Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen

Realisierung spiritueller Wahrheiten

Es ist eine Tatsache, die keinem vorurteilslosen Betrachter verborgen bleibt, dass die Zahl wirklich bedeutsamer Kulturformen auf Erden eine eng begrenzte ist. Die Deutung derselben dahin, dass es sich hierbei um keinen zufälligen Umstand, sondern ein wohlbegründetes Verhältnis handelt, ist schwer abzuweisen. Denn mögen noch so viele äußere Entscheidungen durch rohe Gewalt herbeigeführt worden sein — zu tiefer greifenden sind diese immer nur dann geworden, wenn zur äußerlich-zufälligen Überlegenheit des Siegers eine wesentliche trat. So haben die Tataren und Mandschus in China, die Mongolen in Indien, die Araber in Persien nur als Herrschertypen Bedeutung behalten und sich im Übrigen den Besiegten assimiliert. Ähnliches galt von den Germanenstämmen in Westeuropa, und sogar von den Römern überall dort, wo diese mit dem Griechengeist in Wettstreit traten. Völkerausrottungen im buchstäblichen Verstand haben nirgends je stattgefunden. Ist eine Kultur erbelos ausgestorben, wie solches überhaupt nur, soweit mein Wissen reicht, von denen Amerikas gilt, so hat dies immer zugleich den inneren Grund gehabt, dass es ihr an zeugender oder werbender Kraft gebrach. Diese letztere nun hat sich in den verschiedenen Fällen als so ungeheuer ungleich erwiesen, dass man nicht umhin kann, auch diesem Verhältnis Notwendigkeit zuzuerkennen. Schlechthin universelle Bedeutung hat auf Erden unter anschaulichen Formensprachen nur die griechische gewonnen; von Europa bis Japan liegt deren Urform der meisten Bildnerei zugrunde. Beschränkter sind die Einflussgebiete der ägyptischen, chinesischen, gothischen geblieben. Alle übrigen stehen an Bedeutsamkeit hinter diesen weit zurück. Die Urform des meisten echt-metaphysischen Denkens ist in Indien zu suchen. Das religiöse Erleben hat in Ägypten einen vielfach so endgültigen Ausdruck gefunden, dass dieser, kaum verändert, auf christlichem sowohl als japanisch-buddhistischem Kulturgebiete herrscht. Die überzeugendsten Ausdrucksformen für die Seele des modernen Westens (soweit sich dies heute schon beurteilen lässt) hat Frankreich geschaffen, soweit es sich um Kultur handelt, und England, soweit um Zivilisation. Ich kann hier nur andeuten, erhebe Anspruch weder auf Vollständigkeit des Angeführten, noch auf unbedingte Glücklichkeit der jeweilig getroffenen Wahl. Mögen Kulturhistoriker mich in noch so vielen Einzelfällen berichtigen können — die Urtatsache, auf deren Feststellung es mir ankam, und deren erste Bewertung dahin, dass jene notwendigen, nicht zufälligen Charakter trägt, besteht zu Recht.

Was mag nun die geringe Zahl der bedeutsam gewordenen Kulturformen in tieferem Verstand bedeuten? — Den letzten morphologischen Grund ihrer, wie er mir wahrscheinlich scheint, will ich hier nur kurz berühren, weil ich ihn nachzuweisen außerstande bin: offenbar hat die Zahl auf dem Gebiet der Kulturgestaltungen eine gleiche Bedeutung, wie auf dem der Natur. Im Fall der Kristallformen und der chemischen Elemente lässt sich unmittelbar beweisen, dass nur bestimmte nicht allein faktisch vorkommen, sondern überhaupt theoretisch möglich sind, und dieser Umstand findet eine höchst merkwürdige, echt pythagoräische Spiegelung in der Musik1. Aber auch im Fall der lebendigen Organisationstypen, deren Zahl gleichfalls begrenzt ist, handelt es sich sicher, so unmöglich dessen Nachweis zunächst sei, nicht allein um faktische, sondern um notwendige Grenzen.

