Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Individuum und Zeitgeist

Subjekt-Kultus

Den vergangenen Winter verbrachte ich in Griechenland. Durchwanderte die Stätten, deren ehrwürdige Namen jedem unter uns von Kind auf heimisch klingen; weilte lange zu Delphi, stand an den Gräbern der Atriden, besuchte die Inseln mit ihren schimmernden Göttertempeln, fasste Fuß in Athen. Es war zu einer Zeit, wo die Fremden fehlten und die Einheimischen wenig hervortraten. Nichts störte die Stimmung. Gegenwart und nächste Vergangenheit blieben dem Bewusstsein fern: mich umfing ausschließlich die Atmosphäre des Altertums und seiner großen, unsterblichen Geister. Und wie ich mich so willenlos den erhabenen Eindrücken hingab, ganz Auge und Sinn, ohne Vorurteile und Hintergedanken, da ward mir das längst Gestorbene greifbar lebendig. Die Heldensagen wurden mir zu persönlichen Erlebnissen; der Naturverlauf bezog sich wie von selbst auf olympische Götter. Ich begann den Zusammenhang der griechischen Kunst mit der griechischen Natur zu fühlen, jenen Zusammenhang, der so innig, so wunderbar selbstverständlich erscheint, dass einen ein Tempel am Bergeshang nicht mehr in Verwunderung setzt, als eine schöne Naturform. Und wie ich mich dort aufs Neue in die hellenischen Dichter und Denker vertiefte, da war mir, als läse ich sie zum allerersten Mal: denn lebendig wird einem Menschenwerk erst, wenn man den Menschen begreift, und der griechische Mensch erstand mir zum erstenmal in Griechenland.

Er erstand vor meinem geistigen Auge; ich erlebte den Rhythmus seiner Welt. Und wie nun aus den Eindrücken Gedanken wurden, da waren sie sehr anderer Art als die, welche ich mir früher über den Griechen gemacht hatte. Auch ich hatte dem Märchen vom genialen, leichtsinnigen, unverantwortlichen Götterliebling Glauben geschenkt, auch mir war die griechische Kunst wegen jener selbstverständlichen, entwaffnenden Vollendung, die sie allein mit Naturschöpfungen teilt, lange Zeit als unverantwortliches, nicht weiter zu verstehendes Naturphänomen erschienen. Nun aber begriff ich ein anderes: die hellenische Kultur, die in ewiger Jugend die Jahrtausende überdauert, ist alles eher als ein unverantwortliches Naturphänomen — sie ist das Geschöpf eisernen, vollbewussten menschlichen Wollens und Strebens. Was mir in Hellas zum ersten Male deutlich ward, ist dies: der höchste Ruhmestitel der Griechen, der wahre Grund ihrer Größe ist ethischer Natur: er besteht nicht in dem, was sie an Gaben besaßen, er liegt darin, was sie aus diesen Gaben gemacht haben.

Vergleichen wir vorurteilsfreien Blicks — mit jener Voraussetzungslosigkeit, welche dem Berühmten gegenüber so schwer zu wahren ist — die griechischen Tragiker mit den Dichterfürsten der germanischen Weltära, so erweist es sich, dass die Hellenen, vielleicht den einzigen Aischylos ausgenommen, der ursprünglichen Veranlagung nach nichts nicht nur einem Shakespeare oder Goethe, nein, auch einem Calderón oder Schiller Ebenbürtiges hervorgebracht haben. Sophokles, dessen Gestaltung des Ödipusmythus alle Zeitalter ergreifen wird, hat doch die Schicksalsidee nicht halb so tief erfasst, wie Goethe im Parzenlied aus der Iphigenie;

