Schule des Rades

Hermann Keyserling

Kritik des Denkens

Das Begreifen im Zusammenhang des Weltgeschehens

Erscheinung und Gesetz

Das Höchste wäre: zu begreifen,
dass alles Faktische schon Theorie ist.

Goethe

Wir müssen jetzt dem besonderen Sinn der besten Erkenntnisse des Betrachteten nach einigen weiteren Richtungen hin nachgehen und das Problem zugleich von höherer Warte her zu überschauen trachten. Unverrückbar steht fest, dass es für den Betrachter nur eine Grundgegebenheit gibt, nämlich eine erscheinende, und dass sich das Denken im Rahmen der gleichen Grundgegebenheit bewegt. Wie nun aber ist das genaue Verhältnis der Phänomene zu den sie regierenden Normen und der Erkenntnisformen zu den Gegenständen der Erkenntnis? In den Prolegomena hatte ich den Inhalt dieses Kapitels auf zwei verteilt: III, Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie und IV, Naturgesetze und Naturerscheinungen. Die Fragestellung dieser reiferen Arbeit ermöglicht die Behandlung des Problemkreises beider Kapitel (von denen übrigens der größere Teil des Inhalts kaum verändert in die Umfassung hineingearbeitet werden konnte) auf einmal. Da dieses neue dritte Kapitel den fraglichen Problemkreis von einem höheren Gesichtspunkt aus betrachtet, als früher geschah, so erfordert dies eigentlich eine ausdrückliche Erweiterung meiner Fragestellung von 1907. Auf eine solche habe ich gleichwohl verzichtet, weil sich das weitere Problem am Sonderfall des engeren, gemäß dem Grundsatz pars pro toto, dem Sinne nach vollständig und für das konkrete Verständnis deutlicher behandeln lässt. Im übrigen besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Naturgesetzen und anderen aufzudeckenden oder aufzustellenden Normen — hier irrt zumal Rickert — und auch keiner — hier wiederum irrt Husserl — zwischen evident einsichtigen inneren Normen und solchen, die aus äußerer Erfahrung abstrahiert werden. Husserls phänomenologische Reduktion bedeutet nichts anderes und nicht mehr als eine Sonderanwendung der dem Menschen eigenen Fähigkeit zum Abstrahieren überhaupt im gleichen Grundzusammenhang, der auch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung betrifft, und so bedeutet auch Husserls Evidenz — hier hat Dingler beste Aufklärungsarbeit geleistet — keine Gewissheit höheren Grades, als solche sonst als gewiss befundener Erfahrung eignet. Das Sonderliche der Phänomenologie beruht einzig auf ihrem besonderen Gegenstand, welchen besonders scharf einzustellen besondere Perspektive gestattet.

