Schule des Rades

Hermann Keyserling

Kritik des Denkens

Das Begreifen im Zusammenhang des Weltgeschehens

Erkenntniskritik

Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Inhalte des Bewusstseins und suchen wir diese zu begreifen, so gelangen wir zu einem wissenschaftlichen System, das den Namen Psychologie führt. Die Psychologie zählt die Elemente des Seelenlebens auf, untersucht deren Ursprung und Zusammenhang, bemüht sich die Gesetze des Vorstellungsablaufes festzustellen und die Ordnungen der psychischen Tatsachen zu bestimmen. Ihr entsprechen in der physischen Sphäre Anatomie sowohl als Physiologie, jene, soweit die Psychologie atomistisch, diese, soweit sie dynamisch ist. Aber ebenso wie die genannten Disziplinen über das eigentliche Leben des Organismus, das zielstrebige Zusammenwirken der Organe und Funktionen, keinen Aufschluss gewähren, ebenso wenig vermag die Psychologie das geringste darüber zu lehren, wie aus Vorstellungen Erkenntnisse werden. — Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir einen anderen Gesichtspunkt einnehmen. Der nächstliegende scheint derjenige der Logik zu sein. Diese Wissenschaft bringt die Bedingungen zum Ausdruck, denen alles Denken überhaupt unterliegt, sofern es zu Erkenntnissen führen, oder alles Geschehen, sofern es begreiflich sein soll. Die Grundsätze oder Axiome, die sie aufweist, sind die Normen, deren Nichtbefolgung dem Denken seinen Sinn und den Naturvorgängen ihre Denkbarkeit nehmen würde.

Welches die Bedingungen sind, welche alles Denken überhaupt einhalten muss, sofern es sich selbst nicht aufheben soll, lehrt die Logik freilich: doch Iehrt sie auch, welches die Bedingungen der Erkenntnis des Wirklichen, d. h. der Erfahrung sind? Nein; denn da sie die Grundgesetze alles Wirklichen, sofern es denkerisch erfassbar ist, bestimmt, so hat sie es mit keinem Wirklichen im besonderen zu tun. Ihren Grundsätzen entspricht in der physischen Sphäre — die Analogie ist keine wirkliche, sie deutet auf keine wesentliche Übereinstimmung hin: ihre Aufzeigung ist aber geeignet, den Tatbestand deutlicher zu tragen — das Energieprinzip, das für alle Erscheinungen gilt und daher keine Handhabe bietet, das besondere Verhältnis zwischen zwei Erscheinungsarten zu bestimmen. Die Frage nach den Bedingungen der Erfahrung betrifft aber gerade das gegenseitige Verhältnis zweier Arten des Wirklichen zueinander, nämlich eines erkennenden Organismus zu seiner Welt. Vom Gesichtspunkt der Logik ist demnach das Problem, unter welchen Bedingungen Denkbarkeiten Erfahrungen sind, ebensowenig zu lösen, wie vom Standpunkt der Psychologie die Frage, unter welchen Bedingungen Vorstellungen Erkenntnisse vermitteln, einer Beantwortung fähig ist; es sind also beide betrachteten Wissenschaften außerstande, gerade die Frage zu beantworten, welche inbezug auf den lebendigen Wert des Geistesprozesses die wichtigste ist, nämlich wie die Wirklichkeit zu verstehen ist, und worin sie besteht, in der wir uns zeitlebens bewegen. Infolgedessen tut es not, einen Standpunkt zu entdecken, der auf diese Seite des Zusammenhanges eine deutliche Aussicht gewährte. Der gesuchte Gesichtspunkt ist der der Erkenntniskritik. Sie allein vermag, was Logik und Psychologie nicht vermögen: zu erklären, was Erfahrung bedeutet.