Euripides, der von den Griechen selbst gefeiertste ihrer Bühnendichter, ist im Vergleich mit Schiller eine arme Natur. Seiner Seele fehlten die tiefsten und höchstgestimmten Saiten; seine Begabung hatte etwas eigentümlich Trockenes, Abstraktes. Und nun gar die griechischen Philosophen: es gibt vielleicht keinen unter ihnen, von den gewaltigen halbmythischen Gestalten eines Heraklit, eines Pythagoras und dem Spätling Plotinos abgesehen, dem sich jener Grund des unsichtbaren, kaum auszusprechenden Innenlebens aufgetan hätte, in welchem die germanische Seele ihre tiefsten Wurzeln fühlt. Für die Griechen gab es eigentlich nichts Unsichtbares; sie waren ganz und fanatisch Augenmenschen. Wir aber wissen, dass die Welt des Auges nicht das Weltall ist. — Und doch: die griechischen Tragiker wird man länger Ibsen, als Schiller und Calderón, die Bakchen nicht früher vergessen, als Tasso und König Lear; und mit den knappen Begriffen des Stagiriten wird sich die Philosophie noch dann auseinandersetzen, wenn die Träume der Romantik längst verweht sein werden.

Woran liegt das wohl?

Es liegt an dem, dass die Menschheit unweigerlich, trotz alles Wandels der Zeitströmungen und des Geschmackes, Kultur höher wertet, als Natur, die Selbstzucht höher stellt, als den Instinkt. Die unerreichte Größe der Griechen beruht darauf, dass sie aus ihren Anlagen, wie immer sie beschaffen waren, mehr zu machen gewusst haben, als irgendein früheres oder späteres Volk.

Der Zeitgeist des perikleischen Athen verlangte Vollendung. Nur Meisterschaft ließ er gelten. Auf das Talent, das Naturell als solches wurde dazumal gar nicht gesehen. Man setzte es insofern vielleicht voraus, als man jedem Frei geborenen so viel Einsicht zutraute, dass er sich nicht mit Dingen, zu welchen ihm jeglicher Beruf fehlte, abgeben würde: jedenfalls wurde auf die Begabung kein Nachdruck gelegt. Man fragte nicht: wer bist du?, sondern: was kannst du? Das Können entschied über das Sein. Die Athener urteilten über Kunst mit einer Nüchternheit, welche die Nerven moderner Künstler kaum mehr vertragen dürften. Sie waren Fanatiker der Logik und der Vernunft, überzeugt, dass sich alles und jedes, auch im Gebiet des Schönen, begründen lasse; an ein Jenseits der Analyse glaubten sie nicht. Raumformen hatten bestimmten, als zweckmäßig bewährten Zahlenverhältnissen zu genügen, Statuen mussten vor dem Kennerblick des Arztes und des Athleten bestehen, Dichtungen so vollendet im Ausdruck sein, dass sich ein objektiver Einwand gegen sie nicht erheben ließ. Unmotiviertes durfte es nicht geben. Dem sei nun in der Theorie wie es wolle — ich will gern zugestehen, dass diese streng rationelle Kunstauffassung einseitig ist —, in der Praxis zwang diese Richtung des Zeitgeistes jeden Schaffenden dazu, seine sämtlichen Kräfte anzuspannen. Er wusste: Nachsicht wird nicht geübt, Ausflüchte gelten nicht, Genialität ist keine Entschuldigung. Ist eine noch so große Idee nicht vollendet zum Ausdruck gebracht, so kann sie auf Erfolg nicht rechnen. Das Mittelmäßige fand schlechterdings kein Publikum. So zwang der Zeitgeist das Individuum dazu, all sein Können dranzusetzen, sein Äußerstes zu geben.