Und nun gehen wir ohne weitere Überleitung in medias res, wobei wir uns auch dieses Mal, soweit als irgend möglich, so großer Unbefangenheit befleißigen wollen, als lägen nicht schon viele und vielfältige Antworten auf unsere Fragen vor. Das letzte Kapitel lehrte unter anderem, dass es keinen Sinn hat, die objektive Gültigkeit von Relationen anzuzweifeln, die erfahrungsgemäß andere Erscheinungen als unsere Gedanken regieren, weil uns der Denkprozess auf keine andere und unmittelbarere Weise gegeben ist, als das sonstige Naturgeschehen und weil das Beanstanden der Wahrheit äußerer Erfahrung notwendig das Bezweifeln jeder Erkenntnis überhaupt bedingen würde. Wenn sich also Beziehungen irgendwelcher Art — etwa die Fallgesetze, Maxwells Gleichungen, Mendelejews periodisches System — an der Erfahrung als gültig erweisen, so dass sie das Gegebene zu bestimmen und das Künftige vorauszusehen gestatten, so haben wir ihnen ohne weiteres objektive Gültigkeit zuzuerkennen. Ja die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis fußt überhaupt nur auf diesen konstanten Beziehungen, weder auf den theoretischen Voraussetzungen, welche immer zweifelhaft bleiben, noch auf den gegebenen Erscheinungen, weil diese uns entrinnen. Was ist zum Beispiel objektiv wahr an der Lehre vom Licht? Was das Licht eigentlich sei, vermögen wir nicht zu sagen, vorausgesetzt, dass diese Frage überhaupt Sinn hat. Was aber die Theorien betrifft, so lehrt die schnelle Ablösung der Emissions- durch die Undulationstheorie, und dieser wiederum durch die elektro-magnetische, wie vorsichtig man damit sein muss, in Naturdeutungen absolute Wahrheiten anzuerkennen. Aber gewisse Beziehungen finden sich innerhalb aller Theorien wieder, sie sind das gewisse und dauernde Moment in der Flucht des Ungewissen; Fresnels Gleichungen waren ohne weiteres in diejenigen Maxwells umzuformen. Weshalb? Weil die Relationen, die den Formeln beider Forscher zugrunde liegen, das wirkliche Verhältnis der fraglichen Phänomene zu einander ausdrücken, unabhängig von aller Wahrnehmungs- und Deutungsart. Das gegenseitige Verhältnis der Phänomene ist ein gegebenes, keine Willkür vermag es umzuschaffen. Gleichungen aber verhalten sich zur Wirklichkeit wie der Maßstab zum Gegenstande den er misst. Zwischen beiden als solchen besteht keine Identität, aber der Maßstab ist anlegbar und die Bestimmungen, die er vermittelt, sind richtig, weil die räumlichen Beziehungen, die in der Maßeinteilung zum Ausdruck kommen, keine anderen sind als die, welche sich innerhalb des Räumlichen überhaupt nachweisen lassen. Die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis ist demnach Funktion der Richtigkeit der Beziehungen, welche zwischen den Dingen postuliert werden, nicht Funktion des Zusammenstimmens der Begriffe mit den Gegenständen; vom beziehungslosen Ding gibt es kein objektives Wissen. Darum ist es kein Wunder, dass die Wissenschaft, je weiter sie fortschreitet, je tiefer sie die Naturvorgänge erfasst, desto weiter vom unmittelbar Konkreten sich entfernt. Im grandiosen Lehrgebäude der modernen mathematischen Physik steht kaum ein Symbol mehr für einen mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Gegenstand, ja viele derselben sind sogar in keinen unmittelbaren Zusammenhang mit ursprünglicher Gegebenheit mehr zu bringen — und gerade darum gibt diese Wissenschaft einen beinahe erschöpfenden Begriff von dem Geschehen, das sie behandelt. Denn Beziehungen sind desto sicherer und genauer zu bestimmen, je weiter sie gefasst werden, Resultanten immer leichter zu übersehen und zu behandeln als Komponenten, und je abstrakter ein natürliches System begriffen wird, desto vollständiger gelingt es, das wechselvolle Geschehen auf Beharrlichkeiten zurückzuführen. Dieser Abstraktionsprozess, der im selben Maß der objektiven Erkenntnis zuführt, als er sich von der unmittelbaren Wahrnehmung entfernt, kann freilich nicht ins Unbegrenzte fortschreiten; für jeden Fall oder Problemkreis gibt es einen kritischen Punkt, wo das Begriffssystem sich von der Wirklichkeit loslöst und damit seine Fähigkeit verliert, das Gegebene begreiflich zu machen. Dieser Punkt ist erreicht, wenn das System so allgemein und umfassend geworden ist, dass es alles nur mögliche Besondere in sich begreift und folglich weder neue Erfahrung zu vermitteln, noch auch durch Erfahrung korrigiert zu werden vermag. Dann hat es seinen praktischen Wert verloren. Allein, was jenseits der kritischen Punkte geschieht, straft das, was sich diesseits derselben ereignet, nicht Lügen. So bleibt es wahr, dass wissenschaftliche Erkenntnis von objektiver Gültigkeit nur gleichsam durch Überwindung des Konkreten zu gewinnen ist.

