Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Vom Interesse der Geschichte

Lebendige Wirklichkeit ist Geschichte

Meine Damen und Herren, das Glück des Kindes, die Sonnigkeit des frühesten Lebensabschnitts, wo alles für einen getan, wo nichts von einem verlangt wird, wo das Dasein als sorgloses Spiel verläuft, möchte kaum ein Erwachsener in Zweifel ziehen; auch der nicht, dessen persönliche Erinnerungen leidvoll sind. Wer immer zurückblickt und den Beginn seiner Laufbahn mit späteren Stationen vergleicht, erkennt im Entschwundenen, Unwiederbringlichen einen Zustand so seliger Art, dass auch die vollkommenste Gegenwart im Vergleich mit jenem herbe und brüchig erscheint. Aber seltsam: dem Kinde selbst ist seine Seligkeit fremd, es kennt sein Glück nicht. Wohl freut es sich leichter, häufiger, vollständiger als der Erwachsene, allein es leidet dafür auch heftiger, und zwar an Kleinigkeiten, welche dieser kaum überhaupt bemerkt. Und wöge nun ein Gott die Summe der kindlichen Glücksempfindungen gegen alle durchlebte Kindestrübsal ab, so dürfte der Zeiger in weitaus den meisten Fällen nicht fern von dem Punkte stillestehen, der die Glücksbilanz des Mannes bezeichnet, der sich sorgend durchs Leben schlägt. Nun hört man nicht selten die Behauptung: das Kind ist tatsächlich glücklich, weiß nur nichts davon. Ich möchte mir gerne klarmachen lassen, was das für ein Glück sein soll, das man nicht spürt — Glück ist in objektivem Zusammenhang überhaupt nicht zu definieren. Wohl aber ist das Folgende wahr: das Kind versteht sich selbst und seinen Zustand nicht; es vermag ihn nicht zu übersehen. Deswegen kann es des Glücks, das der Erwachsene meint, unmöglich gewahr werden, denn dieses Glück besteht nur für den, der den Sinn der Kindheit begriff, und Kinder denken nicht so weit. Besinnen wir uns auf uns selbst: uns allen ist der Sinn unserer ersten Lebensjahre erst im reiferen Alter ganz deutlich geworden. Das Glück des Kindes tritt erst im Bewusstsein dessen zutage, der längst seine Kindheit hinter sich begrub. Erst der Rückblick ermöglicht den Überblick. — In der Weltgeschichte, der Entwicklung des Menschen­geschlechts, tritt das gleiche Verhältnis zutage, wie im Leben des einzelnen Menschen. Keiner, so weitblickend er sei, vermag seine Zeit tatsächlich zu übersehen, kaum einer bemerkt ihre großen Züge, nur wenige ahnen ihren geheimen Sinn. Kein Zeitgenosse Bismarcks hätte dessen Geschichte schreiben können, das Bild jener Epoche, das sich heute vor uns entrollt, ist nach vielen Richtungen hin noch undeutlich, und der Augenblick ist wohl fern, wo es gelingen wird, die wahren Zusammenhänge vollständig in richtiger Perspektive zu sehen. Denn die Zusammenhänge, die dem Einzelnen den Sinn verleihen, sind von diesem her nicht zu erkennen. Es ist im Großen nicht anders wie im Kleinen: die Fragen der Gegenwart beantwortet die Zukunft allein.

Woran liegt das?

Es liegt am Folgenden: das Leben ist ein rastloses Werden, das keinen Stillstand kennt. Immer ist es in Bewegung, immer gärt es, wächst es, schafft es, verwandelt es sich, und alles kommt immer anders, als es zu erwarten stand. Daher ist es erst zu übersehen, wenn es vorüber ist. Was gestern war, mag durch das Heute einen Sinn erlangen, den dazu mal kein Seher hätte erahnen können, die Zukunft mag alle Schlussfolgerungen aus der Gegenwart zunichte machen, und die Zukunft ist endlos, rückt immer weiter hinaus, gleich ungewiss und rätselreich. Erst das Leben ist dem vollen Verständnis zugänglich, das keine Überraschung mehr in sich birgt, nur das vollendete Leben vermögen wir wirklich zu schauen. Das Lebendige am Leben aber ist sein fortwährender Neubeginn, und ist es jemals vollendet, dann ist es auch vorüber. So wird es uns erst deutlich, wenn es nicht mehr ist. Das Kind versteht nur der gereifte Mann, den Sinn seiner Sehnsucht nur der, der auf die Erfüllung zurückblicken kann, und der ganze Mensch mit seinem Lebenswerk wird erst nach seinem Tode übersichtlich. Nun ist wohl klar, dass die Geschichte für den, der das Leben verstehen will, dessen eigentlichster Ausdruck ist, ja der eigentliche Ausdruck schlechthin: denn erst als Geschichte ist sein Ausdruck vollständig. Solange es wird, fehlt immer noch etwas an der Wirklichkeit, ist noch nicht alles beisammen; erst als Gewordensein ist das Leben tatsächlich verwirklicht. — Nun, das Interesse, das die Geschichte in diesem Sinne bietet, ist kein mittelbares, sondern ein unmittelbares. Im Spiegel des Verstandes, der nur Fertiges fassen kann, erscheint nicht die verfließende Gegenwart, sondern die abgeschlossene Vergangenheit als die eigentliche Wirklichkeit des Lebens.

