Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Gefüge der Welt

I. Die Einheit des Universums

Projektion des Spiegels

Um das Universum in seiner Gesamtheit zu begreifen, dazu müssen wir die gegebene Vielheit im Geiste zu einer Einheit verbinden. Zur Einheit führen aber im allgemeinen zwei einander entgegengesetzte Wege: der eine besteht in der Zergliederung, der Analyse, der andere in der Zusammenfassung des Vielen zu einer höheren Einheit. Die Unzulänglichkeit des ersteren haben wir schon genugsam erkannt; der zweite allein kann uns zum Ziele führen: Suchen wir also jetzt die Einheit in der Gesamtheit zu finden!

Hier gilt es als Erstes folgendes einzusehen: dass vom synthetischen Gesichtspunkte aus alle Fragen nach ersten Ursachen, Anfang, Ende und Entwicklung von vornherein fortfallen. In der Tat, wenn die letzte Einheit, das Atom, von welchem wir ausgehen, das Universum in seiner Gesamtheit umfasst — welchen Sinn hat es wohl, nach Grundkräften oder Grundstoffen zu fragen, da wir doch die gesamte gegebene unendliche Mannigfaltigkeit in unsere Voraussetzung aufgenommen haben? Setzen wir die synthetische Einheit des Weltalls voraus und versinnbildlichen wir uns dasselbe durch eine Kugel — wie wir schon sahen, das geeignetste Bild — was nützt es uns, wenn wir einen willkürlichen Punkt der Oberfläche als Anfang annehmen, und von dort aus große Kreise ziehen? Wir kommen rettungslos am Ausgangsorte wieder an. Und selbst wenn der Weg ständig durch gleichwertige Punkte führen sollte — wie die modernen Monisten es wollen — so würden wir dadurch die Kugel selbst nicht begreifen. Anfang und Ende, diese Begriffe entbehren hier jeglichen Sinnes. Das ist denn auch die Bedeutung des geistreichen Wortes Philolaos’ des Pythagoreers1, die Welt sei von der Mitte her entstanden: Philolaos meint damit, dass der Anfang zugleich Mitte sei, d. h. dass es überhaupt keinen Anfang geben könne. Und weiter: durchmessen wir die Kugel und suchen wir das Zentrum zu erreichen, und nehmen wir selbst an, es gelänge uns — würden wir die Kugel darum besser verstehen? Aus dem noch so genau berechneten Radius allein oder den größten Kreisen allein lässt sich das Wesen unseres Körpers nicht erschließen. Gehen wir vom Zentrum aus oder einem Punkt der Oberfläche oder einem irgendwo auf dem Radius befindlichen, durchqueren wir die Kugel nach allen Richtungen — wobei wir unfehlbar das statische Gleichgewicht, die Stabilität der Sphäre und die Kontinuität ihres Zusammenhanges erfahren würden — dem Begriffe der Kugel bleiben wir gleich fern. Diesen kann uns nur das Bildungsgesetz der Kugel gewinnen lassen, welches die verschiedenen Teile, Oberfläche, Radius usw. zueinander in festbestimmte Beziehung setzt. Aber dieses Gesetz, welches in einem mathematischen Symbol seinen Ausdruck findet, ist ein Ideales, keine Realität im materiellen Sinne. Es gilt nur, es ist nicht — so könnte man sich ausdrücken — und doch bedeutet es für den Menschengeist das Festeste, Sicherste, einzig Bestimmende. Überall, in den rein formalen Wissenschaften sowohl, wie in denen, welche konkrete Dinge behandeln, als Physik, Chemie, überall kann sich der Mensch einen wahren Begriff von dem wechselvollen Verlauf der Erscheinungen innerhalb Raum und Zeit erst dann bilden, wenn er das ideale, überräumliche, überzeitliche Gesetz kennt, nach welchem sie verlaufen. Das Gesetz bildet die Form, durch welche der Inhalt erst verständlich wird. Der Mensch muss also, wenn er erkennen will, die formale Seite der Erscheinungen ins Auge fassen. Dieses ist der Weg, welcher zum Begriff der Einheit des Universums führen kann, dieser und kein anderer. Wollen wir den Zusammenhang des Weltalls begreifen, so muss es uns zuerst gelingen, ein allgemeines Gesetz aufzudecken, welches die ganze Mannigfaltigkeit einheitlich regiert, welches in den verschiedensten Erscheinungsformen dennoch Eines bleibt.

Diese grundlegende Erkenntnis, dass die Einheit des Universums unmöglich eine materiale — d. h. in der Erscheinung zum Ausdruck gelangende — sein könne, diese Erkenntnis, welche heute so wenig bewusst zu sein scheint — der allgemeine Monismus eines Haeckel und der anorganische der Physiker beweisen es nur allzusehr — sie war den alten Griechen voll bewusst. Pythagoras2 meinte, wenn er von dem Weltanfang3 sprach, ein begriffliches, kein zeitliches Verhältnis: οὐ ϰατὰ χϱόνον, χατ ἐπινοίαν. Und der göttliche Plato erkannte dann, dass das Sein, das im Wandel Beharrende die Idee sei, d. h. ein ideales Gesetz, welches in Relationen zum Ausdruck kommt4. Alles, was ist, lehrt Plato, ist Beziehung; es gibt keine andere Einheit in der Mannigfaltigkeit als diejenige des einheitlichen Gesetzes. Die Einheit ist also eine Idee.

