die apriorischen Vorbedingungen in jedem einzelnen Augenblicke der Apperzeption auszusagen, ebenso gibt uns die Kinematik wohl ein Bild der Erscheinungsfolge, nicht aber ihres gesetzmäßigen Zusammenhanges. Die Energetik z. B. ist wesentlich kinematischen Charakters; sie hat es bloß mit dem Werden, dem Wandel zu tun; aber sie weist keinen festen Punkt, von welchem aus der Wandel selbst verständlich würde. Wenn alles nur wird, nichts beharrt; wenn es bloß Energien gibt, die sich in buntester Mannigfaltigkeit, in schillernder Unbegreiflichkeit kombinieren und wiederauflösen, entstehen und vergehen, ohne je zu sein — denn Kräfte sind gar nicht, sie werden und wirken bloß — wo sollen wir die ersehnte Einheit fassen? — Die einzige überhaupt denkliche liegt in dem Worte Energie beschlossen, womit bekanntlich alles, alles ohne Ausnahme bezeichnet werden kann. Manchem bedeutenden Naturforscher scheint diese Einheit auch zu genügen; wir aber wissen schon jetzt — ohne nähere Begründung —, dass wir auf kinematischem Wege unser Ziel nicht erreichen werden.

Wenden wir uns nunmehr dem Dynamismus zu. Jede dynamische Weltanschauung fußt — gleichviel, wie sie im besonderen beschaffen sein mag — auf einer kausalen Fragestellung. Deren gibt es natürlich sehr viele: man kann nach dem Seins-, dem Werdensgrund fragen; auf den Urstoff oder die Grundkraft sein Augenmerk richten; man kann die Frage sowohl theologisch als empirisch als auch philosophisch fassen, ihren Sinn formal oder material verstehen. Hier gibt es die fruchtbarsten, aber zugleich auch die sterilsten Möglichkeiten. Merkwürdigerweise ist zumeist letzteren der Vorzug gegönnt worden: man hat gemeiniglich versucht, die Welt aus einigen wenigen Urelementen, Grundstoffen oder Grundkräften, also analytischen Einheiten zu erklären, welche durch verschiedengerichtete Entwicklung und Anordnung (im statischen und kinematischen Sinne) die ganze Mannigfaltigkeit des Weltalls, welche uns die Sinne eröffnen, herbeiführen wollen. Trotz Schellings4 höchst beherzigenswerten Warnungsrufen:

Ich hasse nichts mehr als jenes geistlose Bestreben, die Mannigfaltigkeit der Naturursachen durch erdichtete Identitäten zu vertilgen,