Denn Wissenschaft gibt es überhaupt nur vom Allgemeinen: dies ist der kürzeste Ausdruck für die Wahrheit, dass die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis ausschließlich auf den Beziehungen beruht, die sich zwischen den Erscheinungen postulieren und feststellen lassen, nicht auf den gegebenen Vorgängen, so genau sie beobachtet wurden, und nicht auf den theoretischen Voraussetzungen, so wahrscheinlich diese erscheinen. Ein besonderes Ereignis als solches kann gar nicht begriffen werden, nur als Sonderausdruck eines allgemeinen Verhältnisses ist es wissenschaftlich zu verstehen. Allgemein bedeutet aber das gleiche wie gesetzmäßig, denn wo sich verallgemeinern lässt, dort waltet ein Gesetz. Daher können wir den Satz, dass es Wissenschaft nur im Allgemeinen gibt, auch so fassen, dass die Wissenschaft es nur mit den Gesetzen des Geschehens zu tun hat. Und dieses gilt von jeder unter ihnen, von der Biologie und der philosophischen Kritik nicht weniger, als von der Physik und Chemie. Wenn der Biolog den Plan erforscht, nach welchem die organischen Prozesse ablaufen, so sucht er nach dem allgemeinen Gesetz, dem alles Besondere untergeordnet ist. Wenn der Philosoph die Formen der Erkenntnis bestimmt, so stellt er damit die allgemeine Norm fest, die für jede Erfahrung gilt. Auf Gleichbedeutendes geht das Streben des Sprach- und Religionsforschers, des Kunstkritikers, des Völkerpsychologen, ganz gleich, inwieweit die Natur der Dinge dem Erkenntniswunsche entgegenkommt. Alle Wissenschaft verfolgt nur das eine Ziel, das Erscheinende auf Gesetze zurückzuführen. Hat sie aber dieses erreicht, dann ist sie auch vollendet. Kein wissenschaftliches Problem weist aus dem Umkreis der Phänomene hinaus, und keine Theorie ist ein anderes oder mehr, als ein Werkzeug zum Verständnis des Erscheinenden.

Es gibt sonach zwei und nicht mehr allgemeine Ordnungen des Wirklichen, mit denen es mögliche Wissenschaft zu tun hat: Erscheinungen und deren Gesetze. Wir haben bisher nur auf die erscheinende Wirklichkeit im allgemeinen, und dann auf den besonderen Charakter der Gesetze, zu deren Feststellung wir gelangten, unser Augenmerk gerichtet — so auf deren immanente oder transiente Bedeutung, auf ihren bloßmenschlichen oder universalen Charakter, auf ihren Sinn als Prinzipien des Erkennens oder als Normen der Dinge außer uns. Nun ist es aber möglich, eine weitere Frage aufzuwerfen: nach dem Sinn der Gesetze als Gesetze. Es ist nämlich nicht ohne weiteres klar, inwiefern Beziehungen wirklich sein können. Als solche sind sie uns nicht gegeben, denn wir nehmen nur zusammenhängende Erscheinungen und Vorgänge wahr, ein unauflösliches Geschehen; was aber die Denknotwendigkeit betrifft, so eignet diese wohl den logischen Grundnormen, jedoch keinem einzigen Naturgesetz. Inwiefern können Gesetze wirklich sein? — Wenn wir an die Art ihrer Feststellung denken, so erscheint wohl gewiss, dass ihnen keine von Verstande unabhängige, Wirklichkeit zukommen kann, denn sie entstehen durch Abstraktion, und Abstraktionen sind immer auf einen Abstrahierenden zurückzuführen. Hier scheint diese Zurückführung sogar restlos zu gelingen, da der besondere Charakter zum mindesten der Naturgesetze nachweislich davon abhängt, welche Stellung der Forscher einnimmt und ein wie weites Gebiet er in den Rahmen des Experiments hineinbegreift. Gleichwohl sind die Gesetze Wirklichkeiten, die wir hinnehmen müssen, willkürliche Annahmen, gleich den Hypothesen, sind sie nicht. Aber was es tatsächlich mit ihnen für eine Bewandtnis hat, das geht aus unseren bisherigen Ergebnissen nicht unzweideutig hervor.