Fassen wir die Einheit des Universums — welche wir bisher vergeblich zu begreifen suchten — von diesem höchsten Gesichtspunkte aus ins Auge, so entgehen wir zunächst den Unzulänglichkeiten aller anderen Weltbetrachtungen: dass alles in der Welt Beziehung ist, also relativ zu allem anderen existiert — dieses lehrte uns schon das statische Weltbild, welches nur den aktuellen Zusammenhang der Erscheinungen registriert. Die Entwicklung ergibt sich als eine schier selbstverständliche Folge der platonischen Betrachtungsweise: da das Sein im Werden Ausdruck findet und das Werden im Wandel, so muss die Beziehung in der Zeit eine unendliche Reihe darstellen — ebenso wie etwa das Verhältnis von 2 zu 3 — eine Beziehung — in dem unendlichen Dezimalbruche 0,6666… in die Erscheinung tritt. Vor allem aber entgehen wir jetzt dem Fluche der dynamischen Betrachtungsart, welche im Aufstieg an der Kausalreihe in letzten analytischen Einheiten das Wesen der Welt zu begreifen sucht: von Anfang und Ende ist nicht mehr die Rede. Das Wort Anfang kann jetzt höchstens eine Metapher für den gesetzlichen Zusammenhang bedeuten; dieser Zusammenhang selbst ist die letzte unteilbare Einheit, von welcher wir auszugehen haben.

So sehen wir denn endlich einen Weg vor uns, der aus dem Wirrsal der Vielheit in die Richtung der Einheit führt. Jetzt ficht es uns nicht mehr an, ob und wieviel Grundstoffe oder Grundkräfte es gibt, ob die Welt aus gleichartigen Atomen oder Ätherwirbeln besteht, ob das Leben, und wie es entstanden ist; Statik, Kinematik und Dynamik und unter den Hauptkategorien Kraft, Stoff und Leben, die ganze Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt müssen wir unter einer höheren formalen Einheit, derjenigen der platonischen Idee, zusammenzufassen trachten. Es muss unser Bestreben sein, ein Gesetz zu entdecken, welches die ganze Vielheit bedingt und durchdringt.

Ob und wie dieses Ziel erreichbar ist, das wollen wir später untersuchen. Zunächst müssen wir uns noch dessen bewusst werden, dass die gesetzliche Einheit, nach der wir streben, auch wirklich die letzte Staffel bedeutet, welche dem Menschengeiste zu erklimmen beschieden ist. Die Frage, warum denn der Zusammenhang dieser und kein anderer sei, und was denn das eigentliche Wesen der Welt bedeute, sie ist eine schlechthin transzendente. Das Wesen des Gesetzes an sich selbst wird uns ewig verschlossen bleiben, ebenso wie das Wesen des menschlichen Ich, des Lebens und aller letzten Dinge. Gelangen wir aber wirklich dazu, ein Gesetz zu entdecken, welches in allen Erscheinungen ohne Ausnahme, wenn auch in immer verschiedener Form zum Ausdruck gelangt, so erreichen wir hiermit den höchsten vereinigenden Gesichtspunkt, welchen der Mensch je erstiegen hat.

Da gelten denn die Verse Goethes:

Freue Dich, höchstes Geschöpf, der Natur,
Du fühlest Dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend
sich aufschwang,
Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende
die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche und nimm
vom Munde der Muse,
Dass Du schauest, nicht schwärmst, die liebliche,
volle Gewissheit.

Soweit sind wir aber nicht. Ehe wir den Weg zum Gipfel antreten, ist es ratsam, zu untersuchen, ob er uns auch gangbar ist? Vielleicht sind die Hindernisse so gewaltig, dass wir unverrichteter Sache umkehren müssen —

Es ist ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Spekulation, sagt Kant (Vernunftkritik III 38/39), ihr Gebäude so früh wie möglich fertig zu machen und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei.

Dieses Schicksal müssen wir, wenn möglich, zu vermeiden suchen … Ich möchte nämlich fragen, ob der Mensch fähig ist, sich eine andere Einheit in der Vielheit, als sie das Leben darbietet, überhaupt vorzustellen? — Wir erkennen, dass das Leben eines ist, trotz aller erscheinenden Mannigfaltigkeit; dass Kraft und Stoff nur sein Material ausmachen, gleichsam seine Diener sind; dass das Ich eines bleibt bei allem Wechsel der Inhalte, der Charakter einer, trotz aller Wandlungen in Zeit und Zuständen. Oder, wenn wir es nicht erkennen, so erleben wir es doch. Das Leben ist eben die höchste, dem Menschen unmittelbar gegebene Synthese. Wie sollen wir uns nun mit einer Einheit auseinandersetzen, in welche das Leben als Teil eintritt — denn darüber wurden wir uns ja schon früher klar, dass an ein hylozoistisches Weltbild im Ernste nicht zu denken ist und wir uns die Einheit des Universums als eine höchste Synthese über Kraft, Stoff und Leben vorstellen müssen. — Dieses Hindernis scheint unüberwindlich. In der Tat, wie sollen wir vom Leben abstrahieren, da doch unser eigenes Leben die letzte, oberste Voraussetzung aller Weltbetrachtung bildet, und alle menschliche Weltanschauung nur in bezug auf das individuelle Leben besteht? — Ich will mich deutlicher machen: das erkennende Subjekt, das Ich, ist offenbar die Voraussetzung alles Erkennens; unsere Erkenntnisformen drängen wir der Außenwelt auf, sie sind es, welche das Weltbild, so wie es uns erscheint, gestalten. Darum gilt alle Weltbetrachtung nur in bezug auf das erkennende Subjekt; der Verstand schreibt, wie Kant sagt, der Natur ihre Gesetze vor, woraus folgt, dass all unsere Begriffe und Theorien nur ebensoviel Schemen und Bilder des wirklichen Zusammenhanges bedeuten. Von einem objektiven Standpunkte betrachtet heißt das nun nichts anderes, als dass alle möglichen Kategorien des Universums vom Menschengeiste notwendig auf diejenige des Lebens projiziert werden, dass wir also von Kraft, Stoff und dem ganzen Zusammenhang nur die Projektion auf das Leben kennen, dessen Gesetze (in diesem Falle die Erkenntnisformen) alle übrigen möglichen Gesetze umgestalten. Das Leben, das selbstgelebte Leben — was durch das Denken undenkbar, wodurch das Denken wird gedacht, wie es in der Upanishad5 heißt — ist die letzte Instanz, Kants Ding an sich, die absolute Grenze aller Erkenntnismöglichkeiten; es ist der Spiegel, welcher die Strahlen der Außenwelt auffängt und wieder zurückschleudert — und hinter ihn können wir nicht blicken. Wie sollen wir eine höchste Einheit über Kraft, Stoff und Leben aufstellen, da es doch wieder nur im Spiegel des Lebens geschehen kann?