Mich dünkt, diese produktive Kraft des Zeitgeistes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Kein Sterblicher strengt sich bis zum Äußersten an, den schon ein geringer Anlauf hoch über alle Mitbewerber, über alle mögliche Verurteilung hinausträgt. Auch die stärkste ursprüngliche Kraft entfaltet sich erst im Kampf mit Schwierigkeiten. Shakespeares titanisches Genie hat sich so manchesmal gehen lassen, und es ist insofern nicht ungerecht, dass er zeitweilig, zu Zeiten exklusivster Formansprüche, weniger hoch geschätzt wurde, als dies heute geschieht. Rodin, ein wahrhaft großer Bildner, arbeitet oft recht nachlässig, und wie hoch wir sein Genie immer stellen müssen: die Nachwelt wird ihn den Mangel an Disziplin entgelten lassen. Die griechische Kunst aber steht noch heute da, wo sie vor Jahrtausenden stand, unberührt von Zeitströmungen und Geschmacksverschiebungen; denn hier herrscht unleugbare Meisterschaft. Ein griechischer Künstler durfte sich nicht gehen lassen. In der griechischen Atmosphäre, jener Atmosphäre edlen, aber unnachsichtigen Wettbewerbes, hätte Rodin ganz anders arbeiten müssen, um zur Geltung zu gelangen, und er hätte auch ganz anderes zustande gebracht. Ja, hätte Shakespeare für Griechen geschrieben, anstatt für barbarische Briten, sein Lebenswerk wäre um vieles erhabener, als es jetzt vor uns liegt. Denn er hätte es dann nirgends beim bloßen Hinwerfen bewenden lassen; er hätte alles Schlackenhafte ausgemerzt, jeden Geschmacksfehler vermieden, die Ausführung überall auf der Höhe der Anlage gehalten. Die Ausführung: denken Sie an die griechische Plastik im Verhältnis zur römischen und fassen Sie den bloßen Tatbestand ins Auge, ohne historische Rückblicke und Erläuterungen. Die römischen Künstler führten fast ausschließlich altgriechische Kompositionen aus, der Idee nach sind also griechische und römische Plastik eins. Und doch, welch himmelweiter Unterschied! Erst der Ausdruck erweckt eben die Idee zum Leben, und die griechische Darstellung und Verkörperung des Erdachten und Erschauten ist so unvergleichlich vollendeter als die römische, dass, man an eine Identität der Anlage kaum glauben mag. Wie der Geist Fleisch werden muss, um zu leben, ebenso schenkt erst die Ausführung der künstlerischen Idee die Existenz. In der Kunst ist der Ausdruck alles. Ich sagte, wir bewunderten noch heute den Euripides, obgleich es seitdem bedeutend größere ursprüngliche Begabungen gegeben hat: dies liegt an der vollkommenen und in der Vollkommenheit vielleicht nie wieder erreichten Durchführung jeder Konzeption. Bei Euripides suchen wir vergebens nach Mängeln, wie deren Shakespeare nur zu viele aufweist. Der griechische Zeitgeist duldete kein à-peu-près, keine Nachlässigkeit, keine Mittelmäßigkeit. Jenes fabelhafte athenische Premierenpublikum, welches am Abhang der Akropolis, auf dem Rasen malerisch gelagert, im noch heute erhaltenen Dionysostheater den Uraufführungen der Dramen eines Aischylos, eines Euripides beiwohnte, das ließ keine Formfehler hingehen. Es vermochte die schwierigsten Probleme der Wortkunst beim ersten Anhören spielend zu erfassen, und dieses erste Anhören — denn gelesen wurden Theaterstücke damals kaum, und eine nochmalige Aufführung hing bei der Ungeduld, Launenhaftigkeit und unersättlichen Neubegier des Volkes bloß von dem ersten Erfolge ab —, dieses erste Anhören entschied über Leben und Tod. Wer aufzutreten wagte, musste sicher sein, dass er technisch auf der Höhe war. Er ruhte nicht eher, als bis er sein Äußerstes getan hatte. Und vornehmlich aus diesem Grunde ist uns vom gesamten Kunstschaffen jenes Zeitalters eigentlich nur — Vollkommenes geblieben.

