Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Vom Interesse der Geschichte

Neubegier

Wahres, echtes, geistiges und insofern einzig menschenwürdiges Interesse beginnt genau an dem Punkt, wo die Neugierde aufhört. Wohl lebt wahrscheinlich kein Mensch, dem Neubegier vollständig abginge. Aber diese Tatsache beweist nur aufs Neue, was jeder von uns schon weiß, dass es keine vollkommenen Menschen gibt. Der Trieb zur Erkenntnis, der sich in Form der Neugierde äußert, ist ein niederer Trieb im vollen Sinne des Wortes, und zwar deswegen, weil ihm sowohl ein sachlicher Vordergrund als ein seelischer Hintergrund fehlt. Weder strebt er nach dem Begriff objektiver Zusammenhänge, noch auch nach der Offenbarung des inneren Erlebnisses — er erschöpft sich in der Sucht an sich, etwas Neues gesehen zu haben, ohne dass dieses Neue auch nur irgend etwas zu bedeuten brauchte. Darin aber besteht das Tierische im Gegensatze zum Menschlichen, dass dort die Lebensäußerung keinem geistigen Zusammenhang angehört und folglich niemals mehr ist, als ihr nackter Tatbestand, während sie hier, an sich selbst mit der tierischen oft identisch, Wirklichkeiten bedeuten und zum Ausdruck bringen kann, die unermeßlich viel größer sind als sie. Die Neugierde ist ein niederer Trieb, weil seine Befriedigung das ganze Erlebnis abschließt, weil dieses Erleben gar keins ist; was sich hier abspielt, lässt Geist und Seele unberührt.

Wenden Sie mir nicht ein, gar viele der im höchsten Sinn erkenntnisdurstigen Menschen seien ohne Zweifel in erheblichem Grade neugierig gewesen, und diese Eigenschaft sei ihnen sogar zustatten gekommen: es ist dies die Wundergabe des Geistes, dass er sich jeden, auch den bedenklichsten Umstand zunutze zu machen weiß. Begegnen Sie mir nicht mit der vielleicht richtigen Theorie, dass aller Wissensdrang ursprünglich aus Neubegier hervorgegangen sei: die Entscheidung der Frage nach dem Ursprung beantwortet weder die nach dem Sinn, noch auch die nach dem Wert. Wenn die Ursprünge zu entscheiden hätten, dann könnte überhaupt kein Unterschied bestehen zwischen Mensch und Tier, zwischen blinder Notwendigkeit und bewusster Vernunft, zwischen Barbarei und Kultur, zwischen brutaler Sinnlichkeit und den sublimen Stimmungen einer tiefen seelischen Liebe — denn überall ist wohl das Hohe aus dem Niederen hervorgegangen. Es beruht aber unser ganzes Menschsein eben darauf, dass wir solche Unterschiede anerkennen. Nein, der Erkenntnistrieb, dessen Wesen Neugierde ist, hat gar keinen Wert. Dies bezieht sich auch auf eine vielverbreitete Form des historischen Interesses, und um derentwillen habe ich diese Betrachtung über die Neugierde vor Ihnen angestellt: das Interesse an der Vergangenheit, das aus Sucht nach Abwechslung entspringt, das ein Gaffen durch die Zeit bedeutet, ist nicht ehrwürdiger als das Gaffen auf die Gasse. Wen keine tieferen Motive beseelen, wenn er das, was nicht mehr ist, ins Leben zurückzurufen strebt, für den wäre es besser, er bliebe ein Ignorant, gleichwie die meisten Gaffer interessanter wären, wenn sie nie auf die Straße hinausgeblickt und nichts gesehen hätten: denn dann wäre ihnen doch nicht alle Möglichkeit abgeschnitten worden, zu einem inneren Erlebnis zu gelangen.