Nicht anders nun liegen die Dinge offenbar auch auf dem Gebiet der Kulturgestaltungen, so dass Leibniz’ Idee, diese Welt sei die bestmögliche von allen, morphologisch wahrscheinlich durchaus zu Recht besteht. Doch wie gesagt, hierbei will ich nicht verweilen. Ich möchte den Umkreis dieser Betrachtungen auf solche Gebiete einschränken, auf denen mehr als wahrscheinliche Einsichten zu erlangen sind, und lasse daher die Frage der geringen Zahl möglicher Kulturformen außer Spiel, mein Augenmerk ausschließlich auf die der bedeutsam gewordenen richtend. Da geht denn die unbestreitbare Formenarmut zweifelsohne zunächst einmal auf die ungeheure, schwer zu überschätzende Erfindungsarmut des Menschengeistes zurück. Man lasse sich durch den Umstand, dass im Rahmen gleicher Formensprachen vielleicht unendlich viele einzige Erlebnisse und Gehaltsausdrücke möglich sind, nicht beirren, überschätze vor allem nicht die morphologische Einzigkeit der Individualität: diese ist im Bereich der heutigen Fragestellung allezeit geringfügig im Vergleich mit dem, was die Individualität mit ihren Typusgenossen gemein hat; und was die Einzigkeit des Erlebnisses betrifft, so kommt diese im gegebenen Zusammenhang nicht in Betracht, denn sie beruht auf einem Jenseits des Ausdrucks.

Auch überschätze man die Bedeutung der Dialekte und Sonderformen nicht, unterscheide ferner wohl zwischen dem, was wirklich Form ist, und dem, was nur ein Stammeln bedeutet. Vieles von dem, was als Form gilt, ist in Wahrheit Unform. Tatsache ist und bleibt, dass der Menschheit auf dem Gebiet der Formen, von Adam bis heute, unglaublich wenig eingefallen ist. Dieser Umstand spiegelt im Großen den allbekannten, dass nur seltene Ausnahmemenschen sich überhaupt auszudrücken wissen. Für die allermeisten ist wesentlich, dass kein Gott ihnen gab, zu sagen, was sie leiden oder denken. Daher denn die Menschheitsbedeutung des großen Geistes, die sonst schwer einzusehen wäre: dieser drückt eben aus, fasst in Form, was alle vielleicht dunkel fühlen, ahnen oder wünschen, und damit erst tritt das Leben aus dem Reich der Möglichkeit in das der Wirklichkeit. Nun vermögen aber die Meisten andererseits eine vorgegebene, vorgezeigte Form zu verstehen, im Sinn eines so meine ich’s eigentlich. Daher wiederholt sich das Wirklichwerden des Möglichen, das zunächst seltene Einzelerfindung ist, im Großen so, dass die vorgegebene Form den Gehalt, den Inhalt bei der Mehrzahl entstehen lässt. Diese erfindet nun gleichsam von außen nach innen zu. Hier nun halten wir gleich zwei tiefere Ursachen der geringen Zahl vorhandener Kulturformen: erstens sind Erfinder außerordentlich selten, zweitens schafft bei den Meisten die vorhandene Ausdrucksform allererst das innere Erlebnis. Von hier aus versteht man ganz die primäre Bedeutung des allgemeinen Geistes eines Volks oder einer Zeit: bei den Meisten wird das und das allein innerlich lebendig, was in der sie umgebenden Formenwelt an Gehalt enthalten ist. Daher das unbedingte A priori des Geistes einer Sprache, einer Religion oder philosophischen Tradition gegenüber den allermeisten Einzelerlebnissen; daher umgekehrt der Umstand, dass auch das größte Original sich, zunächst wenigstens, in der vorgefundenen Formensprache ausdrückt, deren eigener Geist meist weit über die Hälfte des von jenem Erfundenen mitbestimmt.