Ja, der griechische Zeitgeist war wie kein anderer der Entwicklung, der Durcharbeitung und Ausgestaltung des Individuums förderlich. Die Neigung zur unfruchtbaren Selbstbespiegelung fand in Griechenland wenig Nahrung. Niemand fragte dort nach der ursprünglichen Begabung, dem Genie als solchen — und so verlor auch der Künstler mit eitlen und müßigen Fragen wenig Zeit. Das Können allein entschied; ihm allein galt alles Sinnen und Streben. Auch die Klippe der Originalitätshascherei, an welcher so viele scheitern, war dem jungen Talent jener Zeiten weit weniger gefährlich, als sie dies heute ist; der Zeitgeist half sie umschiffen. In Griechenland galt es als selbstverständlich, dass man etwas gelernt haben musste, um Tüchtiges zu leisten; die Behauptung, alles aus sich selbst zu haben, wie sie moderne Originale gern aufstellen, wurde dort nicht ernst genommen; wer damit kam, wurde ausgelacht. Ja mehr noch: das Wort Autodidakt, zu unserer Zeit beinahe ein Ehrentitel, war damals ein Schimpfwort. Es galt als gleichbedeutend mit Barbar, mit ungebildeter Mensch. So ging denn das junge Talent unbeirrt und unbefangen in die Schule, ohne sich dessen zu schämen, dass es eine Weile von Lehrern und Vorbildern abhängig war. Es lernte bewusst, bis dass es zum Meister heranreifte. Und das Ziel, das sich der Jüngling steckte, war überall ein streng objektives. Die Individualität als solche kam nicht in Frage, die interessierte keinen. Tue dein Bestes, dann wird man deiner gedenken: das war der Wahlspruch, den der Zeitgeist dem Künstler entgegenhielt. Und die Geschichte hat bewiesen, dass die hellenische Auffassung des Künstlertums trotz ihrer Nüchternheit weiterführt, als alles Hinhorchen auf den Pulsschlag der Individualität. Viele der griechischen Meister, die wir als Vorbilder verehren, waren von Natur aus weniger, als manches spätere Talent, dem wir nicht entfernt die gleiche Bedeutung beimessen: sie haben eben ungleich mehr aus sich gemacht.

Ich glaube, es beginnt Ihnen bereits deutlich zu werden, von wie großer Bedeutung für die Entwicklung des Einzelnen der Charakter des Zeitgeistes ist. Ich möchte Ihnen dasselbe Verhältnis jetzt von der entgegengesetzten Seite her beleuchten, und da wüßte ich keinen schrofferen Gegensatz zum griechischen Zeitgeiste, als den Geist unserer eigenen Zeit.

Während noch den klassischen Dichtern der deutschen Literatur ein unbefangener Blick auf das Leben und eine sachliche, objektive Beurteilung menschlicher Verhältnisse eigentümlich war, ist im Laufe des jüngst verflossenen Jahrhunderts ein Subjekt-Kultus zur Herrschaft gelangt, der in seinem extremen Ausdruck jede objektive Stellungnahme als kleinlich und verständnislos weit von sich weist. Es darf kaum mehr darnach gefragt werden, was einer kann, es dürfen die Fähigkeiten eines produktiven Menschen kaum mehr nüchtern analysiert und mit gewöhnlichen Namen bezeichnet werden: es kommt bloß darauf an, wer einer ist. Und ist einer ein Genie oder wird er dafür gehalten, so gilt jeder Versuch, sich über den Sinn und Wert dieses Geistes und seiner Gaben in klaren, jedermann verständlichen Worten Rechenschaft abzulegen, für eine Entweihung. Aus dem dunklen Worte der Genialität heraus soll jede Leistung gewürdigt werden; beim Genie sollen auch die Fehler und Unzulänglichkeiten ehrwürdig sein; unbefangen-sachlich zu prüfen ist unerlaubt, zu urteilen respektwidrig, Kritik Blasphemie. — Diese Zeitströmung leitet sich hauptsächlich vom Einfluss Richard Wagners und Friedrich Nietzsches her. Goethe, wahrhaftig ein großer Genius, lauschte aufmerksam den Erwägungen eines Müller und Meyer, verschloss sich keiner Kritik, suchte von jedermann zu lernen und wusste ein vernünftiges Wort zu schätzen, auch wo es von einem unbedeutenden Menschen ausging. Wagner war anderen Sinns: er legte den Hauptnachdruck auf die Kluft, die das Genie vom Normalmenschen scheidet; sein heißes Künstlerblut empfand den Unterschied als Gegensatz, als feindliche Spannung; sein Selbstgefühl schloss jede Gemeinschaft aus. Mit Nietzsche ward dann Wagners persönliche Stellungnahme zur unpersönlichen Weltanschauung, welche gar bald, freilich kläglich missdeutet und den kleinsten Verhältnissen angepasst, von der Jugend übernommen wurde.