Das ganze Interesse an den Tatsachen als solchen gehört ins Gebiet der Neubegier; auch dort, wo es in der schwersten Gelehrtenrüstung auftritt. Es ist an und für sich vollkommen gleichgültig, ob jene Schlacht am 3. oder 4. April geschlagen ward, ob Wilhelm Tell existiert hat, ob irgendeine noch so hochgestellte, längst verstorbene Person aufrichtig gewesen ist oder nicht. Die Tatsachen erhalten Sinn, Bedeutung und Interesse einzig und allein durch die Zusammenhänge geistiger Art, welchen sie eingeordnet werden. Treibe ich Geschichte, um Geheimnisse zu erfahren, ist mein Ziel erreicht, wenn der Kitzel ungestillter Kuriosität aufgehört hat, dann ist kein Wort über mich zu verlieren: ich bin ein Gaffer und weiter nichts. Tue ich’s hingegen, um gewesene Wirklichkeit in der Dichtung neu zu schaffen, um Geist und Seele zu erweitern, um im Miterleben großen Geschehens von mir freizukommen, um in der Anschauung des Allgemeinen das kleinlich Besondere einzuschmelzen, tue ich’s, um mich zu bilden, aufzuklären, um das Leben in seiner Ganzheit zu verstehen, dann hat mein Interesse Wert. Dieser Wertunterschied beruht aber augenscheinlich nicht auf den Tatsachen als solchen, welche in beiden Fällen die gleichen sein mögen, sondern auf den geistigen Zusammenhängen, die sie einfassen und tragen.

Es gibt offenbar unendlich viel Möglichkeiten, dem historisch Tatsächlichen und als solchen zunächst Gleichgültigen Bedeutsamkeit zu verleihen. Die Gegenwart im strikten Wortsinn ist eine hohle Abstraktion, was geschieht, verläuft notwendig in der Zeit: daher ist es unmöglich, einen Menschen auch nur zu denken, der keine lebendige Beziehung zur Vergangenheit hätte, oder umgekehrt eine lebendige Beziehung zu konstruieren, die nicht Vergangenes mit einschlösse; jedes Erlebnis umfasst notwendig Verfließendes und Verflossenes zugleich. Allein in den meisten der Fälle bietet die Geschichte doch nur das Rohmaterial zu Zusammenhängen, welche das Individuum mehr oder weniger willkürlich schafft, und das geistige Interesse, das sich an diese knüpft, betrifft daher nicht das Historische als solches. Wer die Vergangenheit studiert, um sie dichterisch wiederzugebären, um im Erlebnis des Überindividuellen sein eigenes Leben zu steigern, um von einer merkwürdigen Episode ein deutliches Bild zu gewinnen, um ein Problem der Menschheitsentwicklung zu lösen, um seine psychologische Erfahrung zu bereichern; kurz, beinahe jeder, der Geschichte treibt, interessiert sich — und sei er Historiker von Beruf — nicht unmittelbar, sondern mittelbar für sie. Denn schließlich, der Dichter kann seinen Stoff auch der Zukunft vorwegnehmen, mein Ich erweitere ich gerade so gut durch Miterleben der umfassendsten Gegenwart, ein ungewöhnliches Ereignis gegebener Art könnte auch heute stattfinden (sein Ort in der Vergangenheit gehört nicht zu seinem Wesen), psychologische und biologische Probleme bedürfen der Geschichte als solcher, d. h. als eines bestimmtgearteten Prozesses von bestimmter Zeitlage und Dauer, nicht, um befriedigend gelöst zu werden. Ein mittelbares Interesse ist aber kein eigentliches Interesse, und wenn die Geschichte nur in diesem Sinn bedeutsam wäre, dann müsste ihr selbständige geistige Bedeutung abgesprochen werden, und ich, der ich kein Historiker bin und mich für kein einziges historisches Faktum im Besonderen interessiere, hätte Ihnen gar nichts zu sagen. Aber die Geschichte besitzt unmittelbares Interesse, und von diesem will ich heute versuchen zu Ihnen zu reden: die Geschichte kann nicht allein in geistige Zusammenhänge hineinbezogen werden, sie stellt selber einen solchen dar.