Sobald wir nun das Problem auf die Weise hinstellen, dass die Frage nach dem Sinn der Gesetze als Gesetze einer Beantwortung zugänglich wird, so verwandelt sich unsere Aussicht auf merkwürdige Weise: wir sehen uns nicht, wie bisher, einer Gegebenheit gegenüber, innerhalb welcher es verschiedene Ordnungen gibt, sondern zwei Sphären der Gegebenheit, die zwar beide im gleichen Maße wirklich, untereinander aber grundverschieden scheinen und von einem gleichen Gesichtspunkte aus nicht überblickbar sind. Der einen Sphäre gehört das Flüchtige an, das Zeitliche, das Zufällige und Wandelbare; der anderen hingegen das Ewige, das Notwendige und Beharrende. Richten wir unser Augenmerk allein auf die Gesetze und Normen der Natur, ohne uns um die Phänomene zu bekümmern, so offenbart sich uns eine eigenartige Welt der Beziehungen, welche feststehen, was immer sich ereignen mag und gleich einem kunstvollen Netzwerk die unbeständige Erscheinungswelt umrahmen, umfassen und tragen. Und blicken wir auf die Phänomene allein, ohne ihres Zusammenhanges zu gedenken, so gewahren wir eine chaotische Flucht, ein willkürhaftes Entstehen und Vergehen, ein buntes und wirres Durcheinander. Diese beiden Welten erscheinen dermaßen verschieden, sobald man sie gesondert betrachtet, dass es nahe genug liegt, ihren Zusammenhang nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, sondern als Problem in Frage zu stellen, dessen Auflösung möglicherweise in der Negation dieses Zusammenhangs bestehen würde. Dies liegt besonders nahe, da alle Normen, die der Mensch frei aus sich heraus stellt, so die des Rechts, der Sitte, der religiösen oder moralischen Observanz, der Gegebenheit nachweislich nicht entnommen werden. Der erste, der die Wirklichkeit dergestalt doppelt-gebrochen erblickt hat, ist Plato gewesen; er zuerst hat den scheinbaren Tatbestand dahin gedeutet, dass dem Erscheinenden eine Welt der Ideen zugrunde läge. Diese bedeuteten ihm selber freilich nicht nur das, als was ein Natorp sie hinstellt: ideale Normen abstrakter Art. Plato war mehr Seher und damit Zusammenschauer, als Zergliederer. Seine Ideen waren sehr Verschiedenes auf einmal: göttliche Ursachen und transzendente Vorbilder des Gegebenen, verwirklichte Ideale und Normen des Wirklichen zugleich, Urbilder Klages’scher, Archetypen Jung’scher Art, konkrete Äquivalente dessen, was heute abstrakt als Art und Gattung verstanden wird, ewige Werte, die dem Geschehen und Wollen das Ziel sehen, endlich Sinn-Bilder des Gleichen, was ich unter Sinn verstehe. Aber eben weil Plato als großer Zusammenschauer und damit Schöpfer vereinigender Symbole wesentlich vieldeutig war, geht sehr vieles verschiedene und sich widersprechende Eindeutige auf ihn zurück. So ist gewiss, dass Platos Ideenlehre unter anderem auch kritische Wissenschaft verkörpern wollte sowohl, als solche faktisch eingeleitet hat; dass sie insofern der gleichen Grund-Fragestellung entspringt, wie Lotzes Lehre einer Welt des Geltens, auf einer Ebene mit sämtlichen späteren idealistischen Weltanschauungen liegt und als deren Prototyp und Vorläuferin betrachtet werden darf.