Die Lösung der Schwierigkeit kann uns nur das Studium des Spiegels selbst verraten. Und hier muss ich den freundlichen Leser bitten, mir mit größter Aufmerksamkeit zu folgen, da die im folgenden darzulegende Betrachtungsweise das Fundament alles späteren bildet und zugleich einem Standpunkte entspringt, welcher nicht allzu häufig eingenommen wurde; die Darstellung wird aber notwendig eine kurze sein müssen.

Wie sich das Formale der Erkenntnis zum Realen der Welt verhält — diese Frage ist so schwierig, dass eine endgültige Antwort — trotz aller diesbezüglichen Versuche — bis heute noch nicht gefunden, wenigstens nicht ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen ist. Wie der große Naturforscher Julius Robert Mayer sagt:

Der Nachweis einer zwischen den Denkgesetzen und der objektiven Welt bestehenden vollkommenen Harmonie ist die interessanteste, aber auch die umfassendste Aufgabe, die sich finden lässt.

An Lösungsversuchen hat es zu keiner Zeit gefehlt: die idealistischen Systeme glaubten die Frage durch die Gleichung Denken = Sein befriedigend zu beantworten, Leibniz mit dem Postulate seiner prästabilierten Harmonie, die Realisten aller Zeiten durch das Dogma, dass die Welt so ist, wie sie uns erscheint, dass also die Vorstellung das Wesen erschöpfe. Alle diese Auffassungen brachen unter Kants unbarmherziger Kritik zusammen. Kant wies ein für allemal nach, dass uns jede Möglichkeit fehlt, die Welt anders als vorstellend aufzufassen, dass wir nicht imstande sind, hinter die Vorstellungen zu blicken. Wie die Welt, abgesehen von unserer Erkenntnis, sein mag, das können wir nicht entscheiden. Aus dieser grundlegenden Erkenntnis hat man nun häufig — wie z. B. auch Schopenhauer es getan hat — den Schluss gezogen, dass die erscheinende Welt nichts als Vorstellung ist, dass die Welt also im Grunde nichts anderes als ein subjektives Phänomen des Menschengeistes bedeutet; und ist diese Auffassung zutreffend — ja dann allerdings wäre es ganz und gar unmöglich, von dem objektiven Zusammenhange auch nur das Geringste zu erfahren; wir müssten unser diesbezügliches Unternehmen von vornherein als gescheitert betrachten. Sehen wir aber genauer hin, so finden wir, dass gerade durch Kant ein Ausblick eröffnet wird, der uns unser Ziel in greifbare Nähe rückt — vorausgesetzt natürlich, dass wir den Meister richtig verstehen. Kant hat nämlich in Wahrheit nichts weniger bezweckt, als die Welt ins Subjektive zu verflüchtigen; er hat nicht Subjektives und Objektives durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt, wie gewöhnlich angenommen wird, sondern er hat beide vielmehr zu einer höheren Einheit zusammengefasst. Für Kant bedeutet, wie Georg Simmel6 es schlagend nachgewiesen hat, die Objektivität nicht eine Einheit außer, sondern im Bewusstsein; Innen- und Außenwelt bilden einen organischen Zusammenhang, dessen jeweiliges Zentrum sich im erkennenden Subjekte befindet — ein Pendant zum schönen Bilde der Upanishad, das Ich sei der Knoten, welcher Innen- und Außenwelt zusammenschürzt. So ist für Kant, wie Simmel sich geistvoll ausdrückt, das Objekt des Erkennens mit dem Erkennen des Objektes identisch:

Gerade die innerlichste Form des Ich ist das Motiv und die Macht, wodurch die Dinge zu Objekten, die Vorstellungen zu Wahrheiten außerhalb des Ich werden.

Das außer-uns ist eine Form des Bewusstseins selbst, die nicht aus ihm heraustritt, einer der Lebensprozesse der Seele, die eben nur in ihr stattfinden können.

Die äußere und die seelischgeschichtliche Welt haben also die gleiche empirische Realität und den gleichen Abstand von dem, was man sich als ihr transzendentes Substrat denken mag.7

Reden wir demnach von subjektiven Erkenntnisformen, so ist das Wort subjektiv durchaus irreführend — wie es so viele irregeführt hat; denn der Geist hat nicht bloß diese Formen, sondern er ist sie zugleich8.

Dieser innige Zusammenhang, wie Kant ihn uns aufdeckt, zeigt uns nun den Weg zu jenem höchsten Zusammenhange, nach welchem wir streben. In der Tat, wenn unser Geist die Erkenntnisformen nicht eigentlich hat — das wäre die subjektive Auffassung — sondern diese Form ist — sollten dann die Gesetze unserer Erkenntnis nicht Ausdrucksformen eines höchsten Gesetzes, einer platonischen Idee sein, welche das ganze Weltall zusammenhält und in den verschiedensten Formen in die Erscheinung tritt? Sollten die Formen des Geistes nicht demselben Gesetze entsprießen, welches unseren Leib gestaltete, welches alles Leben erschuf und welches im letzten Grunde auch alle anderen Kategorien des Universums beherrscht? Sollten sie nicht gleichsam eine der Abgeleiteten der Hauptfunktion bedeuten, welche alles Geschehen regiert?

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt’ es nie erblicken;
Läg’ nicht in uns des Gottes eig’ne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?