Der Christ empfindet religiös zunächst christlich, katholisch, griechisch, gotisch und so fort — dann erst als Individuum. Daher die Schwierigkeit, außer im Fall souveräner Genialität beim Schöpfer, oder extremer Anempfindungskraft beim Beschauer, das Formal-Originale bei einem Werk überhaupt zu sehen. Der Umstand nun, dass die vorhandene Form erst den Gehalt ins Leben ruft, genügt für sich allein schon beinahe, um die geringe Anzahl herrschender Kulturformen zu erklären: jede von ihnen hat expansive Tendenz und erobert immer weitere Gebiete eben deshalb, weil ihr Dasein erst die Meisten innerlich lebendig macht und die Meisten doch lebendig sein wollen. Berücksichtigt man nun noch die weitere Tatsache, dass es von jeher nur ausnahmsweise unter den Individuen Erfinder und Schöpfer gab, und dass originale, d. h. formschaffende Kulturvölker von jeher selten waren, so gelangt man, fern davon, sich über die Formenarmut der Kulturwelt zu verwundern, eher zum Staunen darüber, dass diese nicht noch viel größer ist; und muss, noch so bedauernd, dem geistvollen Tarde in der Prognose beistimmen, dass die Welt immer einförmiger werden wird. Es gibt eben wirklich außerordentlich wenige Urformen, auf die alle Kulturgestaltungen zurückgehen, die abgeleiteten liegen untereinander in ständigem Kampf; dieser führt seinerseits zum Ausgleich, und da, je mehr Menschen mitsprechen, desto weniger das Einzigartige wertbetont erscheint, desto weniger Formen als einflussreich in Frage kommen — denn nur auf Weniges hin gelingt allgemeine Verständigung —, so kann man mit Sicherheit voraussagen, dass das Einzige und Seltene soziologisch immer weniger bedeuten wird. Immer geringer wird die Zahl der Ausdrucksformen werden, die für das Gehalterlebnis im Großen in Frage kommt.

Jetzt aber gelangen wir zum eigentlichen Problem: dass diese oder jene Sprache siegt, ist kein bloß mechanisches Ergebnis materiellen Übergewichts, es bedeutet etwas. Siegeszüge haben in der Welt immer nur solche Gestalten gehalten, denen objektives Urteil wenigstens teilweise Überlegenheit zuerkennen muss. — Zur Lösung dieses Problems erscheint es zweckmäßig, bei der Einzigkeit jedes Erlebnisses nicht allein, sondern auch dessen anzuknüpfen, was jede besondere Sprache auszudrücken vermag. Keine Sprache ist wirklich übersetzbar; jeder Begriffe und Worte weichen wenigstens in Nuancen von denen anderer ab; eine wirklich universelle Weltsprache kann es nicht geben. Ferner ist jede individuelle Schöpfung ihrerseits, ihrem intimsten Sinn nach, einzig in ihrer Art. Hieraus sollte folgen, dass jedem Geist schlechthin seine Sprache das einzig gemäße Ausdrucksmittel wäre, welche Forderung durch den Hinweis auf die Erfindungsarmut des Menschengeists wohl als faktisch unerfüllbar erwiesen, nicht aber prinzipiell erledigt würde. Tatsächlich gibt es ja von Hause aus viel mehr Sprachen, viel mehr Lebenstypen, als im Laufe der Geschichte bestehen bleiben, und wenn heute gewisse, gegenüber der fortschreitenden Nivellierung reaktionär empfindende Kreise wieder auf die Einzigkeit den Hauptnachdruck legen, so darf man sich nicht wundern, wenn im äußersten Fall der Dadaismus sich selbst als Kulturnotwendigkeit einzuführen strebt. Weshalb nun hat dieser doch keine kulturelle Zukunft? — Mit der Beantwortung dieser besonderen Frage ist zugleich die Antwort auf die allgemeine nach der Bedeutung der Überlegenheit dieser über jene Kulturform gegeben: der Dadaismus hat keinen Übertragbarkeitswert. Die kulturellen Ausdrucksformen beziehen ihren Wert nicht nur daher, welches Erlebnis oder Lebensmoment sie zum Ausdruck bringen — in der unverständlichsten, unvollkommensten Sprache lässt sich Tiefstes sagen —, sondern vor allem daher, inwiefern das Lebendige durch sie übertragbar wird. Da gibt es nun ungeheure Unterschiede.