Der Psyche, gerade wie der Physis gegenüber, sind drei voneinander unabhängige Fragestellungen erforderlich, wenn der ganze Tatbestand erschöpfend begriffen werden soll; in der physischen Sphäre heißen die entsprechenden Wissenschaften Anatomie, Physiologie und Biologie, in der psychischen Logik, Psychologie und Erkenntniskritik. Sollte sich die Erkenntniskritik zur Psychologie ebenso verhalten, wie die Biologie zu Anatomie und Physiologie? So ist es in der Tat. Die Biologie stellt fest, wie der Organismus vermittelst bestimmter Organe, die nach bestimmten Gesetzen funktionieren, leben kann, und sie leistet dies, indem sie den Bauplan aufweist, dem jedes einzelne ein- und untergeordnet ist; sie hat es mit dem formalen Zusammenhang der Lebenserscheinungen, nicht mit diesen selbst zu tun. Ganz im gleichen Sinn erforscht die Erkenntniskritik, wie der Mensch vermittelst seiner nach logischen und psychologischen Gesetzen ablaufenden Geistesprozessen erkennen, d. h. geistig leben kann, und sie leistet dies, indem sie den Rahmen feststellt, dem sich die gemeinten Prozesse eingliedern. Auch sie hat es nur mit dem formalen Zusammenhang der Erscheinungen, nicht mit diesen selbst zu tun, sie belehrt uns über die reinen Formen der Erkenntnis, nicht, wie die Psychologie, über die Erkenntnisinhalte. Beide Wissenschaften haben also den gleichen Sinn.

Doch die Bestimmung, dass die Erkenntniskritik sich genau so zur Psychologie verhält wie die Biologie zur Physiologie, bedeutet noch nicht die letztmögliche Präzisierung des Verhältnisses: die Erkenntniskritik ist Biologie, die nachgewiesene Gleichung beweist nicht bloß Proportionalität, sie beweist Identität. Diese Bestimmung nun, die an und für sich kaum etwas Neues zu bringen scheint, wird uns dazu verhelfen, von der Stellung der Kritik unter den Wissenschaften sowohl als von der Stellung ihrer Erkenntnisse unter den übrigen Ergebnissen der Forschung einen Begriff von vollendeter Deutlichkeit zu gewinnen: so entscheidend wirkt oft ein einziger richtig bestimmter und richtig angewandter Begriff. Zunächst leuchtet jetzt ohne weiteres ein, wie verfehlt das Unternehmen gewisser Forscher ist, die Erkenntniskritik durch Biologie ersetzen zu wollen, — ist sie doch selbst Biologie! Wie aussichtslos jeder Versuch sein muss, durch Psychologie die Vernunftkritik überflüssig zu machen: was diese übersieht, ist für jene überhaupt nicht vorhanden. Ferner verstehen wir jetzt vollkommen, was es mit den Thesen von Kants Vernunftkritik (die hier wie überall als Sinnbild für jede mögliche Erkenntniskritik verwandt ist) für eine Bewandtnis hat. Wenn eine Erscheinung nur dann zu begreifen ist, wenn sie im Rahmen bestimmter Kategorien betrachtet wird, obgleich diese weder denknotwendig noch durch psychologische Forschung nachzuweisen sind, so liegt dies daran, dass die Kategorien integrierende Bestandteile der Organisation sind, welche den erkennenden Menschen als Naturprodukt definiert: die Welt ist erfahrbar, nur insofern sie unsere Umwelt ist, nur dank den Organen, mit denen wir sie erfassen, im Rahmen des Plans, welchem diese eingeordnet sind. Nun ist auch klar, inwiefern Begriffe, gemäß Kants Lehre, nur auf mögliche Erfahrung Anwendung finden können, inwiefern sie Werkzeuge sind und nicht das Wesen der Dinge bezeichnen. Wenn wir den Phototropismus eines Seeigels studieren, so werden wir nie darauf verfallen, aus den Reflexen des Echinoderms auf das Wesen des Lichtes Schlüsse zu ziehen; wir werden aus der Art, wie der Igel auf das Licht reagiert, nur schließen, wie der Igel organisiert ist, nicht was das Licht an sich selbst sein mag. Es wäre doch absurd, zu behaupten, das Wesen des Lichtes bestehe darin, dass ein Seeigel vor ihm davonläuft! Eben den fragwürdigen Sinn hat aber die Theorie, dass der Begriff eines Gegenstandes dessen Wesen darstelle, denn der Begriff als solcher bezeichnet eben die Art, wie der Organismus Mensch als erkennendes Wesen sich zur Wirklichkeit stellt, um mit ihr eine Gleichung einzugehen, und weiter nichts. Weiter wird jetzt vollkommen deutlich, inwiefern die Grundaxiome der Geometrie keine Konventionen sind, obschon sie keiner Denknotwendigkeit entspringen. Wer von der Möglichkeit ausgeht, wie der Mathematiker, der kann dem euklidischen Raum natürlich keinen Vorzug vor den übrigen konstruierbaren Räumen zuerkennen, denn logisch sind sie alle gleich möglich und es besteht kein logischer Grund, den dreidimensionalen Raum für wirklicher anzusehen als einen von n Dimensionen. Aber unsere Empfindungen können wir gleichwohl nur zu einem dreidimensionalen Gebilde, und zu keinem anderen, zusammenschließen, für die Erfahrung kommt der euklidische Raum allein in Betracht. Dies bedeutet, dass der Mensch als Naturprodukt unter den zahllosen Möglichkeiten nur die eine verwirklicht, dass die Axiome, welche vom Standpunkt des Mathematikers nur Konventionen sind, zugleich die naturnotwendigen Grenzen seines Vorstellungsvermögens bezeichnen. Das wichtigste Ergebnis unserer methodischen Untersuchung dürfte indessen das sein, dass jetzt vollkommen klar geworden sein muss, inwiefern Erkenntniskritik aus der Erscheinungswelt nicht hinausführt und nicht hinausführen kann. Sie führt zum Begriff des Menschen als erfahrenden Wesens innerhalb der Gesamtheit des Wirklichen; das ist alles, was sie vermag. Das Weltall aufzubauen oder umzustürzen, geht über ihre Kraft. So bedeutet denn der Versuch, von der Kritik aus zu einer Metaphysik zugelangen, ein Versuch, der von Kants unmittelbaren Nachfolgern an bis heute nicht aufgegeben worden ist, ein grundsätzliches und vollständiges Missverstehen der Möglichkeiten des Denkens.