hat das ganze letzte Jahrhundert unter dem Zeichen dieser Betrachtungsart gestanden. So ist die Elektronen-, so die Evolutionstheorie dynamischen Charakters. Beide sind aber zugleich atomistisch! — Wer eine vernichtende Satire auf den Menschengeist schreiben wollte, der könnte sich wahrhaftig kein göttlicheres Thema wünschen: die Frage nach der Ursache führt auf Atome! Atome als letzte statische Einheiten, als Rechenpunkte der Mechanik, als praktische Schemen zur Entwirrung verschränkter Zusammenhänge — alles das lässt sich hören; aber als Ursachen der Mannigfaltigkeit — das übersteigt alles, was eine schwärmende Vernunft je auszuhecken gewagt. Und doch ist es nicht anders: die Evolutionstheorie — ich beginne gleich bei dem Ungeheuerlichsten — erklärt die höchsten Organisationstypen aus — einfachen Zellen, die es, weiß Gott, aus welchem Grunde und auf welche Weise, zuwege brachten, sich ansteigend bis zum Überschwange zu differenzieren! Hätte nicht schon die neueste Biologie den ganzen Zellenschwindel über den Haufen geworfen, indem sie nachwies, wie völlig willkürlich die Annahme der Zelle als letzter Lebenseinheit sei, und die schier grenzenlose Komplikation des Lebens bis ins Unendlichkleine aufdeckte5 — ein kleinwenig philosophische Besinnung würde genügen, um den Widersinn des Lebensatomismus einzusehen6. Denn selbst, wenn es sich nachweisen ließe — was bisher keineswegs gelungen ist —, dass die organische Welt vom Einfachen zum Komplizierten fortschreitet — was wäre damit für das Einheitsbedürfnis, für die ursächliche Erklärung des Lebens gewonnen? Das Warum? der Entwicklung — und darauf muss ein konsequenter Dynamismus zuletzt hinauswollen — bliebe seiner Beantwortung genau so fern, wie vorher; die Einheit und der Seinsgrund des Lebens wären um kein Jota verständlicher, wenn unsere Vorfahren wirklich Quallen oder Rädertiere waren; und das Gesetz der Entwicklung läge überdies gänzlich außerhalb der Fragestellung. Denn das sogenannte biogenetische Grundgesetz, wonach die Ontogenie die Phylogenie wiederholen soll, enthält in Wahrheit — selbst wenn es zutreffen sollte — gar keine Antwort auf die Frage nach dem Entwicklungsgesetz, sondern es ist vielmehr diese Frage selbst, in sehr exzentrischem Gewande: ist es nicht außerordentlich wunderbar, dass die Natur geistlos genug ist, bei jeder neuen Gestalt den ganzen langen zurückgelegten Weg wiederholen zu müssen — wohl um die Historie nicht zu vergessen? — Vom Standpunkte der Einheit des Universums kommt dem Lebensatomismus nicht der geringste Wert zu; er vermag gar nichts verständlich zu machen. In der Tat sind auch in den letzten Jahren vernichtende Argumente gegen die heute herrschende Form der Evolutionstheorie — und diese fußt ganz und gar auf der Annahme von Lebensatomen — ins Feld geführt worden7, und wenn ich nicht sehr irre, so sind ihre Tage gezählt. Der ganze Charme der monistischen Weltbetrachtung nach evolutionistischen Prinzipien beruht eben auf dem kindlichen Glauben, dass der Weg der Natur nun einmal vom Einfachen zum Komplizierten führen müsse; aber gerade dieser Glaube ist es, der dem allerplattesten Anthropomorphismus entspringt: warum soll die Natur nicht von Ewigkeit her Kompliziertes geschaffen haben; warum soll das, was dem Menschen als einfach erscheint, darum auch das Ursprüngliche sein, warum kann das Einfache nicht von jeher bloß einen Spezialfall in der Mannigfaltigkeit bedeutet haben8? Heimlich spukt in diesem Vorurteil immer noch die altväterische Ehrfurcht vor der absoluten Größe: ein großer Körper hat — so urteilt der gesunde Menschenverstand — offenbar mehr Teile als ein kleinerer; folglich — so schließt er weiter — ist ein unendlich kleiner Körper unteilbar. Überdies steht fest, dass der größte Elefant aus einem sehr kleinen Ei entsteht; daraus kann man den logischen Schluss ziehen, dass alles Große sich aus dem Kleinen entwickelt haben muss. Und  weiter, da der Elefant dem Auge fraglos komplizierter erscheint, als das Ei, so muss eben alles Komplizierte aus dem Einfachen seinen Ursprung herleiten. Heute berechtigt nun keinerlei Erfahrung mehr zu solch flacher Betrachtungsart. Das Ei, die Zelle — einst consensu professorum die absolut einfache Lebenseinheit — sie hat sich bei genauer Untersuchung als ein unendlich kompliziertes Gebilde entpuppte9 — ihrerseits gewiss nicht viel weniger kompliziert als der vollausgewachsene Organismus10. Der Vervollkommnung nach oben zu könnte man mit vollem Rechte eine Vervollkommnung nach unten zu gegenüberstellen; ja die ganze Fragestellung der gerichteten Entwicklung betrifft im letzten Grunde nur das menschliche Auge um die Komplikation der Zelle wahrzunehmen, bedürfen wir des Mikroskopes; diejenige des Menschen etwa erkennen wir mit bloßem Auge. So erweist sich der Gesichtspunkt, welcher zur Beurteilung der Naturzwecke eingenommen wurde, als das Non plus ultra eines rohen Anthropomorphismus die absolute Größe als Maßstab anzunehmen — dazu berechtigt allenfalls die menschliche Beschränktheit, keinesfalls aber die unendlich reiche Natur. Einem Wesen mit Verstand, welches, nehmen wir an, nur ein hundertstel Millimeter mäße, würde ein Infusor zweifelsohne geradeso kompliziert erscheinen, wie uns der Elefant; und als einfach gälte ihm erst dasjenige, was dem Menschen schlechterdings unsichtbar bleibt. Ja vielleicht hielte es sogar, den Spieß umdrehend, das uns kompliziert Erscheinende für höchst einfach, weil es bei so riesenhaften Dimensionen den Zusammenhang nicht mehr überschauen könnte und alles sich in Schatten auflöste.  — Soviel steht jedenfalls fest, dass die Komplikation des Lebens bisher keine anderen Grenzen gezeigt hat als solche, welche den Beobachter betreffen; das Leben kennt kein Oberes, kein Unteres, vor allem aber nichts Einfaches; alles ist kompliziert. Der aufwärts strebenden Mannigfaltigkeit stellt sich eine ebenso große Mannigfaltigkeit nach unten zu gegenüber, und darum hat es wenig Zweck, von der Theorie der Entwicklung des Lebens aus dem Einfachen zum Komplizierten die Lösung des Welträtsels zu erhoffen. Nur für unser Auge gibt es größere oder geringere Zusammengesetztheit, ebenso wie es für uns nur absolute Größenunterschiede gibt; die Möglichkeiten der Natur kennen diese Einschränkungen nicht11. Wo bleibt also der Lebensatomismus? — Im Lebendigen gibt es nichts Einfaches.