Unter Geistern einer gleichen Kulturwelt beruhen sie auf dem, was man Klarheit heißt — wer ein Problem klar zu fassen, zu formulieren, wer seine Lösungen deutlich auszusprechen weiß, der macht es gemeinverständlich —, und dies ganz unabhängig davon, wie viele ihn im Augenblick verstehen; die Erkenntnis wird durch ihn auf alle Verständnisfähigen unmittelbar übertragbar. Sie wird es aber dadurch, dass die gefundene klare Fassung eine notwendige Beziehung herstellt zwischen dem abstrakt gefassten Problem und den Bedingungen menschlichen Erkennens überhaupt. Hier sind offenbar, wenigstens auf dem Gebiet der Erkenntnis, aber wahrscheinlich auch dem des Gefühlsausdrucks, wie solches größte Dichter beweisen, endgültige, abschließende Fassungen denkbar, das heißt solche, die an Übertragbarkeitswert nicht übertroffen werden können. — Analog scheinen nun die Dinge auf dem Gebiet des wechselseitigen Werts der Ausdrucksmittel überhaupt zu liegen. Die verschiedenen Formensprachen stehen in verschiedener Beziehung zum Tiefsten der allgemeinen Menschennatur, wie diese aller Sondergestalt zugrunde liegt, weshalb ihnen ein verschiedener Grad von Übertragbarkeit in verschiedenen Hinsichten eignet. Anders gefasst: das Einzige, was jede Sprache ist und aussprechen kann, scheint in verschiedenem Grad zur Erweckung eines allgemein-menschlichen Erlebnisses geschickt. Betrachten wir einige Beispiele: keine anschauliche Form hat so viel werbende Kraft bewiesen wie die hellenische. Dies liegt wohl daran, dass ihre platonische Idee, wenn ich mich so ausdrücken darf, unmittelbar, beinahe ohne Sonderausgestaltung, jene euklidische Welt, in deren Rahmen wir sinnlich erfahren, künstlerisch verwertet. Daher wurde sie unwillkürlich auch von den Ostasiaten übernommen, so anders deren Lebensmodalität sonst ist, während die ägyptische Formenwelt, in ihrer Art ebenso vollkommen und mathematisch nicht unübersichtlicher, im Ganzen doch ein Spezifischeres darstellt, als die hellenische, und daher nicht ebenso allgemein überzeugend wirkt. Die indische Mentalität scheint zur Beobachtung und Fassung psychischer Tatsachen sowie zur Realisierung spiritueller Wahrheiten einzig geeignet. Nirgends sonst sind die Ausdrucksmittel diesem Gehalt von vornherein so angepasst; die Überzeugungskraft indischer Fassungen seiner wirkt leicht unheimlich insofern, weil sie nicht, wie die griechische Formenwelt, auf eine allgemein-menschliche Mathematik zurückzuführen ist, sondern die intuitive Erfassbarkeit einer fremden Sprache erweist, die einen bestimmten Gehalt allein adäquat zum Ausdruck bringt, welche Tatsache zur Folgerung zwingt, dass die spezifisch indischen Worte und Begriffe für psychische Wirklichkeit, vom allgemein-Menschlichen her beurteilt, die objektiv besten sein müssen. Deshalb sind sie in alle geistigen Welten eingedrungen; deshalb geht alle psychisch-spirituelle Realisierung mehr oder minder auf Übertragung des Inder-Geistes nicht allein, sondern auch seiner besonderen Ausdrucksformen zurück.