Blicken wir von hier aus nun zurück und überschauen die Ergebnisse dieses Kapitels im Zusammenhang mit denen, zu denen der große Begründer der philosophischen Kritik gelangt ist, so können wir sagen: unsere Ergebnisse bedeuten in erster Instanz eine weitere Erläuterung der als wahr befundenen Kant’schen These:

Anschauungen ohne Begriffe sind leer,
Begriffe ohne Anschauung sind blind.

Beide sind aufeinander angewiesen innerhalb des gleichen Erfahrungsraums. Hier jedoch angelangt, können wir ohne weiteres die Frage nicht nur richtig stellen, sondern auch richtig beantworten, welche die Grund-Frage aller Philosophie ist: wie steht es mit dem, was man seit Kant das Transzendente heißt? Nun, dieses kann, sofern es wirklich ist, nur die Wirklichkeit bedeuten, die jenseits unseres Erfahrungsraums belegen ist. Welche Antwort uns in die Lage setzt, weiter wie folgt zu präzisieren: das Streben nach dem Transzendenten betrifft zwei zusammenhängende reale Möglichkeiten: erstens die über unsere angeborene Um- und Merkwelt Hinauszugelangen; zweitens über die Grenzen des Denkens hinaus Erkenntnis zu erlangen.

In meinen letzten Schriften habe ich, nachdem ich den Sachverhalt selbst mittels anderer Bezeichnungen lange schon richtiggestellt hatte, zuletzt, ein besonders glückliches Wort Max Schelers übernehmend, den Menschen als das weltoffene Tier beschrieben. Im Unterschied von allen sonst bekannten Wesen, steht der Mensch virtuell zum Weltall unmittelbar in Beziehung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der für sämtliche Organismen gültige Satz, dass Jedes jeweilige Welt seine Umwelt ist, in ihrem Sosein von seinen Erkenntnisformen bedingt, für den Menschen nicht gälte: auch der Mensch kann nur im Rahmen seiner persönlichen Gleichung Erfahrung haben, und eben diese persönliche Gleichung gewährleistet die Wirklichkeitsgemäßheit seines Welterfahrens. Dass der Mensch virtuell zum Weltall in unmittelbarer Beziehung steht, bedeutet, dass des Menschen persönliche Gleichung, im Unterschied von derjenigen aller anderen uns bekannten Wesen, grundsätzlich alles Gegebene in sich hineinbeziehen kann. Was ihre seine angeborenen Sinne nicht offenbaren, das machen ihm Werkzeuge zugänglich, und was er auch so nicht erfahren kann, das vermag er zu erschließen. Dieses Wort erschließen bestimmt die biologische Ur-Rolle des Denkens. Da dessen Normen mit denen des Naturgeschehens weitgehend übereinstimmen, so kann der Verstand nicht nur nach-denken, sondern auch vorweg-nehmen. Ja, er vermag aus eigenem Gesetz heraus, sobald ihm die entsprechenden Voraussetzungen eingefallen sind, nie verwirklichte Gestalten und Funktionen zu sehen, welche, soweit sie richtig gedacht wurden, allemal nicht nur denk-, sondern auch weltmöglich sind. Die also doppelt bestimmte Weltoffenheit gibt die organische Erklärung für den menschlichen Ur-Anspruch, das Weltall zu begreifen. Handele es sich um Philosophie, Weltanschauung, Religion, Wissenschaft oder Technik: aller Ziel ist allumfassende Universalität.