Fassen wir jetzt — um abzuschließen — noch einmal den anorganischen Atomismus vom dynamischen Standpunkte aus ins Auge, so sehen wir, dass sein Schicksal kein besseres ist als dasjenige des organischen. Wohl können wir bei Kraft und Stoff von Einfachem und Zusammengesetztem reden, wohl gibt es hier, wenigstens relative, Einheiten; aber wenn wir das Zusammengesetzte bis zur Möglichkeitsgrenze analysieren, so ist das Bild, welches uns das nunmehr Einfache darbietet, mit dem des Komplizierten identisch. Die Unterschiede sind wiederum nur Größenunterschiede und infolgedessen belanglos. Lösen wir eine beliebige Verbindung in ihre Bestandteile auf, so müssen wir uns — wie die Stereochemie lehrt — ein geometrisches Schema der Anordnung bilden, welches einem Planetensystem ähnelt12, und bei der kristallographischen Berechnung benutzen wir als Schema des festen Körpers tatsächlich ein System um einen Schwerpunkt kreisender Kräftecentra. Und besteht das Atom selbst wieder aus Elektronen, die den leeren Raum der Kraft nach besetzen, so haben wir das Bild des Sternenhimmels vollständig wieder. Vielleicht löst man die Elektronen ihrerseits einmal weiter auf — das resultierende Bild wird jedenfalls mit dem früheren identisch sein. So ist es auch hier schließlich nur der Begriff der absoluten Größe, welcher den Atomismus gleichsam moralisch stützt. Und wenn wir nun erkennen, dass das Große mit dem Kleinen, das Einfache mit dem Zusammengesetzten im letzten Grunde identisch ist, und wir von Sonne zu Atom und vom Atom zum Weltall nur einen immerwährenden Kreislauf vollführen — welchen Sinn kann es da wohl haben, das Große aus dem Kleinen, das Zusammengesetzte aus dem Einfachen zu erklären, überhaupt eine Kausalreihe herzustellen? — Offenbar gar keinen. Die Unendlichkeit des Weltalls offenbart sich uns nach jeder Richtung, in Raum, Zeit, Größe und Kleinheit. Wie Kraft und Stoff auf dem Wege vom Unendlich-Großen zum Unendlich-Kleinen — sagen wir metaphorisch zwischen plus und minus Unendlich — immer wesentlich das gleiche Bild aufweisen, so bewegt sich das Leben auf der gleichen Bahn von Verschiedenem zu Verschiedenem, von Kompliziertem zu Kompliziertem, ohne je einen Anfangspunkt zu verraten, den Nullpunkt, von welchem aus man zählen könnte. Plus und minus Unendlich fallen aber zusammen, wie die Mathematik lehrt, die Extreme berühren sich. Daher kommt es, dass wir im Universum nie einen Anfang (im Sinne von Raum, Zeit, Stoff, Kraft, Leben) werden entdecken können, der nicht ebensogut dem Ende entspräche. Wenn wir den Blick vom Sternenhimmel zur Erde wenden und diese immer weiter vergliedern und zuletzt in Atome auflösen, so finden wir bei stärkster Vergrößerung im ganz Kleinen den Sternenhimmel wieder mit seinen Sonnen- und Planetensystemen; das Mikroskop wandelt sich — um ein früher angewandtes Bild zu wiederholen — zum Teleskop oder umgekehrt. Was wir nirgends entdecken können, ist das Atom. Behufs der Welteinheit nach kleinsten unteilbaren Einheiten zu fahnden, ist gerade so sinnreich, als einen willkürlich gewählten Punkt der Kreisperipherie als Anfang festzusetzen; im Kosmos eignet sich dazu der Sirius gerade so gut, wie das Wasserstoffatom. Das Leben ist aber in seiner Gesamtheit die letzte Einheit, sozusagen das Atom, welches wir feststellen können. Da alles von allem abhängt, wo ist der Anfang, wo das Ende? Könnte irgendein Organismus allein auf Erden dauern? — Nein. Schon das Leben allein ist ein Kosmos für sich, ohne Anfang, ohne Ende. Das Weltall aber ist ein in sich zusammenhängendes Ganzes, einer Kugel vergleichbar; und der Mensch, der nach ihrem Anfange sucht, bewegt sich im günstigsten Falle auf ihren größten Kreisen, welche ihn zuletzt wohlbehalten zum Ausgangsorte zurückführen.