Das sind Worte Goethes. Und dem gleichen Gedankengange entspringt Platos Lehre von der Teilhabe (μεϑεξις) an der Idee, dem Gesetze, sowie diejenige, dass jedes Ding nur von dem ihm ähnlichen begriffen werden könne, eine Lehre, welche schon die Pythagoreer vertraten, da im vierten Fragmente des Philolaos zu lesen steht: kein Gegenstand könnte begriffen werden, wenn er nicht in sich das Wesen der Welt trüge — für Philolaos die Grenze und das Unendliche, deren Synthese die Zahl ausmache, und auch die Seele sei Zahl. — Der Gedanke ist so alt wie die Welt. Und doch scheint mir diese altgriechische Konzeption des Weltzusammenhanges die tiefsinnigste zu sein, zu welcher sich der Menschengeist je aufgeschwungen hat. Mögen die Hellenen im Ausbau des Gebäudes noch so sehr gefehlt haben — der Grundgedanke bleibt ewig schön. Für Plato bestand die Einheit der Welt, wie gesagt, in dem einheitlichen Gesetze, welches alles Werden beherrscht; dieses Gesetz ist also (im Sinne des platonischen Seins) die Einheit des Universums. Und erkennen wir weiter, mit Kant, dass der Geist nicht nur Erkenntnisformen hat, sondern sie ist, dass also der Geist ein Gesetz ist — was liegt näher — wie bemerkt — als anzunehmen, dass die Erkenntnisformen nur eine unter den tausenden von Funktionen des einen Gesetzes darstellen, welches das Universum zusammenhält?

Trifft diese Vermutung nun zu, dann bietet die Tatsache, dass wir von allem Geschehen in der Natur nur die Projektion auf das Leben kennen können, kein unüberwindliches Hindernis mehr: wohl besteht keine prästabilierte Harmonie zwischen Denken und Sein, sicherlich hat die Identitätsphilosophie unrecht, wie sie Hegel und Schelling vertraten, und die Transzendentalphilosophie Kants, welche dem Geiste notwendige Schranken setzte, ewig recht. Daran, dass die Denkformen das Universum erschöpfen könnten, ist nicht zu denken. Wohl aber ist es wahrscheinlich, dass diese Formen selbst eine Folge, den für uns unmittelbarsten Ausdruck eines gesetzmäßigen Verhältnisses darstellen, welches alles Geschehen regiert. Konsequenz dieser Annahme ist durchaus nicht — wie manche glauben könnten — die notwendige Identität der Denkformen mit den übrigen Funktionen des obersten Gesetzes: der pythagoräische Lehrsatz z. B., wonach in einem rechtwinkligen Dreiecke das Quadrat der Hypotenuse der Summe der Quadrate der beiden Katheten gleich ist, welcher also eine feste Beziehung zwischen diskreten Teilen setzt, ein eindeutiges Gesetz statuiert, zeigt dennoch zu gleicher Zeit, dass Katheten und Hypotenuse inkommensurabel sind. W u r z e l - 5 hat weder mit 1 noch mit 2 eine Maßeinheit gemein. So mag es ganz gut sein, dass nach demselben Schema auch die Denkformen mit den Kategorien von Kraft und Stoff nicht kommensurabel sind, keines in dem anderen vollzählig aufgeht — die Widersprüche, zu welchen die physikalischen Theorien immer wieder führen, ja die Notwendigkeit, mit im Grunde undenkbaren Konzepten, wie Atomen, leerem Raum usw. zu operieren, legen diese Auffassung nahe. Aber die Beziehung können wir trotzdem begreifen, obwohl die Faktoren, welche aufeinander bezogen werden, inkommensurabel sind; und wir können mit der irrationalen Zahl W u r z e l - 5 sogar rechnen, obwohl sie, im arithmetischen Sinne zum mindesten, unverständlich ist, ein Unmöglichkeitssymbol darstellt, wie es in der Mathematikersprache heißt. So wird es uns vielleicht auch mit dem Verständnisse des Universums gehen. Die verschiedenen Kategorien gleichsam quantitativ gleichsetzen, sie aufeinander zurückführen, sie mit gleichem Maße messen — dieses ist, wie schon die Erfahrung lehrt, absolut unmöglich, und zwar aus demselben Grunde, aus welchem zwei heterogene Größen, wie Kathete und Hypotenuse, nicht miteinander verglichen werden können; sie gehen ineinander nicht auf. Wohl aber ist es nicht unmöglich, dass es einmal gelingen sollte, die gesetzmäßige Beziehung zwischen den verschiedenen heterogenen Größen aufzudecken, das vereinigende Band in der Grundgleichung zu finden, welche allen noch so verschiedenen Zusammenhängen zugleich genügt.

Und dass dieses nicht unmöglich ist, das folgt allerdings nicht aus der Regel, dass in einem rechtwinkligen Dreieck z. B. aus der gegebenen Hypotenuse die Katheten berechnet werden können und umgekehrt; dazu müssten wir die Formel kennen, und wir suchen sie ja erst! — Wohl aber aus dem Umstande, den wir zuerst als das Haupthindernis unserer Aufgabe betrachteten, demjenigen nämlich, dass wir von allen Naturkräften nur die Projektion auf das Leben kennen: einem glücklichen Gesetze zufolge ist die projektive Methode diejenige, welche unsere Erkenntnis am meisten fördert! — Schon den dreidimensionalen Raum konstruieren wir aus der zweidimensionalen Projektion auf unser Auge, und die angewandte Wissenschaft, Physik ebensowohl als Mathematik, greift ständig zu perspektivischen Darstellungen, um komplizierte Zusammenhänge übersichtlich zusammenzufassen. Aber dieses alles ist rein gar nichts im Vergleich zu der ungeheuren Bereicherung, welche unser Wissen durch die projektive Geometrie erfahren hat. Dank ihr sind wir imstande, die Verhältnisse der Elemente der kompliziertesten Figuren — gleichviel ob sie sich im Endlichen oder im Unendlichen befinden — ohne ein Koordinaten-System, ohne Rücksicht auf Größenverhältnisse (wie Längen, Winkel, Entfernungen usw.) vollständig zu erforschen, indem wir nur die Lageverhältnisse (rapports de situation)9 in Betracht ziehen. Die Geometrie der Lage hat ganz selbständige, von keinen anderen abhängige Gesetze10; letztere vielmehr — z. B. die Maßverhältnisse — können als Folgerungen aus jenen betrachtet werden11. Man kann mit den Mitteln dieser Wissenschaft allein alle anderen Eigenschaften geometrischer Körper nachweisen, da sie alle anderen umfasst. Anderseits entspricht sie wieder analytisch der algebraischen Formentheorie12 und es gibt immer Mittel und Wege, die projektivischen Verhältnisse in allgemeinere zu übersetzen13. Unterschiedlos vermag sie mit dem Endlichen oder im Unendlichen gelegenen Elementen zu operieren14, ja, sie ist imstande, das Unendliche ins Endliche zu bannen — wie Pascale15 sich ausdrückt nous pouvons faire tenir une longueur infinie dans un carreau de vitre. Die Geometrie der Lage bringt die unvorstellbarsten Konstruktionen dem Verständnisse nahe und Räume von  n  Dimensionen, mit denen wir an sich nicht das Geringste anzufangen wüßten — in der Projektion werden sie uns fassbar! Allgemein gesprochen die Methode der Projektion befähigt uns, Zusammenhänge, denen man auf keinem anderen Wege näher kommen könnte, ohne Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse dennoch richtig darzustellen und zu begreifen. Sie setzt andere Verhältnisse an Stelle der tatsächlich vorhandenen16, aber jene sind jederzeit einer Übersetzung und Rückdeutung in diese fähig, bedeuten also keine Umgestaltung oder Verzerrung, sondern nur eine Spiegelung17 besonderer Art, wodurch das Unerkennbare — z. B. das unendlich Ferne — ein Erkennbares wird. So sind wir denn in den Stand gesetzt, aus der Projektion eines höchst komplizierten Gebildes, dessen Teile sich z. T. im Unendlichen befinden mögen, ohne Gefahr, in Irrtum zu verfallen, die Gesetze herzuleiten, welche das Gebilde selbst zusammenhalten.