Gerade an diesem Punkt nun aber, wo der Universalitätsanspruch des Menschen als berechtigt erwiesen erscheint, offenbaren sich die Grenzen seines Erfahren-Könnens. Mag er im Rahmen seiner vorhandenen Organisation alles aufnehmen und einordnen können, was dieser zur Aufnahme gegeben wird — es wird ihm nicht alles gegeben. Der erfahrende Mensch unterscheidet sich von jedem anderen uns bekannten erfahrenden Organismus freilich dadurch, dass seine Welt, von innen nach außen zu gesehen — sonach nach außen zu auch dort, wo es sich um die eigene Innenwelt handelt — virtuell unendlich ist. Doch genau wie bei den niedersten Geschöpfen setzt die Organisation als solche Schranken. Schon Kant wies grundsätzlich nach, dass die Anschauungsformen und Kategorien, wie er sie hieß, also in erster Linie Zeit, Raum und Kausalität, als solche Schranken bedeuten. Heute nun steht dank einer so großen Anzahl übereinstimmender Erfahrungen inbezug auf Hellsehen, Telepathie, Prophetie, Intuition und Ahnungsvermögen, dass die Gesetze der Wahrscheinlichkeit die Erklärung durch Zufall verbieten, fest, dass Raum, Zeit, Kausalität und viele Grundnormen der Logik, so gewiss sie für normale Bewusstseinsart und -lage als unbeschreibbare Erkenntnisrahmen bestehen, für andere Bewusstseinsarten und -lagen entweder garnicht existent sind, oder nicht das bedeuten, was sie normaliter bedeuten, oder endlich durch andere Kategorien ersetzt erscheinen. Indem hiermit bestimmten Sinne gibt es ganz sicher transzendente Wirklichkeit. Zu dieser gehört unter anderen, was hier zunächst, späterem vorgreifend, ohne Begründung gesagt sei, das gesamte Bereich echten religiösen und metaphysischen Erlebens.