Somit ist auch die dynamische Fragestellung keineswegs geeignet, uns eine befriedigende Antwort zu verschaffen. Aber sollen wir uns überhaupt darüber wundern? — Die Frage nach ersten Ursachen ist ja an sich schon widersinnig, weil die kausale Betrachtungsart ihrem Wesen nach den regressus ad infinitum postuliert, da jede letzte Ursache ihrerseits wieder bedingt sein muss. So fordern es wenigstens unsere Denkgesetze. Das sollte seit Kant und Goethe ein jeder wissen. Und auch die Unzulänglichkeit der übrigen Problemstellungen ist schließlich selbstverständlich; denn jede der skizzierten Betrachtungsarten ist wesentlich einseitig, und wie sollte es überhaupt möglich sein, eine Allheit von einer Seite zu erschöpfen? — Jede Denkrichtung wird einer Richtung des Weltganzen gerecht: die statische der Diskontinuität, wie sie uns in Gestalt der Grenzen und Verschiedenheiten tatsächlich entgegentritt; die kinematische der Kontinuität des Geschehens und die dynamische dessen kausalem Zusammenhang. Und wenn nunmehr feststeht, dass — um von allem Einzelnen zu schweigen — die Grundkategorien Stoff, Kraft und Leben nicht weiter zurückführbar sind, dass wir mit ihrem statischen Gleichgewichte rechnen müssen; dass alles ferner in stetiger Wandlung begriffen ist, dass aber die dynamische Fragestellung uns auf keinen wie immer beschaffenen Anfangspunkt führen kann, von welchem aus wir das Universum begreifen könnten — so müssen wir uns offenbar nach einem anderen Standpunkte umsehen, welcher die drei vorigen überragt. Hiermit aber verlassen wir die rein naturwissenschaftliche Weltbetrachtung und begeben uns auf philosophisches Gebiet.

1 Die rein spekulativen Versuche, die Einheit zu begreifen, werden vorderhand von unseren Betrachtungen ausgeschlossen.
2 Nature et Sciences naturelles, Paris 1904, pag. 8.
3 Zur vorläufigen Erläuterung dieser der Physik entlehnten Bezeichnungen diene folgende Bestimmung: die Statik behandelt den aktuellen Zusammenhang, sozusagen das Gleichgewicht der Erscheinungen, ohne nach dem Wege des Zustandekommens noch nach der Ursache zu fragen; die Kinematik bloß den Weg, das Werden, und die Dynamik untersucht denselben Weg vom Schlussergebnis her nach dem Schema der Kausalität.
4 Von der Weltseele, 1809 pag. V.
5 Siehe z. B. die zusammenfassende Darstellung (L’Echec de la théorie cellulaire) in Houssay I. c. VI chap. II u. Reinke 1. c. cap. 16.
6 Siehe hierzu Chamberlain I. c.
7 Namentlich von Gustav Wolff (Beiträge zur Kritik des Darwinismus) und den meisten unter den an anderer Stelle genannten Gegnern der mechanistischen Lebensbetrachtung, denen sich neuerdings mit kraftvoller Wucht Houston Stewart Chamberlain angeschlossen hat. Neumeister schreibt (I. c. pag. z):
Nachdem in neuester Zeit selbst ein namhafter Zoologe erklärt hat: Der Darwinismus gehört der Geschichte an wie das andere Kuriosum unseres Jahrhunderts Hegels Philosophie, und eine Reihe anderer Fachleute sich zu ähnlichen Anschauungen bekannt haben, ist es nunmehr wieder erlaubt, die Lehre Darwins — ohne der Ketzerei als dringend verdächtig zu erscheinen — eine Hypothese zu nennen.