In diesem Sinne, dünkt mich, müssten wir nicht trotzdem, sondern gerade deswegen, weil das Leben uns gleichsam auf die Fläche bannt, einmal — vielleicht in fernster Zukunft — imstande sein, den wahren Zusammenhang des Weltalls zu begreifen18. Das Projektionszentrum — oder die Projektionsebene — kann ja beliebig gewählt werden; hier muss der Mittelpunkt des Weltalls auf das Menschenhirn projiziert werden, das Zentrum par excellence wohl auf den exzentrischesten Punkt der Oberfläche. Aber da es möglich ist, in der Projektion auch die Unendlichkeit ins Endliche zu bannen, so glaube ich allerdings, dass die unendliche Mannigfaltigkeit des Universums mit seinem ewig sich wandelnden Kräftespiel in dem engen Raume der Gestaltungsgesetze des Lebens, wie sie sich in den Denkformen offenbaren, einer getreuen Spiegelung fähig ist. Und dieses deswegen, weil der Spiegel demselben Gesetze gehorcht, wie die einfallenden Strahlen, diese also nach denselben Gesetzen aufnimmt, zurückwirft, absorbiert oder zerlegt, welche die Strahlen selbst beherrschen. Es liegt sicherlich keine prinzipielle Heterogenität vor, eine solche, meine ich, welche eine eindeutige formale Betrachtung verhindern könnte — ebensowenig wie verschieden gerichtete, inkommensurable Linien, welche aus arithmetischem Gesichtswinkel völlig heterogen erscheinen, oder endliche und unendliche Lagen, welche für das Denken spezifische Unterschiede verkörpern, deswegen einer formalen Zusammenfassung vom synthetischen Gesichtspunkte, wie ihn die Geometrie einnimmt, unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg stellen. Über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit dieses Analogieschlusses kann ich mich zunächst noch nicht auseinandersetzen. Als vorläufige Rechtfertigung möge das berühmte Wort Pascals: Ce qui passe la géométrie nous surpasse dienen, und der energische Ausspruch des großen Leonardo:

Chi biasima la somma certezza della matematica, si pasce di confusione e mai porra silentio alle contraditioni delle soffistiche scientie, colle quali s’inpara uno eterno gridore.

Jedenfalls scheint es mir — da alles einem Zusammenhang entquillt — möglich zu sein, die Grundgleichung zu finden, welche den tausenderlei abgeleiteten Funktionen, zu denen auch das Denken gehört, gemeinsam genügen muss: es wäre eine Aufgabe der Integralrechnung…