Freilich — und ich möchte fast hinzufügen: leider nicht in dem Sinn, der dem Verstand am Nächsten liegt und am Willkommensten wäre: dem Sinn eines gesetzmäßigen Konnex gleich dem, der sich im Naturverlaufe offenbart. Wohl lässt sich innerhalb alles geschichtlichen Werdens eine Wiederholung wenn nicht des Gleichen, so doch des Ähnlichen feststellen, auf Grund welcher allgemeine Sätze und Regeln formuliert werden dürfen. Das Verhalten der Individuen sowohl als das der Massen erscheint, sobald es im Großen betrachtet wird, überaus gleichmäßig, so dass ein erheblicher Teil politischer Begebenheiten mit Sicherheit vorauszuberechnen ist. Kein Wunder: den Grundtendenzen nach sind sich die Menschen alle gleich, nur in deren Bestimmung oder Bestimmtheit unterscheiden sie sich voneinander; diese Grundtendenzen aber sind es, die das Endergebnis alles Wollens und Treibens bedingen. Wohl mag der gewandteste Psycholog in besonderer, individualisierter Situation von einem Gänschen besiegt werden — es gibt mehr Möglichkeiten der Vorstellungsverknüpfung, als der reichste Geist auf einmal zu übersehen vermag: es sind gleichwohl die gleichen Künste gewesen, die Donna Elvira und Zerline verführt haben. Im Großen und Letzten will ein Goethe nichts anderes als ein Sancho Pansa, handelt eine Nonne nicht anders als Ninon de Lenclos; wo es mit den Resultanten des Seelenlebens zu rechnen gilt, ist oft ein beschränkter praktischer Menschenkenner dem weitblickendsten Genius überlegen. Das Geschehen, das man Geschichte heißt, wird nun zum weitaus größten Teil durch solche Resultanten bedingt, die Komponenten der Individuen kommen nur in seltenen und dann fast immer auch übersichtlichen Fällen in Frage — deswegen erscheint das Leben desto einförmiger und gleichmäßiger, je weiter das Gesichtsfeld des Beobachters ist.

Ja, erweitern wir den Kreis über alle Geschichte hinaus, abstrahieren wir nicht allein von der Individualität des Einzelnen, sondern auch von der der Völker, betrachten wir das Menschengeschlecht im Zusammenhang des Gesamtlebens, dann verschwinden zuletzt alle die Unterschiede, die sonst unüberbrückbar scheinen. Von einem gewissen, sehr hoch gelegenen Gesichtspunkte aus bedeutet die griechische Kultur nicht mehr als ein höchstes Züchtungsergebnis, wie man deren auch unter Pferderassen begegnet, kommt im größten Menschenschicksal nicht mehr zum Ausdruck, als im bescheidenen Dasein der Pflanze, und wenige Gesetze von äußerster Allgemeinheit, die für alles Lebendige gelten und in keinem einzigen Falle übertreten werden, schreiben aller Sehnsucht und Erfüllung Ziel und Richtung vor. Denn gewiss: die Kulturen und Völker entstehen, blühen auf, verwandeln sich, altern und sterben zuletzt, unentrinnbar wie nur irgendein Einzelwesen. Bei den historisch bedeutsamen Nationen lassen sich Entwicklungsstufen abgrenzen, auf welchen jede von ihnen, so weit unsere Erfahrung reicht, fortschreitend irgendeinmal gehalten hat. Ja es lassen sich sogar allgemeine Richtlinien des Fortschritts aufzeigen, durch welche die Zukunft aller nur möglichen Völker innerhalb gewisser Grenzen fest prädeterminiert erscheint. Diese Tatsachen und Erwägungen legen auf den ersten Blick nicht gerade die Vorstellung der Gesetzlosigkeit des historischen Werdens nahe, ja das Gegenteil erscheint so evident, dass ein sehr großer Geist, der unsterbliche Hegel, die Geschichte aus reiner Vernunft a priori zu konstruieren unternommen hat. Aber Hegel hat sich geirrt, und mit ihm irren alle, welche heute, unter welchen Voraussetzungen immer, die Geschichte als Gesetzeskonnex begreifen: die Normen und Regelmäßigkeiten, deren sich allerdings eine große Anzahl feststellen lässt, sind sämtlich sekundärer Natur; sie regeln lediglich den Weg des Geschehens, dieses selbst bedingen sie nicht. Es sind keine Gesetze der Geschichte. Gesetze der Geschichte könnten sie nur in dem Fall sein, wenn die Wissenschaft, ohne die Wirklichkeit zu verfälschen, die lebendigen Individuen als solche ausschalten und als gleichartige Atome betrachten dürfte, von welchen keines eine mögliche Überraschung in sich schließt, wenn deren Gesamtheit nicht ihrerseits, wie dies doch offenbar der Fall ist, ein lebendiges und folglich unvoraussehbares Schicksal auswirkte, so dunkel der Sinn des letzten Begriffes immer sei. Wie die Zusammenhänge tatsächlich beschaffen sind, entgehen sie jeder wissenschaftlichen Fassung. Der tatsächliche Lauf des Geschehens, wohl zu unterscheiden von seinem typischen Rahmen, ist recht eigentlich eine Serie von Überraschungen, die keinem System eingegliedert werden können. Napoleons Geburt war auf keine erdenkliche Weise vorauszuwissen, und wäre dieser Mann nicht geboren worden, die Welt sähe heute anders aus. Die Folge der Individuen und deren Eigenart steht in keinem wissenschaftlich begreifbaren Plane vorvermerkt, und ebenso wesentlich unvoraussehbar ist die Art, wie diese sich äußern wird. Wittern Sie in dem letzten Satz keinen Widerspruch gegen das, was ich Ihnen vorhin auseinanderzusetzen suchte. Wie Napoleon sich im Allgemeinen verhalten würde, das hätte ein großer Psycholog, der eine Stunde mit ihm verplaudert, für die meisten Situationen vielleicht voraussagen können. Aber seine besonderen konkreten Handlungen, die haecceitas seines Wirkens, um ein gutes Wort der Scholastik anzuwenden, das Bestimmte, was er faktisch getan hat, das war überhaupt nicht vorauszuwissen, wie denn kein Erlebnis, so wie es ist, vom Verstand antizipiert werden kann.