Nun lässt sich gewiss nicht leugnen, dass ihr Absolutismus weder Wagner noch Nietzsche gehindert hat, Unsterbliches zu leisten; ebensowenig, dass die Gewohnheit der Selbstbeobachtung zumal in psychologischer Hinsicht zu sehr wertvollen, früher ungeahnten Entdeckungen geführt hat. Der vielgerühmte Reichtum der modernen Seele beruht gerade darauf, dass ihr vieles bewusst geworden ist, was ehedem unbewusst wirkte. Aber dass ein Zeitgeist, der dem bloßen Sein, unabhängig von allen Leistungen, absoluten Wert zuerkennt, ein Zeitgeist, der jedem nahelegt, sich für unvergleichlich zu halten, alle Kritik von Hause aus abzuweisen, sein Ich als Heiligtum anzubeten, die denkbar ungünstigste Atmosphäre für die Entwicklung eines werdenden Individuums bedeutet, das ist noch weniger zu bestreiten; das ist nur zu gewiss.

Stellen wir, in der Tat, die Grundlagen, von welchen das Bewusstsein eines griechischen Kunstjüngers ausging, der Grundstimmung eines heutigen jungen Talentes gegenüber. Dort legte dem Jüngling keine Zeitströmung Selbstbespiegelung nahe; dort durfte er laut und öffentlich an nichts anderes denken, als an festgegründete, unbestreitbare Meisterschaft. War er Bildhauer, so musste er vor allen Dingen die Formwelt des menschlichen Körpers und den Marmor souverän beherrschen, durfte technisch nirgends versagen; als Dichter hatte er seine Sprache und die Regeln des Versbaues innezuhaben und seinen Stoff so plastisch darzustellen, dass ihn jedermann verstehen musste; Dunkelheit wurde immer nur als mangelhafter Ausdruck, nie als Symptom für Gefühlstiefe aufgefasst. Als Denker musste er alleräußerste Klarheit anstreben, für jeden Begriff einstehen können. Offiziell wurde vom Künstler eigentlich nur Technik verlangt, das Genie verstand sich sozusagen von selbst. So kam das Subjekt als solches gar nicht in Frage, alles Streben war von vornherein und ausschließlich aufs Objekt gerichtet. — Wie wenig diese Disziplin dem nützen mag, den die Natur im Stiche ließ: der Begabte wird in solchem Geiste sicherlich am Weitesten kommen! Denken Sie nur an Goethe auch sein Streben war zeitlebens, wie er es oft betont hat, streng aufs Objekt gerichtet. Reflexion auf sich selbst im modernen Sinn hielt er für ungesund, für entwicklungshemmend. Wohl war er unausgesetzt mit sich beschäftigt, gewiss, aber immer nur vom objektiven Standpunkte aus, vom Standpunkte größtmöglicher Vervollkommnung. Er sah in seiner Natur ein ererbtes Gut, das es zu kultivieren, zu bewirtschaften, zu meliorieren galt, das er genau kennen musste, um es richtig aufzufassen — aber er sah in ihr stets nur ein Objekt, nicht das unvergleichliche Subjekt, das wir in Goethe verehren. Ihm mochte die Frage unwichtig scheinen, wie hoch sein Genie zu schätzen sei, wenigstens war mit ihrer Beantwortung für ihn selbst wenig gewonnen: ihm kam es ja nur aufs Fortschreiten an, und hierbei konnte ihn die genaueste Erkenntnis seines Werts nicht fördern. Goethe lag wahrlich nichts ferner als Selbstbespiegelung im modernen Sinn. Oder denken Sie an Bach, unter Deutschen vielleicht den echtesten Griechen: Bach strebte ursprünglich wohl nie danach, eine bestimmte Seelenstimmung auszudrücken, sondern einfach eine Fuge oder ein Präludium möglichst kunstgerecht zu komponieren. Und da seine Seele groß und stimmungsreich war, so floß ihr reicher Inhalt wie von selbst in die strengen Formen über, mit jener Kraft der Überzeugung, welche nur Unbewusstem und Unbeabsichtigtem innewohnt. Sie werden mir zugeben, dass die Musik Johann Sebastian Bachs, der bewusst nur auf äußere Meisterschaft sah, nicht gehaltsärmer ist, als die eines Richard Strauss, der krampfhaft seine Innenwelt aus sich herausstellt.