Ein ähnliches Spezificum scheint der chaldäische Geist in bezug auf die Zahlenwelt zu bedeuten, der deutsche in bezug auf die Musik. Sonst sind die allgemeinmenschlich-evidentesten und daher übertragbarsten Ausdrucksformen des abendländischen Geistes, wie schon bemerkt, in kultureller Hinsicht von Frankreich und in zivilisatorischer von England erschaffen worden. Die Luzidität der französischen Sprache, die Durchbildung des französischen Geistes bis zu objektivierter, unvermeidlicher Anmut setzen das Spezifisch-Westländische, wie keine andere Formenwelt Europas, in unmittelbare Beziehung zur allgemeinen Menschennatur, weshalb europäische Kultur nur in französischer Fassung unmittelbar überzeugt. Daher galt das Französische bis vor Kurzem mit tiefstem Recht als bestes allgemeines Verständigungsmittel, während der englische Geist eine Reduktion der europäischen Art auf das praktisch und geschäftlich Einleuchtende vollzogen hat und immer mehr vollzieht, die ihn unabwendbar zur Vorherrschaft vorherbestimmt, solange es ein vom Westen her bedingtes Geschäftsleben großen Stiles geben wird. Das Besondere jeder Sprache ist also prinzipiell das bestmögliche Übertragungsmittel einer bestimmten Seite des Erlebens, genau im gleichen Verstand, wie der klare Geist dem dunklen absolut überlegen ist — so schwer dies Verhältnis zu bestimmen, so unmöglich es weiter zu erklären sei. Es ist nicht zufällig, sondern notwendig und sinnvoll, dass aus dem Dschungel der ursprünglich vorhandenen Ausdrucksformen bestimmte immer mehr eine Vorzugsstellung erobern. Sie sind nicht gleichwertig hinsichtlich der Übertragbarkeit, und bei der Betrachtung und Beurteilung von Kulturformen darf diese nie, gegenüber dem Einzigkeitswert der Einzelgestalt, übersehen werden. Selbstverständlich ist hieraus nicht die Konsequenz zu ziehen — die das Leben leider ohnehin schon zieht —, dass die schwerer übertragbaren Kulturformen vor den übertragbareren die Waffen strecken sollen: im Gegenteil, sie alle sollen kämpfen bis zum Schluss. Nicht mannigfaltig genug kann die Welt der Gestaltungen sein, denn jede Form bringt doch Einziges allein zum Ausdruck, und ohnehin ist die Erfindungsarmut der Menschheit groß genug. Aber es gilt zu verstehen, dass der größere Erfolg einer Gestalt gegenüber der anderen nicht ohne innere Berechtigung ist, und aus dieser Erkenntnis die Anregung zu entnehmen, der Form, die man liebt, möglichst große Siegeschancen zu gewinnen. Dies geschieht, in Analogie mit dem, dass die klare Fassung einer Wahrheit einer dunklen absolut überlegen ist, durch möglichste Durchbildung, Sublimierung und insofern Universalisierung der spezifischen Form.