Doch nicht allein inbezug auf das Erfahren überhaupt, auch inbezug auf das reine Denken gibt es ohne Zweifel transzendente Wirklichkeit. Das Grundsätzliche darüber haben wir eigentlich schon gesagt, doch werden die folgenden Präzisierungen den Sachverhalt soviel deutlicher machen, dass sie nicht unterdrückt werden dürfen. Wir sagten früher: die Naturgesetze bezeichneten die Verstandesansicht der empirischen Wirklichkeit; sofern wir dächten, gälten sie unbedingt. Dies bleibt richtig inbezug auf jene restlose Begriffenheit, welche das Denken fordert. Doch diese Forderung ist nachweislich nur innerhalb bestimmter, allerdings recht weitgesteckter Grenzen praktisch erfüllbar. Was genau wir damit meinen, sei an dieser Stelle nur durch stichwortartige Referenzen angedeutet — wer sich genauer orientieren will, der studiere die einschlägige Fachliteratur. Je weiter die Naturerforschung fortschreitet, desto mehr sieht sie sich gezwungen, die Annahme absolut gültiger Gesetze fallen zu lassen; nur in engen Bezirken bleibt sie brauchbare Arbeitshypothese, in ganz weiten Zusammenhängen erweist sie sich als unmittelbar irreführend. Letztlich scheint es jene unbedingte Gewissheit überhaupt, welche das Denken auf allen Gebieten fordert, ausschließlich inbezug auf die Formen des Denkens selbst zu geben. Und das will sagen: die Denknormen gelten nicht für die Gesamtheit des Wirklichen. Die vorgeschrittenste Naturwissenschaft erkennt in den Naturnormen, welche ehedem für in alle Ewigkeit unverbrüchlich feststehend galten, nur mehr statistische Gesetze; was letztlich Regelmäßigkeit schafft, sind die sogenannten Gesetze der großen Zahlen. Und gleichsinnig macht die traditionelle Vorstellung von Naturnotwendigkeit immer mehr einer anderen, auf den ersten Blick recht paradoxalen, Platz, gemäß welcher die Naturnotwendigkeit in letzter Instanz nicht nur auf Zufall, sondern auf Willkür fußt; dementsprechend geht das Reich der Determination zuletzt in eines der Indetermination über, das, obschon wesentlich unbegreiflich, doch vom Begriff der Freiheit her verständlicher erscheint, als das der Naturnotwendigkeit. Der nur als unendlich und formlos denkbare leere Weltraum soll neuerdings endlich und nicht formlos sein. Der für den Denker widersinnige Begriff eines positiven Nichts entspricht beim Physiker immer mehr einem Positivum; dies Grundsätzliche impliziert schon die den meisten Jüngeren selbstverständlich erscheinende Annahme, dass das denknotwendige Gesetz von der Erhaltung der Energie von denk anderen limitiert wird, dass die Entropie, d. h. der absolute Energieverlust einen Maximum zustrebt. In gewisser Forschungsrichtung verschwimmen dem Physiker die Grenzen physischer Außen- und geistiger Innenwelt so sehr, dass (wir bemerkten es schon) von einem bestimmten Punkte ab die Voraussetzungen und Vorstellungen des Forschers den objektiven Naturverlauf zu bestimmen scheinen. Endlich gibt es ganz sicher nicht-kausale und dennoch notwendige, wenngleich dem Denken unbegreifliche Zusammenhänge, deren geläufigster derjenige ist, der dem astrologischen Begriff der Konstellation entspricht1. Hier ist nun zunächst zwischen Verstehbarkeit und formaler Konstruierbarkeit zu unterscheiden: vieles lässt sich gemäß den Gesetzen der Mathematik und Logik konstruieren, was nicht zu verstehen ist und sich doch als richtig erweist. In diesem Fall transzendiert das im Menschen in Form von Denkbewegung sich äußernde kosmische Geschehen die Grenzen des assimilierenden Menschen-Tiers. Bei unserer Problemstellung wichtiger ist die in der entgegengesetzten Richtung wirkende Erkenntnis, die in allen angeführten Beispielen implicite enthalten ist: nämlich darin, dass das Denken mit seinen Gesetzen das Wirkliche nur innerhalb bestimmter Grenzen zu meistern gestattet. Wohl kann man auch dort noch richtige Formeln aufstellen, wo jedes lebendige Verständnis aufhört. Doch an irgendeinem Punkt hört auch diese Möglichkeit auf. Man gedenke der merkwürdigen rückwärts gewandten Kurve, die der Weg der Wissenschaft beschrieb: erst gelangte sie von der Ahnung zur Gewissheit; nun mündet diese in die bloße Wahrscheinlichkeit ein. Erst führte sie von der Anerkennung des Zufalls und des Glücks zur Behauptung unbedingter Notwendigkeit: nun findet diese an der Willkür ihre Grenze. Es ließen sich Bände über diese Frage schreiben, doch das Gesagte genügt. Zweifelsohne gibt es transzendente Wirklichkeit nicht nur vom Standpunkt der Erfahrung, sondern auch für das reine Denken, und damit ist völlig gewiss: aus den Forderungen des Denkens heraus lässt sich die Möglichkeit und Notwendigkeit des Weltganzen überhaupt nicht präjudizieren. Die Gewissheit, die Husserl fordert, gibt es jenseits des Eigenbereichs der Logik nicht. Ebensowenig gestatten die Sätze der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten über das Weltwesen gültige Urteile zu fällen. Wenn die meisten philosophischen Systematiker heute noch so tun, als fiele die ratio cognoscendi selbstverständlich mit der ratio essendi zusammen, so legt diese Naivität die Annahme nah, dass diese Herren und Damen von Voreltern abstammen, welche vom Baume der Erkenntnis nicht mitgegessen haben. Und nicht besser steht es mit jedem Wissenschaftler, der in der Beweisbarkeit das eine Kriterium des Daseins sieht und in der Nicht-Bewiesenheit oder -Beweisbarkeit den Erweis von Nicht-Existenz. Ein Beweis ist niemals anderes und mehr, als der verstandesmäßige Erweis von Existenz. Darum leistet er grundsätzlich nicht mehr, als für die empirische Schau Erfahrung überhaupt und für die Intuition die Evidenz. Nun ist der Mensch als Naturgeschöpf, wo immer sein Verstand erwacht ist, ein vorwiegend denkendes Wesen; darum und insofern ändert das Gesagte nichts über den Wert des Beweisens auf dem Gebiet der ursprünglichen menschlichen Umwelt: was in diesem Rahmen wirklich ist, dessen Existenz kann auch bewiesen werden, und da für den Verstand nur der Beweis Existenz schafft, so soll man in Gottes Namen beweisen, wo immer es geht. Anders gibt es für den Normalmenschen keine Sicherheit. Sobald nun aber die Grenzen der angeborenen Umwelt des Menschen überschritten sind, dann bilden die Normen des Denkens keine letzte Instanz mehr, falls sie überhaupt noch gelten. So beweist die Tatsache, dass das Dasein Gottes nicht bewiesen werden kann und Metaphysik keine mögliche Wissenschaft ist, nichts gegen die Realität des Gegenstands von Religion und Metaphysik, alles hingegen gegen die Kompetenz der Wissenschaft auf deren Gebieten. Gleichsinnig ist es Erweis nicht der Unwirklichkeit, sondern der Wirklichkeit der betreffenden Gebiete, wenn die als richtig erwiesenen Ergebnisse von Intuition, Prophetie, Astrologie usw. als Möglichkeiten nicht bewiesen werden können. Das tertullianische credo quia absurdum, das auf seinem Gebiete Tiefsinn bewies, lässt sich, mutatis mutandis, mehr oder weniger, vom credo fort auf alle Erfahrung übertragen, die nicht in den von Kant zuerst abgesteckten Rahmen hineinpasst. Das cogito ist nicht die legte Instanz der Welterfahrung und des Weltverstehens; den Denken als solchen, als Mittel der Wirklichkeitserfassung, sind Grenzen gesetzt, die wir fortan nicht mehr als weit, sondern als eng ansprechen dürfen.