Beurteilt man nun die reiche Welt des Griechen von diesem ihrem Aspekte her, so darf man sagen: der platonische Grundgedanke — ich sage absichtlich nicht der Grundgedanke Platos — ist der folgende: es gibt zwei Reiche des Wirklichen, ein Reich des Erscheinenden, Veränderlichen, und eins der ewigen Normen. Es gibt kosmische Gesetze, selbstgegründete Ideale im gleichen Übernatürlichen Sinn, wie die juristischen Normen und ethischen Ideale aus der Natur nicht abstrahiert, sondern dieser aufgedrungen werden. Diese kritische Einsicht ist im Laufe der Jahrhunderte auf jede nur erdenkliche Weise gewendet, gefasst, gedeutet und eingekleidet worden, die Idee hat von der Gottheit bis zum Hirngespinste jede Deutung erlebt und die Erscheinung von der Lüge bis zur Wahrheit. Erst mit Kant hat der Prozess wissenschaftlicher Bestimmung, der schon mit Aristoteles eingesetzt und seit Descartes grundsätzlich deutlich gemacht hatte, dass die Wirklichkeit der Phänomene nicht anzuzweifeln ist, und dass Ideen als Vernunftprinzipien und nicht als metaphysische Substanzen verstanden werden müssen, einen ersten methodischen Abschluss gefunden; erst Kant hat das doppeltgebrochene Weltbild wieder auf eine einzige Welt zurückzuführen versucht. Historisch betrachtet, ist ihm dieses jedoch nicht gelungen: gerade seine sich kritisch nennenden Nachfolger haben bald eine Schwenkung zu Plato zurück vollführt. Es ist dem Verstande eben schwer, Beharrliches und Veränderliches, Sein und Werden, Zeitliches und Ewiges im Zusammenhang zu denken, sehr schwer, über die Antithetik hinauszugehen. So ist aus der Kritik heraus der Platonismus wiedererstanden. Zumal Lotzes schönes Kapitel über die Ideenwelt — eine Welt des reinen Geltens und zugleich der höchsten Wirklichkeit — hat viele spätere Denker verführt. Heute gibt es gar viele Philosophen, die an ein besonderes Reich der Ideen glauben, bald im Sinn einer Universalmathematik, einer universal algebra, wie Whitehead sie nennt, bald wieder in dem begrifflicher Normen, und hie und da auch ihn Sinn einer Verschmelzung des Platonismus mit der Hegelschen Metaphysik. Es ersteht einerseits der Pythagoräismus wieder auf Grund der Tatsache, dass wirklich das meiste Geschehen einheitlichen Zahlengesetzen folgt1, andererseits der Neuplatonismus aus einer intimen Vermählung des Kantianismus mit von Indien inspirierter Theosophie. Interessant, obwohl für uns nicht in Betracht kommend, ist die Abart des Platonismus, welche die Wirklichkeit auf modern verstandene Werte gründen will: es ist die Durchführung eines Gedankens, welchen der vorsichtigere Athener nur an der Grenze des Schweigens ausgesprochen hat — der möglichen Zurückführung aller Ideen auf die des höchsten Guts. Im übrigen ist die Psychologie aller platonisierenden Denker die gleiche: angesichts der Schwierigkeit, Beharrendes und Verfließendes auf einmal im Auge zu behalten, haben sie das Untrennbare aufgetrennt. Auf der einen Seite verblieb ihnen dann die erscheinende Wirklichkeit, auf der anderen die ein Gesetz verkörpernde Form ihres Zusammenhangs, jede Seite für sich leichter zu übersehen. Über den Charakter der Erscheinungswelt sind sich wohl alle einig gewesen, denn diese ist Allgemeingegebenheit. Anders steht es mit dem gesetzlichen Zusammenhang: dieser lässt sich aus unendlich vielen Prämissen begreifen, und die resultierende Theorie wird jedesmal eine andere sein. So haben denn die modernen Platoniker, ihren metaphysischen Voraussetzungen, individuellen Neigungen, der Tiefe ihrer Einsicht und der Weite ihres Horizonts entsprechend, die letzte Instanz der Erkenntnis bald in Naturgesetzen, bald in Urteilsforderungen, bald in Werten, bald in Urbildern erblickt, weil jedes dieser Worte für eine Vielheit bestimmter Deutungsmöglichkeiten steht.

1 Dieses ist von Victor Goldschmidt für das Gebiet der Kristalle, der Planetensysteme, der musikalischen Harmonie und der Farben in der Kunst nachgewiesen worden in einer Reihe peinlich genauer Arbeiten, die sich über zwei Jahrzehnte erstrecken. Die erste, grundlegende, heißt Harmonie und Complikation (Berlin 1901, S. Springer), die letzte Farben in der Kunst Heidelberg 1919, Carl Winter). — Ein Wiedererwecker des Pythagoräismus war z. T. ich selbst, in der Periode, in welcher das Gefüge der Welt entstand. Vgl. dessen drittes Kapitel.
Hermann Keyserling
Kritik des Denkens · 1948
Die erkenntniskritischen Grundlagen der Sinnesphilosophie
© 1998- Schule des Rades
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