Heute ist das alles freilich nur ein Traum — und wer weiß, wieviel Jahrhunderte vergehen müssen, ehe seine Weissagung in heller, greifbarer Wirklichkeit ihre Erfüllung erleben wird? — Und doch ist er wert, geträumt zu werden. Wie es im allgemeinen wichtiger ist, dass eine Frage aufgeworfen wird, als wie die Antwort ausfallen mag — der Antwortenden sind immer viele — so hoffe ich, dass die bloße Möglichkeit, welche wir jetzt vor uns sehen, und liege ihre Verwirklichung auch jenseits der Zeit, uns manchen Schritt dem Ziele näher führen wird. Vor allen Dingen leuchtet uns jetzt ein Licht auf über den möglichen Zusammenhang der Erkenntnisformen mit den Grundverhältnissen in der Natur aus der Tatsache, dass mit einfachen arithmetischen oder geometrischen Verhältnissen — so wie sie uns am einfachsten erscheinen — im Allgemeinen ein befriedigendes Bild des natürlichen Zusammenhangs zu entwerfen ist, und dass menschlich-einfache Formeln immer mehr Wahrscheinlichkeit für sich haben, als kompliziertere — aus dieser Tatsache ziehen wir nicht den Schluss, dass die Naturgesetze mit den Denkgesetzen identisch seien19, dass das Denken die Welt erschöpfen könne, oder diese sich — wie die Pythagoreer glaubten — an dasjenige halte, was dem Menschengeiste schön und harmonisch erscheint; auch denjenigen nicht, dass die Naturgesetze, so wie wir sie fassen, auf alle Fälle nur unzutreffende Bilder der Wahrheit darstellen, die an sich vielleicht ganz anders aussieht; dass das Zusammentreffen von Natur- und Denknotwendigkeit überall nur — wie die Sensualisten behaupten und man es Kant gerne unterschiebt — eine Täuschung sei: wir folgern daraus, dass dieselben Gesetze oder dasselbe Gesetz, welches alles natürliche Geschehen in verschiedener Erscheinungsform regiert, auch das Vorstellen und Denken beherrscht, so zwar, dass die menschlichen Begriffe von Ordnung, Schönheit und Harmonie die Folge desselben Gesetzes darstellen, welches das Weltall zum Kosmos gestaltet. Die Folge, nicht die Ursache, auch nicht das Gesetz selbst. Und darum werden wir uns nicht wundern, wenn wir sehr häufig Übereinstimmung zwischen den Wünschen des Denkens und den harten Tatsachen der Natur entdecken, aber auch nicht verzweifeln, wenn sich das Geschehen nicht immer mit unseren Begriffen von Schönheit und Einfachheit im Einklange befindet — wie dies in unzähligen Fällen geschieht. Wir sahen ja, dass die Einheit des Gesetzes durchaus keine notwendige Gleichartigkeit unter den verschiedenen Teilen, welche es in Zusammenhang bringt, bedingt, dass sie sehr gut auch inkommensurabel sein können, und es in vielen Fällen sicherlich sind. Und da wir überdies wissen, dass die Grundkategorien Stoff, Kraft und Leben grundverschiedene Erscheinungsreihen umfassen, die sich nicht weiter vereinheitlichen lassen, und ihrerseits jede von ihnen eine Mannigfaltigkeit umschließt, deren Zurückführung auf letzte Einheiten zum Mindesten fragwürdig erscheint — so müssen wir uns auf komplizierte Gleichungen mit vielen Unbekannten gefasst machen. Einheitlich — ich wiederhole es nochmals, und mit dem größten Nachdrucke — kann vom Standpunkte der Welteinheit überhaupt nur das Formale an allem Geschehen sein, also die Gesetze, nach denen die verschiedenen Erscheinungsreihen verlaufen. Geben wir daher alle nichtformalen Einheiten von vornherein preis; gestehen wir nicht nur den Kategorien Kraft, Stoff und Leben unbedingte Verschiedenheit zu, tun wir dasselbe mit ihren Erscheinungsformen. Das Formale des Weltgeschehens kann dadurch im Spiegel des Menschengeistes keine Beeinträchtigung erfahren, und darum wäre es ebenso überflüssig als gefährlich, auf materiale Vereinheitlichung unser Augenmerk zu richten. Wir dürfen über die Erfahrung nichts präjudizieren, noch weniger uns von unerwiesenen oder unbeweisbaren Theorien und Hypothesen abhängig erweisen. Und gelingt es uns, in und trotz der Mannigfaltigkeit doch eine Einheit zu entdecken, so bleibt diese in jedem Falle bestehen, wenn eines Tages auch materiale Einheit erwiesen sein sollte. Die Gleichung bliebe wesentlich dieselbe; sie würde nur einfacher, da manche, heute als verschieden zu betrachtende Symbole sich dann addieren ließen.

So sehen wir denn einen Weg vor uns, der zwar beschwerlich ist und nur ein langsames Vorwärtskommen gestattet, dessen Richtung aber dafür von allen, die bisher eingeschlagen wurden, die vielversprechendste zu sein scheint; ja, soweit sich das vom Ausgangspunkte überhaupt beurteilen lässt — sie muss zum Ziele führen. Jetzt aber, wo wir an der ersten Etappe angelangt sind, ziemt es uns, den Blick rückwärts zu wenden und uns über das bis hierher Geleistete noch einmal kurz Rechenschaft abzulegen:

Wir sahen, dass trotz aller der Errungenschaften der letzten Jahre auf naturwissenschaftlichem Gebiete an eine materiale Vereinheitlichung des Universums noch nicht zu denken ist; nicht nur die Grundkategorien Kraft, Stoff und Leben lassen sich im Menschengeiste nicht ineinander überführen, auch die mannigfaltige unter ihnen begriffene Erscheinungswelt sträubt sich gegen eine zu weitgehende Zerlegung; und tut sie es nicht, so sträubt sich doch der Verstand. Was nützte es uns — so erkannten wir — wenn es nun wirklich Stoff- und Krafteinheiten geben sollte, da wir sie doch nicht fassen können, ohne ins Leere zu greifen, oder reine Metaphysik zu treiben? Ganz allgemein erwies sich der Weg der Analyse als völlig ungeeignet, uns zu einer einheitlichen Weltauffassung zu führen. Und da wandten wir uns um und suchten nunmehr von der Allheit aus das Einzelne zu erfassen; das Atom unseres neuen Gesichtspunktes wurde das Universum selbst. Hier verzichteten wir von vornherein auf jede analytische Vereinfachung, auf alle Erkenntnis von Grundkräften, Entwicklung aus einfachen Urzuständen zu komplizierten und letzten kausalen Zusammenhängen. Alle Fragen nach ersten Ursachen — welche ja schon an sich jedes vernünftigen Sinnes entbehren — schalteten wir aus. Dagegen sahen wir, auf philosophisches Gebiet überschwenkend, die Möglichkeit vor uns, in der Mannigfaltigkeit ein einheitliches Gesetz zu entdecken, eine platonische Idee, welche alles regiert, in allem zum Ausdruck gelangt. Eine formale Einheit war es nunmehr, nach welcher wir strebten, da wir im Materialen nur Mannigfaltigkeit erblicken konnten, und unsere Untersuchungen taten dar, dass dieses Ziel, im Prinzip wenigstens, erreichbar sein müsse.

So weit waren wir gekommen; auf eines mussten wir aber bis zuletzt verzichten: ich meine darauf, das Absolute im Weltall zu erkennen. Schon die Pythagoreer wussten, was Plato und Kant für immer dartaten, dass alles Denken ein Beziehen ist, alle Begriffe Beziehungssymbole, dass wir nur Verhältnisse begreifen könnten, und dass uns das Absolute deswegen unfasslich bleiben müsse, weil es eben keine Beziehung ist. Verhältnisse drücken alle Naturgesetze aus, was aber oberhalb der Beziehung liegen mag, das bleibt der Erkenntnis transzendent — das absolute Wesen der Welt ebenso wie das absolute Wesen des menschlichen Ich. Hier bleibt freier Spielraum für Metaphysik, Mystik und Religion. Da wir aber die Einheit in der Beziehung, im Gesetze zu begreifen vermögen — wie im pythagoräischen Lehrsatze das Band, welches die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks zur Einheit zusammenschließt — so beschlossen wir an diesem Punkte stille zu stehen, an ihn das Weitere anzuknüpfen.