Nun im Gegensatz zur griechischen Auffassung des Künstlertums die moderne. Das vornehmste Streben des jungen Menschen von Talent geht nicht auf Meisterschaft, auf ein objektives Ziel: er sucht in erster Linie, in beharrlicher Selbstanalyse, über sein Ich Klarheit zu gewinnen; er will unter allen Umständen eine Individualität sein. Der Zweck ist ein edler: nur leider ist der eingeschlagene Weg weder der kürzeste, noch auch der sicherste. Jenes schöpferische Ich, nach welchem der Jüngling fahndet, erwacht nämlich für das Bewusstsein erst in späteren Jahren; es ist nicht zu zwingen, mit Gewalt nicht zu erjagen. Daher bedeutet vorzeitiges Spüren bloßen Zeitverlust. Ferner lässt sich das, was einer ist, objektiv und unzweideutig überhaupt nur an den Leistungen feststellen. Andere mögen am Blick, am Gebaren, an der Emanation einer Persönlichkeit ihren Charakter erkennen: für einen selbst gibt es nur das Kriterium der Leistung, denn auf das Selbstgefühl ist kein Verlass. So bedeutet der stete Rückblick auf sich selbst auch in dieser Hinsicht nur einen Umweg, eine Hemmung. Drittens bringt einen — ich sagte es schon — die bloße Kenntnis seiner Individualität als solche nicht vorwärts, sie kann sonach einem produktiven Menschen keinen Selbstzweck bedeuten.

Endlich gerät der, welcher immer nur sein Ich im Auge hat, leicht in Gefahr, in individuellen Eigentümlichkeiten seine Hauptbedeutung zu erblicken, während das schlechthin Individuelle in Wahrheit gerade das schlechthin Gleichgültige ist. Was für ein Interesse kann die Nachwelt daran haben, ob Herr X. sanguinisch oder cholerisch, glücklich oder unglücklich war, ob er dem Weltprozesse zustimmend oder ablehnend gegenüberstand? Solche Facta entbehren sogar bei einem Goethe oder Dante jedes unmittelbaren Interesses. Bring’ deine Eigenheiten so objektiv vollendet zum Ausdruck, dass dieser Ausdruck an Vollendung nicht übertroffen werden kann, so wird man deine Meisterschaft bewundern; versteh’ es, in den individuellen Zügen den Gehalt reinen, ewigen Menschentums zu verkörpern, und dir braucht vor dem Tod nicht zu bangen. In den Gestalten der großen Dichter weisen alle Eigentümlichkeiten und Zufälligkeiten auf die Wurzeln des Seins hin, und da erschüttert uns oft eine kleine, an sich vielleicht drollige Gebärde durch die Offenbarung der Tiefen des Lebens, die sie bedeutet. Denken Sie an die Figur der Natascha in Tolstois Krieg und Frieden. Hier ist das Individuum als solches überwunden; es ist zum Symbol und zum Ausdruck des Überindividuellen geworden: es verkörpert die Menschheitsidee.

