Schule des Rades

Hermann Keyserling

Kritik des Denkens

Begreifen und Innewerden

Sinngebung

Mit dem Konkreten der äußeren Wirklichkeit haben wir uns hier nicht zu befassen. Desto mehr mit dem der inneren: denn die Verbildetheit des westlichen Geists ist heute so groß, dass ihm nur in seltenen Fällen noch einleuchtet, inwiefern die Gegebenheiten innerer Erfahrung genau so konkret sind, wie diejenigen äußerer. So ist zumal das Geistig-Wirkliche, sofern es mehr ist oder sein soll, als zur Deutung dienende Apparatur, konkret und nicht abstrakt. Den Übergang vom Denken, das nie weiter als zu einem Be-Greifen von außen her führt, zum Konkret-Wirklichen des Geistigen vermittelt nun das Verstehen. Auch was wir denken, verstehen wir nämlich, obwohl das keineswegs notwendig ist: die höchsten Erreichnisse mathematischen und mathematisch-physikalischen Denkens z. B. sind völlig unverständlich und dennoch völlig gesichert. Vor allein aber verstehen wir unmittelbar Sinn. Solcher Sinn — als Integral alles Bedeutungshaften verstanden, handele es sich um Symbolik, Physiognomik, sprachlichen Ausdruck, das Geistige am Leben und an der Kunst — leuchtet ebenso unmittelbar als besondere Wirklichkeit ein, wie dies äußere Gegebenheit tut. Gewiss mag dies Einleuchten in Sonderfällen der Vermittlung bedürfen: wie bei äußerer Gegebenheit des Fernrohrs oder des Mikroskops, so bei innerer des Beweisens und Erklärens. Aber das Ziel und somit das natürliche Ende des Prozesses ist in beiden Fällen unmittelbares Einleuchten, jenseits welches nichts festzustellen ist. Insofern ist Sinneserfassung überhaupt des Erkenntnisprozesses letzte Instanz und Unterschiede gibt es hier allein in der Dimension der Tiefe jeweiliger Sinneserfassung. Mit Denken hat Sinneserfassung grundsätzlich gar nichts zu tun: es ist unter allen Umständen unmittelbares Innewerden. Kehren wir nun von hier aus zu meinem Begriff des Einfalls im Gegensatz zum Denk-Ergebnis zurück. Sagten wir vorhin, Sinn leuchtet, wenn überhaupt, unmittelbar ein, so können wir nun hinzufügen: geistige Bedeutung muss einem unmittelbar einfallen; wobei grundsätzlich einerlei ist, ob dieses Einfallen Neues oder anderen vorher Eingefallenes und von diesen Angenommenes betrifft; einen Unterschied gibt es hier einzig insofern, ob einer wirklich versteht oder bloß mechanisch nachspricht; alles Verstehen ist nämlich ein originaler Vorgang, denn jeder kann nur für sich selbst verstehen, so wie er nur für sich selber atmen kann, wogegen alles von außen her Annehmen, auch das der absoluten Wahrheit, kein Innewerden bedeutet und damit keinen Einfall von innen heraus. Hier nun gilt es das folgende Weitere zu bedenken, was eine allgemeine Verwendung des Begriffs des Einfallens, so weit ich sehe, endgültig rechtfertigt: alle Sinneserfassung ist technisch Sinngebung, denn sie vollzieht sich allemal von innen nach außen zu: also besteht kein Wesensunterschied zwischen Verstehen und Erfindung. Jede Erfindung jedoch, welche als solche neue Voraussetzungen in die Welt setzt, muss dem Erfinder eingefallen sein. Oder noch prägnanter gesagt: es besteht kein Wesensunterschied zwischen Finden und Erfinden. Immer wirkt der Geist von innen heraus und immer tut er es aus einer anderen Sphäre, als der des Denkens. Hiermit wäre die Schicht des Denkens als eine ungemein schmale Schicht im Menschenleben erwiesen; als ungemein schmal, so entscheidend lebenswichtig sie sei. Ihre Gesetze sind sonderlicher Art; die Normen des Denkens präjudizieren grundsätzlich garnichts über die Normen anderer Wirklichkeit. Entsprechen sie in ziemlich hohem Grade denen aller natürlichen Realität, die einigermaßen mechanisch zu begreifen ist, so entsprechen sie garnicht denjenigen alles ursprünglich Schöpferischen, vom physischen Leben bis zum letzt-Geistigen. Ja letzterem entsprechen sie am allerwenigsten.

So bewahrheitet sich denn auch auf dem Gebiete dieser Sonderuntersuchung die Grundlehre des Buchs vom persönlichen Leben, dass der Mensch wesentlich keine Monade, sondern eine Beziehung im weitesten Verstand ist, eine Beziehung zwischen metaphysischem Subjekt und objektiven und als Objekt zu verstehendem Weltall. Im Mikrokosmos, als welcher der Mensch ist, interferieren wenn nicht alle, so doch überaus viele kosmische Schichten und Kräfte, diese Interferenz bedingt den Reichtum sowohl als die Schwierigkeit des Menschenlebens, und da es dem Menschen ursprünglich freisteht, den Akzent in und außer sich zu legen, wo und wie er will, wementsprechend der Gesamtzusammenhang andere Gestalt annimmt, Sondermöglichkeiten sich öffnen und andere ausgeschlossen werden, so ergibt sich hieraus a priori jene schier grenzenlose Möglichkeit von Lebensgestaltungen, welche Geschichte erweist. Eine solche Möglichkeit bedeutet die Vorherrschaft des Denkenden im Menschen. Doch diese schließt andererseits Sinneserfassung und Neuschöpfung vom Geist her aus. Letztinstanzlich bestimmendes Denken schließt sich von allein ab, was nicht denkbar ist und nicht aus schon gedachten Gedanken folgt. Es besteht auf Definieren, und da man nur das definieren kann, was man schon weiß, so blendet es mögliche neue Einsicht ab. Es erkennt nur den Beweis als Gewissheits-Erweis an, und beweisen lässt sich etwas dort allein, wo die logischen Normen kompetieren. So ist der Denker weniger als jeder andere Typus dazu vorbereitet, der Offenbarung teilhaftig zu werden. Nichts anderes lehrte schon Jesus von den Denkern des Judentums, den sogenannten Schriftgelehrten.

Vom Mechanismus des Denkens gingen wir zum Einfall über, hielten unterwegs kurze Zeit bei jener Sinneserfassung, von welcher frühere Werke von mir ausführlich gehandelt haben, und nun halten wir beim Begriff der Offenbarung. Dieser, in seinem universalsten Vorbild der integralen Offenbarung, bestimmte im Buch vom persönlichen Leben das Ziel aller Erkenntnisse überhaupt. In der Tat: mehr als offenbar-werden kann vorher dunkel oder verborgen Gebliebenes nicht. Was immer aber nicht erschlossen werden kann, muss sich von selbst offenbaren; einen anderen Weg zum Wissen gibt es nicht. Jetzt ist wohl endgültig klar, inwiefern Einfälle und äußere Erfahrung, vom Denken her geurteilt, einen gleichen Sinn haben. Die Driesch’sche Formel vom Urtatbestand des Bewusstseins,

ich habe, um mein Wissen wissend, bewusst etwas,

gilt von der Ein-Gebung genau so wie von äußerer Gegebenheit. Das ursprüngliche am Erkenntnisprozess ist nicht das cartesianische Denken.

Hermann Keyserling
Kritik des Denkens · 1948
Die erkenntniskritischen Grundlagen der Sinnesphilosophie
© 1998- Schule des Rades
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