Freilich richten sich die meisten Kritiker bloß gegen den eigentlichen Darwinismus, die Selektionstheorie, aber der Lamarkismus enthält wie Joseph Breuer (Die Krisis des Darwinismus und die Teleologie, Leipzig 1902) mit Recht bemerkt, keinen Faktor, welcher die aufsteigende Entwicklung notwendig erscheinen ließe, und De Vries’ Mutationstheorie kann nur engbegrenzten Gebieten gerecht werden. Nachgerade bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass die Zweckmäßigkeit, die Grundeigenschaft des Lebens, keiner Erklärung aus mechanischen Prinzipien fähig ist, wie denn K. B. Hofmann schon im Jahre 1889 schrieb:

Wenn manche Anhänger Darwins meinen, die teleologische Betrachtungsweise sei müßig, weil die zweckmäßige Beschaffenheit eines Organismus sich als Folge seiner Anpassungsfähigkeit erkläre, so übersehen sie, dass vielmehr die Anpassungsfähigkeit gerade eine zweckmäßige Eigenschaft der Organismen ist.
8 Die Paläontologie spricht für diese Anschauung und keineswegs, wie so oft behauptet wird, für die ansteigende Entwicklung. Freilich zeugen die geologischen Schichten für die Variation bestimmter nie — verlassener Typen in der Zeit, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die heutigen Organismen von andersgearteten abstammen. Aber dass diese tatsächlich einfacher oder unvollkommener waren, dafür spricht keinerlei Erfahrung sie waren bloß anders. Wie sehr das Vorurteil des Fortschritts innerhalb der Tierskala das Denken sterilisiert und auf die schönsten Beobachtungen die abstrusesten Theorien zu gründen nahelegt, möge folgendes Beispiel erläutern René Quinton hat in einem bahnbrechenden Werke L’eau de mer, milieu organique (Paris, Masson 1904) den Nachweis zu erbringen gesucht, dass das Leben seinem Wesen nach ein fixes, beständiges Phänomen ist, in dem Sinne, dass durch die ganze Mannigfaltigkeit der Lebewelt hindurch die chemische Zusammensetzung des inneren Milieus (das bei den niederen Tieren mit dem äußeren zusammenfällt) das gleiche bleibt, und zwar aufs genaueste dem Meerwasser entspricht, und weiter, dass die Temperatur gleichfalls überall eine bestimmte ist, wo die Vitalität ihren Höhepunkt erreicht. Die beiden Hauptgesetze, die Quinton aufstellt, lauten:
  1. En face des variations de tout ordre, que peuvent subir au cours des âges les différents habitats, la vie animale, apparue á l’état de cellule, dans des conditions physiques et chimiques déterminées, tend à maintenir, pour son haut fonctionnement cellulaire, à travers la série zoologique, ces conditions des origines (p. 452) und
  2. En face du refroidissement du globe, la vie, apparue á l’état de cellule, par une température déterminée, tend à maintenir, pour son haut fonctionnement cellulaire, chez des organismes indéfiniment suscités à cet effet, la température des origines (p. 436).

