Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Germanische und romanische Kultur

Lebensmodalität

Dem Reisenden, der einem fremdstämmigen Volk zum erstenmal gegenübertritt, fällt es lange Zeit hindurch nicht leicht, ein Individuum von dem anderen zu unterscheiden. Zunächst scheint ein Neger wie der andere auszusehen, ein Chinese, ein Mandschu wie der andere. Der Grund hierzu ist der gleiche, der aus Geschwistern so häufig Feinde macht: bei weitgehender Übereinstimmung wird diese kaum mehr bemerkt, nur die Unterschiede treten ins Bewusstsein; wo jede Übereinstimmung fehlt, dort fällt nur das Typische auf. Bei uns wird gar viel geredet von den unüberbrückbaren Klüften, die in Europa ein Volk vom anderen trennen: dem Chinesen muss mühsam bewiesen werden, dass der britische und der italienische Menschenschlag überhaupt unterschieden sind. Die Differenzen, die der Fremdling verkennt, sind nun freilich vorhanden und wirksam: doch ist es mitunter höchst förderlich, das Vertraute als Fremdling zu betrachten. Die Grundzüge einer Erscheinung erkennt am Deutlichsten der, dem diese so auffallend dünken, dass das Besondere unwichtig erscheint.

So kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass der Nicht-Europäer mit seiner Behauptung recht hat, die europäische oder genauer die abendländische Kultur sei ein Ganzes von so einheitlichem Gepräge, dass die Unterschiede dem Gemeinsamen gegenüber kaum in Betracht kämen. Verglichen mit anderen Kulturen, der chinesischen, der arabischen, der indischen, wirkt die unsrige als vollendet homogen. Denn was bei so großzügigen Vergleichen auffällt, sind eben nicht spezielle Tatsachen, spezifische Ausdrucksformen, besondere Errungenschaften und Leistungen, es ist die ganze Art des Lebens, Denkens, Empfindens und Handelns. Diese sind absolut verschieden beim Europäer einerseits, beim Chinesen andererseits, sie sind identisch durch ganz Europa hindurch von Italien hinauf bis nach England. Um nur auf einen solchen unüberbrückbaren Unterschied zwischen Orient und Okzident hinzuweisen: das ganze Leben des modernen Westländers ist auf Entwicklung eingestellt, wo er nicht fortschreitet, dort geht es mit ihm zurück, nicht nur im Sinne geistiger Dekadenz, sondern am Ende sogar im Sinne physischer Degeneration. Das ursprüngliche Leben des Arabers kennt keine Entwicklung, es äußert sich in schöpferischem Stillstand — einem Stillstand, der keine Entartung nach sich zieht; und nur insofern es dergestalt dauert, vermag er sich auf der Höhe zu erhalten. In Indien scheint die Kaste mit ihren starren unabänderlichen Formen biologisch das Gleiche zu bedeuten, wie in Europa die fortschreitende Vervollkommnung, in China die allseitig respektierte Tradition dasselbe, wie bei uns die immer gärende soziale Frage. Wo der Orientale in unserem Sinne fortschreitet, dort geht es tatsächlich zurück mit ihm, denn die Kultur, die allein er selbsttätig hervorbringen kann, weil nur sie seinem Wesen gemäß ist, die gibt er damit auf. Ich kann diese höchst interessanten Verhältnisse heute nicht näher behandeln, aber schon diese kurze Andeutung dürfte Ihnen deutlich gemacht haben, wie gering die Unterschiede zwischen den Völkern Europas erscheinen müssen, sobald man sie im Großen überschaut und mit anderen Menschenarten vergleicht.

Dies beruht zutiefst auf Folgendem: der innerste Grund, der Quell einer Kultur liegt nicht im Blut, nicht in der Rasse, auch nicht in der geistigen Herkunft, sondern in einer, kausal betrachtet, zufällig entstandenen, historisch geurteilt, ahnenlosen Lebensmodalität, die das eigentliche A priori jeder Kulturgestaltung darstellt. Sie ist ahnenlos genau im gleichen Sinn, wie dies letztlich von jeder neugeborenen Menschenseele gilt, mag deren Träger im Übrigen noch so vielen Traditionsreihen angehören. Diese Lebensmodalität oder Erlebens-, Schaffensform ist irgend einmal da; wann genau sie jeweilig auftrat, ist kaum zu bestimmen. Besteht sie aber, dann erweisen sich Rasse, Aszendenz, Tradition ihr gegenüber als Akzidentien oder Elemente. Es gibt immer ein Oberhalb des kausal oder empirisch Bestimmbaren, und charakteristischerweise liegt dieses Oberhalb, im Bereich möglicher kultureller Betrachtung, auf dem das Erlebnis nur in Funktion seiner Übertragbarkeit Bedeutsamkeit besitzt, nicht in der Tiefe des schlechthin einmaligen persönlichen Bewusstseins, sondern auf der Ebene eines allgemeineren Erlebnis-Typus, der alle Sondergestalten als Teilformen in sich begreift. Die physische und sogar geistige Kontinuität des Menschenlebens, mit den durch sie bedingten besonderen Vererbungstatsachen, kommt daher für das eigentliche Kulturproblem nicht in Betracht: Kulturen, Völker, soziologische Typen entstehen und vergehen, ob auch die biologische Grundlage durchaus die gleiche blieb und der Faden geistiger Überlieferung niemals abriss. In diesem Sinn sind alle Europäer tatsächlich in erster Linie Abendländer, und insofern einander gleich; die Grundidentität aller, die der Fremdling als erstes erkennt, gegenüber den bluts- und traditionsbedingten Unterschieden, besteht daher im allertiefsten Verstand, gleichwie umgekehrt Europäer, Inder, Chinesen, trotz aller Ähnlichkeit, in erster Linie voneinander verschieden sind. — Sehen wir für jetzt von den Zivilisationen, die uns ganz fernstehen, ab; suchen wir indessen, indem wir gebührend zurücktreten, der europäischen gegenüber einen ebenso hochragenden Standpunkt einzunehmen, wie es derjenige ist, der Europa, Indien und China als unteilbare Kultureinheiten erscheinen ließ: was gewahren wir da? — Die Unterschiede von Nation zu Nation, die in nächster Nähe handgreiflich scheinen, verschwimmen in Nebel und Dunst. Es hält schwer, Italien gegen Frankreich, den Deutschen gegen den Engländer deutlich abzugrenzen. Aber wenn geringe Differenzen sich auflösen, treten wesentliche desto schärfer hervor. Wir gewahren, dass sämtliche moderneuropäische Einzelkulturen, die schon zur vollen Entfaltung gelangt sind, sich in eine von zwei Familien einordnen lassen, die als solche letzte Einheiten bedeuten: die germanische und die romanische Kultur.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Germanische und romanische Kultur
© 1998- Schule des Rades
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