Gleiches gilt natürlich erst recht von den Gesamtorganismen, die man Kulturen, Völker heißt. Das Voraussehbare, auf Gesetze Zurückzuführende am historischen Geschehen betrifft den allgemeinen Rahmen der Gegebenheit, wie beschaffen diese immer sei, die Geschichte aber ist diese Gegebenheit selbst, in ihrem einmaligen, einzigartigen Verlauf, und vom Einzigen gibt es kein System. Was unter Gesetzen zu begreifen ist, ist das Nichthistorische an der Geschichte. Vielleicht wird Ihnen die Unzulänglichkeit aller theoretischen Konstruktionen lebendigen Zusammenhängen gegenüber durch die folgende Illustration ganz deutlich werden: ist der große Staatsmann etwa der, welcher genau so handelt, wie Berechnung dies als wahrscheinlich und richtig erscheinen lässt? Der die vernunftgemäßen Folgerungen aus dem zieht, was zu einer bestimmten Stunde gegeben war? O nein, sondern der ist es, welcher neue Momente ins Geschehen hineinbringt, welcher alle faktische Berechnung durch den Umstand zunichte macht, dass er die Grundlage möglicher Berechnung verschiebt. In diesem Sinn mag ein Staatsmann zuweilen am Klügsten handeln, indem er eine hanebüchene Dummheit begeht, denn diese mag die Kreise der Widersacher, die lediglich Vernünftiges erwarteten, denen niemals eine Dummheit eingefallen wäre, so gründlich stören, dass die Lage der Dinge mit einem Schlag verändert wird. Nein, das Leben ist keine Deduktion aus unwandelbaren Voraussetzungen, sein eigentliches Wesen ist das Schöpferische, d. h. die Fähigkeit, Ereignisse herbeizuführen, die aus den gegebenen Prämissen nicht abzuleiten waren, und wo in diesem Sinne Neues entsteht, dort versagt alle tote Theorie. Die Geschichte der Völker und Kulturen trägt gleichen Charakter, wie es die eines unendlich vielseitig und reichbegabten, wenn auch letztlich von den Schranken des allgemeinen Menschentums begrenzten Erfindergeistes täte, dem immerfort etwas Neues einfällt, der sich von Stunde zu Stunde verwandelt. Über einen solchen ist offenbar gar wenig ausgesagt, wenn man feststellt, dass auch seine Handlungen, Gedanken und Gefühle den Gesetzen der Logik und der Psychologie unterworfen sind, dass auch er geboren ward, jung war, alt wurde und schließlich starb.

Es gibt keine Gesetze der Geschichte. Mehr noch: Es kann keine solche geben, weil der historische Charakter eines Ereignisses eben in seiner Einzigkeit, seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit besteht, weil die Geschichte die lebendige Wirklichkeit selbst bedeutet, nicht den Rahmen, innerhalb welches sie verläuft. Der Rahmen mag noch so unverbrüchlich feststehen, sich gleichbleiben von Ewigkeit zu Ewigkeit: das historische Ereignis als solches ist jedesmal einzig in seiner Art. Keines, das einmal stattfand, kehrt wieder, keins ist künstlich wiederzuerwecken in dem Sinn, wie der Experimentator einen Naturvorgang, so oft er nur will, zu erneutem Ablauf zwingt. Aus diesem Grunde kann Geschichte niemals Wissenschaft im Sinn des Naturforschers sein, weiß dieser historischen Problemen auch selten Interesse abzugewinnen. Poincaré, der große französische Mathematiker, hat den Gegensatz, der zwischen dem Historiker und dem Naturforscher von Hause aus besteht, in der folgenden Gegenüberstellung gar anmutig veranschaulicht.