Betrachten wir hieraufhin, zum Schluss, den deutschen Geist. Dieser gehört nicht zu den im hohen Maße übertragbaren, mit Ausnahme der Musik und, in geringerem Grad, der Philosophie. Er ist der unzugänglichsten einer, seinen Formen fehlte es an Evidenz, wohl hauptsächlich deshalb, weil er überhaupt kein wesentlich formschaffender ist, und es liegt in seiner Natur, schwerer vielleicht als irgendein anderer zu seiner möglichen Abklärung zu gelangen. Daher kann die deutsche Sprache keine Weltsprache sein, gehört der deutsche Geist nicht zu den Formen des Europäergeistes, die als typische oder vorbildliche Verkörperungen seiner dem Fremden auffallen. Deshalb war es nicht bloß praktisch irrtümlich, im deutschen Volk ein Weltvolk im expansiven Sinn zu sehen. Aber dieses alles ist auch nicht nötig; die offensichtliche Fernwirkung einer Form entscheidet nicht allein über ihren Wert. Auch die indische wirkt nur auf beschränktem Gebiet, und was Tiefes betrifft, kann schwer weite Oberflächen ergreifen. Im Fall des deutschen Geistes nun ist es überhaupt ein Missverständnis, Fernwirkung zu erwarten: auf Erleben, Erlebnis vor allem eingestellt, postuliert er eben damit seine Abgeschlossenheit, denn erleben kann jeder nur für sich, sein unmittelbar persönliches Erleben nur dem verständlich machen, der ähnlich fühlt. Nur soll man bei dieser Einsicht nicht stehenbleiben, sondern aus der Tatsache, dass zwischen einziger Ausdrucksform und allgemeingültigem, universellem Gehalt eine mögliche Wesensbeziehung besteht, die praktische Folgerung ziehen, alles daran zu setzen, auf dass das Äußere möglichst unmittelbar und ganz das Wesen spiegle. Mehr als jeder andere Mensch muss der Deutsche danach streben, Form zu werden, sich abzuklären, zu sublimieren; denn da seiner angeborenen Sprache die Evidenz so sehr fehlt, dass es ihm nicht leicht wird, sich selber klarzuwerden, so muss bei ihm bewusstes Wollen desto mehr in die Schranken treten, denn das Postulat, den letztmöglichen Ausdruck zu finden, besteht auch für den, dessen Möglichkeiten nicht weit in die Ferne reichen. Früher kann er sich ja selbst nicht verstehen. Der deutsche Geist ist das Schulbeispiel der Korrelation von Einzigkeit und Universalität. Obschon spezifisch wie kein anderer und wohl zum Teil deshalb, weil ihm äußere Spannweite die innere nicht ersetzen kann, bedeutet er das vornehmste europäische Gefäß des Weltbürgertums. Aber dieses Gefäß ist einer viel größeren und besseren Durchbildung fähig, als es bisher besitzt, was sich eben darin erweist, wie selten sich die Deutschen selbst verstehen. Nicht einmal für sich selbst haben sie ihre Formensprache evident zu machen gewusst, wie dies die griechische und französische für alle ist. Hier gibt es daher noch sehr viel zu tun.

Wird hier aber einmal wirkliche Vollendung erreicht, dann wird auch die Übertragbarkeit zunehmen, und damit die Kulturbedeutung des deutschen Geistes in der weiten Welt. Wie fern die Meisten in Deutschland vom Verständnis dessen sind, was in diesem Zusammenhange not tut, beweist ihre psychologische Stellung zur instinktiv geforderten Expansion. Sind sie Nationalisten, so vergöttern sie die empirische Form an sich, und wollen womöglich das Weltall eindeutschen. Sind sie Idealisten oder Universalisten, dann sind sie meistens anational oder antinational, ja aktuell ausgedrückt, ententistisch gesinnt. Beide Stellungnahmen bedeuten Gleiches. Der absolute Wert wird in Funktion seiner Übertragbarkeit gesetzt. Nur wollen jene die Übertragung, von der sie instinktiv fühlen, dass sie von selbst nicht gelingt, durch Gewalt erzwingen, während diese, bescheidener, ihren Geist einem anerkannt übertragbareren unterordnen wollen. Wenn Deutschlands absolute Idealisten unwillkürlich immer entweder für die Antike schwärmen oder für Frankreich, so bedeutet dies eben dies: sie wissen, dass dem deutschen Geist zunächst nur ein geringer Übertragbarkeitswert innewohnt, und verleugnen daher dieses Empirische. Es gibt aber eine bessere, ja eine einzig richtige Stellungnahme: den Übertragbarkeitswert des deutschen Geistes zu steigern, indem man ihn im Rahmen seiner Eigenart abklärt und sublimiert. Geschieht dies, und es kann geschehen, so mag der deutsche Geist in Zukunft noch eine sehr große werbende Kraft erringen, wenigstens auf den Gebieten, die seine eigenste Heimat sind. Gerade deshalb, weil er nicht ins Weite wirkt, wie der englische, mag er zum letzten abendländischen Hort des Qualitätsbewusstseins werden.

1 Vgl. die Arbeiten Victor Goldschmidts, vor allem seine Schrift Harmonie und Komplikation (Berlin 1901, J. Springer).
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen
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