Nunmehr dürfte deutlich sein, inwiefern eine Kritik des Denkens grundsätzlich möglich ist, obschon dies nur mittels des Denkens durchgeführt werden kann. Kant als Erkenntniskritiker führte seinerzeit über Hume hinaus, indem er des letzteren Annahme, dass der Glaube an die Gültigkeit des Kausalgesetzes Folge der Gewohnheit und der Anpassung sei, durch die Erkenntnis ersetzte, der Grundsatz vom zureichenden Grunde sei Bedingung der Erfahrung. Kant hat recht, insofern das Denken des Menschen letzte Instanz bedeutet. Das bedeutet es aber nicht durchaus. Den Totalzusammenhang sah der realistische Engländer, trotz geringerer Begabung, richtiger als der idealistische Deutsche. Nicht allein kann von einer absoluten und transienten Gültigkeit des Kausalgesetzes keine Rede sein — dies erkannte schon Kant — sondern auch für den Menschen bedeuten Denkforderung und Denknotwendigkeit nicht letzte Instanzen. Der Mensch als Geist ist an den Erfahrungsrahmen, der ihn als Naturprodukt definiert, nicht unentrinnbar gebunden. Er kann mehr als äußerlich erfahren, mehr als denkend begreifen. Ja, ursprünglich lebt er gerade aus diesem Mehr heraus und bescheidet sich erst in spätem Zustande, wenn seine höheren Fähigkeiten versagen, bei seinen Naturgrenzen. So neigt alles Alter ihn Gegensatz zur Jugend zu Materialismus und Tatsachenkult; so verhärtet es sich, den lebendigen Kontakt mit der Luft verlierend, gleich der abgestorbenen Borke eines einstmals grünenden Baumes. Ursprünglich und zutiefst ist der Mensch kein zweckmäßig arbeitendes, sondern ein zwecklos spielendes Wesen. Ursprünglich und zutiefst ist er religiös, metaphysisch und künstlerisch, nicht wissenschaftlich und nicht technisch.

Ursprünglich ist er Dichter und Erfinder, nicht Fest-Steller und Nach-Denker. Der Primat in ihm gehört der Phantasie. Das, was wir Heutigen Tatsache heißen und naiv als erste Gegebenheit bestimmen, ist in Wahrheit das historisch letzte Ergebnis mühseliger Abstraktion der aus dem Paradies vertriebenen Menschen. Das Transzendenzproblem findet also seine erste grundsätzliche Antwort in der Feststellung, dass der Mensch als lebendiger Geist ursprünglich oberhalb und jenseits des von Kant grundsätzlich richtig abgesteckten Existenzrahmens west.

1 Um mir eine nähere Erläuterung dieses besonderen Sachverhaltes, welche den Fluss unseres Hauptgedankenganges stören könnte, zu ersparen, drucke ich als Anmerkung einen kleinen Aufsatz Von der kosmischem Bedingtheit des Menschen ab. (Siehe Ende des Kapitels.)
Hermann Keyserling
Kritik des Denkens · 1948
Die erkenntniskritischen Grundlagen der Sinnesphilosophie
© 1998- Schule des Rades
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