Am Eingang vorliegender Erörterungen nannte ich das Verhältnis der Einheit des Weltganzen zum Gesetze des Denkens, nach welchem nur durch Zusammenfassen des Besonderen unter dem Allgemeinen Erkenntnis zustande kommt, die festeste Kette, welche im Menschengeiste Natur und Denken aneinanderschmiedet. Jetzt begreifen wir den Sinn dieses Satzes: die Wechselbeziehung beider Thesen drückt nichts anderes aus, als dass beide demselben obersten Gesetze entquellen; dass dasselbe Gesetz, welches Einheit in die Mannigfaltigkeit des Naturgeschehens bringt, dem Denken die Notwendigkeit auferlegt, das Viele unter einem Gesichtspunkte zusammenzufassen. Es sind beides Funktionen derselben Grundgleichung. Und gedenken wir ferner unserer Behauptung am Anfange, dass alle möglichen Weltanschauungen von irgendeinem Punkte der Fundamentalkette ausgehen, deren Endgliedern zwei entgegengesetzte Denkrichtungen entsprechen, von denen die eine aus den Denkgesetzen die Naturerscheinungen erklären will, die andere aus Naturerscheinungen das Denken — und fragen wir nun, an welchem Punkte wir uns denn befinden, so lautet die Antwort genau in der Mitte. Wir lassen Natur- und Denkgesetzen — jedem Teil für sich — seine Stelle; wir sind uns ihrer Verschiedenheit wohl bewusst, und dennoch unternehmen wir es, von einem Gesichtspunkte aus beide zu umspannen. Wir sind uns darüber klar, dass die Einheit des Gesetzes in den verschiedenen Kategorien notwendig verschiedene Färbung annehmen muss, und auch dieses wissen wir, dass uns von allen ihren möglichen Äußerungen nur die Projektion auf das individuelle Leben im Rahmen seiner Gesetze zugänglich sein kann. Und dennoch glauben wir nicht verzweifeln zu müssen, da uns die Geometrie, jene Königin aller Wissenschaften, zeigt, wie die kompliziertesten Zusammenhänge, deren Kenntnis an sich völlig unmöglich erscheint, in der Projektion deutlich werden; und dass diese die Verhältnisse selbst nicht verändert, sondern nur ihre Erscheinungsform; auf die Verhältnisse allein aber kommt es an.

Freilich war unser neugewonnener Standpunkt — bezeichnen wir ihn als Standpunkt der Mitte — schwer zu erklimmen; noch schwerer wird es sein, ihn zu behaupten — liegt er doch gleichsam außer unser selbst … Schon an äußeren Angriffen wird’s nicht fehlen, und wir müssen mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, die Steine, welche wir zur Befestigung unserer Position benützten, als Geschosse gegen dieselbe verwandt zu sehen. Dennoch ist die äußere Gefahr die geringste. — Was uns ernstlich bedroht, ist vielmehr die Höhenluft selbst, die Möglichkeit, in der ungewohnten Atmosphäre den Atem zu verlieren. In der Tat, ist es dem Menschen möglich, eine gleichsam außermenschliche Position einzuhalten, Natur- und Denkgesetze von außen her zu überblicken, vom kosmischen Standpunkte aus zu denken, wo doch die Natur seiner Erkenntnis so enge Schranken gesetzt hat? — Die Erfahrung wird es uns lehren. Inwiefern aber die Aufgabe selbst ins Bereich der Möglichkeit fällt, das möge folgendes Gleichnis veranschaulichen: der Mensch kann sich selbst nur im Spiegel sehen, und dieser zeigt ihm immer nur seine Vorderansicht — sie möge hier die Erkenntnisformen, oder, im Abstrakten, Kants Transzendentalphilosophie versinnbildlichen. Dennoch aber ist er imstande, auch sein Profil kennenzulernen, dann nämlich, wenn er statt eines zwei Spiegel verwendet, das erste Bild einer nochmaligen Spiegelung unterwirft. Gerade so, meine ich, können wir einen objektiven Blickpunkt, der Natur- und Denkgesetze zugleich umfasst, gewinnen, wenn wir beide im zweiten Spiegel — demjenigen der Phantasie (?) — betrachten. Er ist schwer zu definieren, kaum zu fassen — nur zögernd schrieb ich das Wort Phantasie hin — und doch ist er da. Er enthebt uns über unsere eigenen Grenzen, bringt vieles zusammen, was sonst für scharf geschieden gilt, rückt manches in die Nähe, was einem Spiegel unendlich fern erscheint; es ist derjenige, welcher die Dichter überraschende Einblicke in verborgene Zusammenhänge tun ließ; es ist die letzte Funktion der Weltgleichung, welche hier gleichsam in sich selbst zurückkehrt.

Aber der zweite Spiegel besteht aus demselben Glase wie der erste; verzerrte der erste den wahren Zusammenhang, so wird die Verzerrung durch die Interferenz beider Strahlenbündel eine doppelte werden. Und selbst wenn das Glas fehlerlos sein sollte — manche Strahlen, gerade die durchdringendsten unter ihnen, mögen absorbiert werden, und dann ginge durch die doppelte Spiegelung jedenfalls Licht verloren; wir können nicht ebenso klar mehr sehen … Darum werden unsere Untersuchungen von jetzt ab notwendig problematischen Charakter tragen; vorsichtig wollen wir zu Werke gehen und bloß andeuten, wo wir gerne feststellen möchten. Vieles werden wir berühren müssen; doch fürchte ich, das Licht wird nicht hell genug sein, um das Berührte wahrhaft zu greifen. Trotzdem glaube ich, dass wir ein Recht haben, unsere Anschauungen offen auszusprechen, wie sehr es ihnen auch noch an zwingender Notwendigkeit fehlen mag; sagt doch Kant20:

Ich bin gar sehr überführt, dass unvollendete Versuche, im abstrakten Erkenntnisse problematisch vorgetragen, dem Wachstum der höheren Weltweisheit sehr zuträglich sein können, weil ein anderer sehr oft den Aufschluss in einer tiefverborgenen Frage leichter antrifft als derjenige, der ihm dazu Anlass gibt, und dessen Bestrebungen vielleicht nur die Hälfte der Schwierigkeiten haben überwinden können.
1 Phil. Fragen. 10 p. 90. Zitiert aus Ed. Chaignet Pythagore et la Philosophie Pythagoricienne. 1874. II. 87.
2 Stob. Ecl. I. 450 (Chaignet l. c.).
3 Unter Weltanfang verstehe ich hier, wie im Vorhergehenden, nicht bloß den Anfang nach der Zeit, sondern ebensowohl den dem Stoffe, der Kraft oder dem Leben nach; allgemein den Anfangspunkt, von welchem aus der Mensch die Welt zu konstruieren sucht.
4 Wer mit Platos Schriften nicht vertraut ist und eine gedrängte Übersicht über seine Gedankenwelt gewinnen will, den verweise ich vor allen Dingen auf Chamberlains Darstellung (der ganze Platovortrag l. c.); dann auch auf das schöne Werk Paul Natorps Platos Ideenlehre, Leipzig 1903, und auf das Buch Gaston Milhauds Les philosophes-géomètres de la Grèce, Paris 1900.
5 Kena-Upanishad I, 5.
6 Kant: Sechzehn Vorlesungen, gehalten an der Berliner Universität. Leipzig 1904. Ein ganz hervorragendes Werk, welches jedermann dringend zu empfehlen ist. Ich bediene mich in folgendem der gedrängten Simmelschen Ausdrucksweise; weil sie prägnanter ist als jede andere mir bekannte.
7 Simmel l. c. 69.
8 Simmel l. c. 27.
9 Couturat, De l’infini mathématique, 1896, pag. 275.
10 Couturat p. 276:
Les relations projectives sont, en principe et par essence, indépendantes de toute idée de grandeur, et peuvent se définir entièrement par la seule considération des rapports de Situation (des alignements p. e.). C’est ainsi qu’on a pu définir la relation projective de deux lignes droites homographiques en les mettant en perspective, sans faire appel à la relation métrique entre les abscisses des points homologues. Tout au rebours, c’est cette dernière qui peut se déduire de la première et qui parait en être la traduction analytique … D’autre part, s’il est vrai que la constance du rapport enharmonique est le fondement de toute relation projective, la loi universelle et unique de toute transformation par homographie ou par dualité, on sait que ce rapport est lui-même susceptible d’une définition purement projective, dégagée de toute notion d’angle et de distance, de Sorte que la géométrie de position peut se constituer exclusivement avec ses propres ressources, et n’emprunte rien à la géométrie métrique.
11 Couturat p. 259:
La relation métrique est, en réalité, dérivée de la relation projective et doit en être considérée comme la traduction en langage algébrique.
12 Couturat p. 266 Anm.
13 Poncelet, Traité des propriétés projectives des figures, 1822, p. 29:
La théorie des lignes proportionnelles et la proposition de Pythagore, quisont les bases de la Géométrie, suffisent dans tous les cas pour réparer de ces relations particulières (projectives) aux relations générales qui subsistent entre les objets-même de la figure.

Und Couturat sagt p. 277:

Les relations projectives peuvent se traduire en relations métriques, comme les changements de position relative des figures impliquent des modifications correspondantes dans les rapports des grandeurs.
14 Ebenda:
C’est précisément parce que les propriétés projectives des figures ne dépendent pas de leurs grandeurs ni de leurs proportions, que les mêmes relations qui existent entre des éléments situés dans le fini (à distance finie les uns des autres) continuent d’avoir lieu, quand certains éléments s’en vont à l’infini.
15 De l’esprit géométrique. Section l. fin.
16 Dieses ist nicht einmal notwendig; es gibt Projektionsmethoden, wie z. B. die stereographische und die gnomonische (welche hauptsächlich in der Krystallographie Verwendung finden), bei denen die Winkelwerte erhalten bleiben.
17 Schon der Planspiegel verändert bekanntlich gewisse Verhältnisse, die rechte Hand wird zur linken usw.
18 Das Paradox, welches darin liegt, dass ich von der projektiven Geometrie so weittragende Schlüsse auf scheinbar ganz andersgeartete Zusammenhänge mir erlaube, wird im nächsten Kapitel geklärt werden.
19 Wie es z. B. Schelling annimmt, wenn er sagt (Ideen zu einer Philosophie der Natur, 1797, pag. LXIV):
Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein; hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muss sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sei, auflösen.

Im Grunde vertreten die rohen Realisten und alle die modernen Monisten, seien sie nun Energetiker oder Atomisten, den gleichen Standpunkt wie die von ihnen so arg geschmähten absoluten Idealisten; wenn die Natur ganz so ist, wie sie uns erscheint, wenn die Denkgesetze über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit physikalischer Gebilde von vornherein entscheiden können — eine Grundannahme, von welcher die kühnen Spekulationen der modernen Physiker doch offenbar ausgehen müssen — oder wenn die Erfahrung, welche ja nur nach den Formen der menschlichen Erkenntnis zustande kommen kann, absolut sichere Schlüsse zulässt — die Voraussetzung der Energetiker — und es sich bei alledem um tatsächliche Zusammenhänge, nicht bloß um Bilder von solchen, handeln soll: ist da nicht heimlich der Glaube an die Identität von Denken und Sein impliziert? Wieder eine jener eigentümlichen Konvergenzerscheinungen! Der absolute Idealismus und der absolute Realismus reichen sich im Dunkeln die Hände…

20 Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. Werke Bd. I 152 (Rosenkrantzsche Ausgabe).
Hermann Keyserling
Das Gefüge der Welt · 1906
Versuch einer kritischen Philosophie
© 1998- Schule des Rades
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