Johann ohne Land ist hier vorbeigezogen, welch’ merkwürdiges, bedeutsames Ereignis! mag jener sich begeistern. Ich kann diesem Vorgang nicht die geringste Bedeutung zuerkennen, erwidert ihm dieser, denn er wird nie wiederkehren.

Allerdings, als gesetzmäßiger Konnex ist das historische Geschehen nicht zu begreifen. Allein der Naturforscher ist doch im Unrecht, wenn er ihm aus dieser Erwägung heraus, wie er’s so gern tut, die geistige Bedeutung abspricht. Wenn der Zusammenhang des geschichtlichen Werdens kein solcher ist, wie derjenige des Werdens der Welten, so beweist das doch nicht, dass hier gar keiner vorläge. Neben dem Zusammenhang der Natur gibt es einen anderen, im gleichen Sinne freilich nicht begreifbaren, den man von jeher Schicksal hieß. Dieser entrinnt aller möglichen Wissenschaft. Schon im Fall der physisch-organischen Entwicklung tut er dies, denn auch diese verläuft anders von Fall zu Fall, und kein Organismus gleicht dem anderen. Sogar beim Huhn ist es eigentlich tiefsinniger, auf das Einmalige jedes Einzellebens hinzuweisen, als auf die Stadien, die jedes vom Ei bis zum Tode durchläuft. Das Physiologisch-Notwendige am Lebenslauf des einzelnen Menschen nun ist ein ganz unwesentliches Moment in seinem Schicksal, und Gleiches gilt erst recht von dem der Völker und Kulturen: nicht das Mindeste von Bedeutung ist über diese ausgesagt, wenn man ihre jeweilige Erscheinung auf den Rahmen ihres physiologischen Lebenslaufs zurückbezieht. Denn bei geistigen und seelischen Wesen ist der Sinn, die Bedeutung, der Erscheinung tiefster Grund.

So wäre Geschichte schon dann auf Biologie nicht zu reduzieren, wenn jene sich, so wie dies manche wollen, in der Ablösung streng voneinander abgegrenzter Organisationstypen erschöpfte. Dies tut sie nicht: durch alle Sonderschicksale führt sie hindurch. Dank den Wundergaben der Erinnerung und des Verstehens, der Initiative im Geist und des Unterlassenkönnens gibt es für den Menschen eine Entwicklungskontinuität über alle Bio- und Morphologie hinaus; es gibt kumulierte Erfahrung, stetige Erkenntnisvertiefung, allgemeinen Fortschritt, zuletzt ein Menschheitsziel. Gewiss gibt es diese nicht im Sinn der Naturnotwendigkeit, wohl aber im Sinne geistiger Möglichkeit, und die verwirklicht sich durch alle Sondernotwendigkeit hindurch. Was in einer Hinsicht Alterserscheinung ist, bringt andererseits oft eine neue Erkenntnis zum Ausdruck, von der spätere ausgehen. Goethes letzte Weisheit braucht keine Jugend zu verleugnen. Mögen Buddhismus, Christentum, Sozialismus in bestimmter Beziehung Entartungserscheinungen oder Schlussstadien darstellen — sie leiteten in anderer einen Fortschritt ein. Mögen die Individuen und Völker als bestimmt erlebende Subjekte noch so unvergleichbar erscheinen, sich untereinander noch so notwendig missverstehen — dank der Kontinuität des Geisteslebens gibt es doch eine Menschheit, diese wird immer wirklicher, je mehr das Bewusstsein sich erweitert und vertieft, und die Menschheit, nicht die Menschen und Völker, ist der Geschichte eigentlicher Gegenstand, mag sie diesen oft noch so falsch behandelt haben. Nun ist Menschheit keine mögliche Erfahrung, sondern eine Idee; deshalb kann es von ihrer Entwicklung keine Wissenschaft geben. Diese kann nur Tatsachen als solche fassen, im Zusammenhang der Geschichte aber kommt es vor allem auf deren Bedeutung an. So bezeichnet denn die Vorstellung, dass es Gesetze der Geschichte geben könne, ein reines Missverständnis: das geschichtliche Werden bildet freilich einen Zusammenhang, nur ist dieser ein völlig anderer, als der der Natur.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Vom Interesse der Geschichte
© 1998- Schule des Rades
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