In diesen Gesetzen ist der Tatbestand bereits vergewaltigt: die exakte Untersuchung lehrt, dass das Leben an festbestimmte chemische und physikalische Bedingungen und Grenzen gebunden ist, welche an sich unwandelbar erscheinen, und insofern etwas Fixes, Beharrliches ist. Heute, wo feststeht, dass die chemischen Reaktionen im Organismus nur dann verlaufen können, wenn die Materie sich in kolloidalem Zustande befindet, welcher Zustand seinerseits nur unter sehr bestimmten Bedingungen andauern kann, ist diese Anschauung ja sehr naheliegend. Quintons Untersuchungen lehren nun das Weitere, dass die Variation der Organismen, die Entwicklung überhaupt nicht einen absoluten Fortschritt bedeutet, sondern nur den Sinn hat, die unwandelbaren Lebensbedingungen im Wechsel der äußeren Umstände zu behaupten; dass die Variation also ein Mittel zum Beharren ist — gemäß Chamberlains Lehre, dass nur das Nebensächliche sich entwickelt, das Wesentliche dagegen beharrt. Diese These ist die logisch unabweisbare Folgerung aus Quintons Untersuchungen. Nichtsdestoweniger hat der Entdecker selbst anders geschlossen, obschon er die wesentliche Fixität des Lebens erkennt: er meint, Darwins und Haeckel hätten trotz allem recht, das Leben entwickele sich ansteigend von der Einzelzelle aufwärts, und die Beständigkeit der Bedingungen habe den Sinn, dass das Meerwasser die Wiege, der Ursprungsort des Lebens sei, weswegen dieses, aus Pietät gleichsam, die ursprünglichen Verhältnisse festzuhalten suche! Ja, um Gottes willen, was wissen wir denn von Ursprüngen? Und ist die Vorstellung nicht ungeheuerlich, dass das Leben sich an Grenzen festklammern sollte, welche nicht absolut notwendig sind? — Quinton hat mehr als die meisten anderen zu einer neuen Lebenslehre den Weg geebnet; und doch umwölkt das Entwicklungsvorurteil seinen Blick so sehr, dass er die Ausblicke, die er selbst eröffnet, nicht merken kann.

9 Siehe Yves Delage L’Hérédité usw. 1903, pag. 19-97. Franz Hofmeister, Die chemische Organisation der Zelle Braunschweig 1903, pag. 23, Neumeister l. c. pag. 47. Oscar Hertwig vertritt jetzt die Meinung (Die Zelle und die Gewebe, Jena 1893, pag. 13, 15), dass sogar der Begriff protoplasmatische keinen chemischen, sondern einen morphologischen Inhalt habe. Das Protoplasma sei:
keine chemische Substanz noch so zusammengesetzter Art, sondern ein eigentümliches Gemenge zahlreicher chemischer Stoffe, die wir uns als kleinste Teilchen zu einem wunderbar komplizierten Bau miteinander vereinigt vorzustellen haben.

Selbst hier also wäre die Gestalt — das allein dem Leben Eigentümliche — das Wesentliche.

10 Félix Le Dantec, der geistvolle Verfechter einer besonderen chemischen Richtung in der Biologie, sagt (Théorie nouvelle de la vie, 1896, pag. 10):
L’homme est aux moins aussi compliqué par rapport aux plastides, que le plastide l’est lui même par rapport aux atomes qui le constituent.

Wahrscheinlich ließe sich dieser Satz, unbeschadet der Wahrheit, umkehren.

11 Damit will ich nicht sagen, dass die Natur keine Grenzen einhalte: Wesen des Lebens ist gerade seine Begrenztheit. Jeder Organismus hat ein bestimmtes, nicht zu überschreitendes Volumen, und jüngst hat L. Errera (Sur la limite de petitesse des organismes, R. de l’Inst. Bot. de Bruxelles T. 6 p. 73) wahrscheinlich gemacht, dass es sehr viel kleinere als die bisher bekannten Organismen gar nicht geben könne. Dasselbe wird sich einmal wohl auch in bezug auf die Größe nachweisen lassen. Was ich bestreite, ist die Einfachheit der kleinsten Lebewesen; mir scheint wahrscheinlicher, dass alle Organismen im Verhältnis zu ihrem Volumen und ihrer Organisation annähernd gleich kompliziert sind.
12 Ein Vergleich, welcher sich bei allen alten und neuen Physikern und Chemikern allenthalben findet, besonders natürlich in den jüngsten Publikationen. Siehe z. B. Stallo l. c. pag. 118.
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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