An sich fehlt dem Individuum jedes höhere Interesse; für den Künstler kommt es ausschließlich als Material oder Ausdrucksmittel in Betracht. Heute aber sind nur zu viele der geistig Schaffenden anderer Ansicht; sie sehen ihre Hauptbedeutung in ihrem Individuum — also eben darin, was ohne tiefere Bedeutung ist; und das ist wohl der wichtigste Grund, weshalb ein gewichtiger Teil der zeitgenössischen Literatur vergänglichere Züge trägt, als die irgend einer früheren Epoche. Verstehen Sie mich recht: ich will nichts gegen die Persönlichkeiten unserer Zeit als solche sagen. Wohl fehlt es uns in beklagenswertem Maß an großen Menschen, aber wann wären solche dicht gesät gewesen? — Was ich behaupte ist das Folgende: die verfehlte Auffassung ihres Berufs, oder sagen wir besser, die verfehlte Selbsterziehung, die sie sich angedeihen lassen, hindert gar viele daran, sich selbst zu finden und ihr Bestes zu geben. Der Zeitgeist, in welchen der Jüngling hineingeboren wird und der ihn in den ersten kritischen Jahren naturgemäß ganz umfängt und durchdringt, versagt ihm die Möglichkeit vollendeter Ausgestaltung. Es ist mit dem Künstlerberuf wie mit jedem anderen: wer Großes erreichen will, der darf nicht sich selbst, der muss einzig die Sache im Auge haben; auch das Persönlichste kommt nur dort rein zum Ausdruck, wo das Bewusstsein nach außen gerichtet ist. Die tiefsten Quellen der Seele öffnen sich nur dem, welcher nicht auf sie lauert. Der Geist unserer Zeit legt aber gerade das Lauern nahe — und daher kommt es wohl, dass heute, wo jeder nach der Seele sucht, die Seele am Schwersten zu finden scheint. Denn Sie werden doch nicht behaupten wollen, unser tiefster Grund sei psychologisches Raffinement. Wären nun die Dichter und Denker unserer Zeit unter griechischen Voraussetzungen geboren, vom griechischen Zeitgeist erzogen worden — wie anderes würden sie da, bei ihrem unleugbaren Talent, bei der großen Differenziertheit ihres Gefühlslebens, zustandebringen! Wie viele der Hemmungen und verhängnisvollen Umwege blieben ihnen erspart! — Sie werden mir vielleicht einwerfen, der Geist unserer Zeit sei mit dem der Romantik wesenseins, und in den dreißiger Jahren des verflossenen Jahrhunderts sei doch manches Bedeutende entstanden. Gewiss; aber die Herren von der romantischen Schule, vergessen Sie das nicht, hatten einen Goethe zum Schrittmacher! Dieselben Männer, welche eine dem Altmeister von Weimar antipodisch entgegengesetzte Kunstrichtung vertraten, hatten gleichwohl als erste seine volle, überragende Bedeutung erkannt und verehrten in ihm ihr Vorbild und Bildungsideal. Besäßen die aufstrebenden Talente unserer Tage ein so hochragendes, unangefochtenes, allseitig anerkanntes Vorbild, ein Vorbild, das noch unter ihnen weilte und nicht in die wirkungslose Distanz der Klassizität gerückt wäre, ihr Subjekt-Kultus würde ihnen weit weniger schaden. Denn ein Mensch, an welchen man glaubt, zwingt einen, sein Wollen und Streben auf sein Niveau einzustellen, er gibt einem den objektiven Maßstab, an welchem man unbewusst seine Kräfte misst. Dieser Maßstab des Könnens war Goethe für die Romantiker von Jena, und so haben diese weit mehr aus sich gemacht, als ihre Weltanschauung es eigentlich verlangte. Wen aber haben wir heute? Die Jungen, von Natur zur Bewunderung gedrängt, verlangen stürmisch nach einem Ideal; es muss gleich, jetzt, hier zur Stelle sein. Wo es fehlt, da wird es flugs geschaffen; dies geschieht am Leichtesten durch Steigerung der Wirklichkeit. Auf diese Weise ward so manches dürftige Talent zum Halbgott aufgebauscht. Aber solche Überschätzung wird teuer bezahlt; man trifft im Leben selten höher, als wohin man zielt. Und wer im Mittelmaß je ein Ideal erblickte, wird niemals zum Helden erwachsen. Die subjektivistische Weltanschauung, die durch kein wahrhaft großes Vorbild ergänzt wird, so wie dies Goethe bei den Romantikern tat, drückt die Geister herab.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Individuum und Zeitgeist
© 1998- Schule des Rades
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