Aber freilich ist diese Wirklichkeit nicht lebendig, sondern tot. Wenn sich daher das eigentliche Interesse der Geschichte in dem, was ich Ihnen soeben sagte, erschöpfen sollte, so ließe sich wenig dagegen erwidern, wenn jemand nun die Behauptung aufstellte: das eigentliche Interesse der Geschichte liegt an den Schranken des Verstandes, der nur Verstorbenes fassen kann, in einem tieferen Sinne besteht es nicht. Vermöchten wir nicht nur das Gewordene, sondern das Werdende selbst zu verstehen, vermöchte es der Erkenntnisprozess, die Schöpfung im Entstehen zu fassen, so wäre damit das Interesse der Geschichte, das an der Unmöglichkeit eines unmittelbaren Erkennens haftet, erledigt und aufgehoben. Dies ist einesteils wirklich der Fall: ein Gott brauchte nicht das Ende eines Lebens abzuwarten, um dieses sich deutlich zu machen, er begriffe es in seinem Verlauf. Aber ist denn die Wirklichkeit nur insofern Geschichte, als sie verflossen ist? Ist sie nicht Geschichte an sich selbst? — Die lebendige Wirklichkeit ist Geschichte. Das, was der Mensch nur als Gewordensein begreift, ist im gleichen Sinne wirklich als Werden. Die Geschichte macht das Leben nicht bloß deutlich für den Menschenverstand, das Leben verwirklicht sich tatsächlich erst in ihr. Es verwirklicht sich in ihr in dem lebendigsten, gegenständlichsten Sinne, dass die weiten, allgemeinen Zusammenhänge, die der Historiker rückschauend konstruiert, die Wirklichkeit selbst bedeuten. Sie sind des Einzelnen faktische Grundlage. Wie die Tondichtung nicht nur dem ein Ganzes bedeutet, der die Noten geheftet in der Hand hält, sondern gleichermaßen für den, der die Klänge sich folgen hört, wie die Melodie von Anbeginn an eine Einheit ist, obgleich diese erst am Schluss vollständig zutage tritt, im gleichen Sinn ist alles lebendige Werden als Werden schon Geschichte. Diese Einheit des Geschehens ist aber ein geistiger Zusammenhang, und um dessentwillen ist Geschichte im tiefsten Verstande interessant.

Wie beginne ich es nur, um Ihnen von der höchsten Wirklichkeit, die das Leben selbst bedeutet, von dem konkreten Allgemeinen, das allem Besonderen zugrunde liegt, das aber das Auge nicht mehr schauen und der Verstand kaum mehr denken kann, eine geistige Anschauung zu vermitteln? Vielleicht gelingt es am Besten, indem ich am Schwerstverständlichen anknüpfe. Sie erinnern sich wohl aus Eckermanns Gesprächen der Stelle, wo Goethe seine Fortdauer nach dem Tode verlangt, weil er in diesem kurzen und beschränkten Leben seine sämtlichen Möglichkeiten nicht würde verwirklichen und in die Tat überführen können. Wollen Sie mir’s glauben? Dem großen Mann ist geworden, was er gefordert hatte: seine gewaltige Persönlichkeit wächst noch heute fort, ja erst jetzt beginnt sie sich endgültig zu festigen und vollendet zum Ausdruck zu kommen. Es ist keineswegs sicher, dass Goethes sämtliche lebendige Kräfte schon aus dem Schlummer erwacht sind; gar vieles von dem, was sein Höchstes bedeutet, ist möglicherweise noch kaum zur Betätigung gelangt. Seltsam: in der Welt des Geistes scheint der Erdenwandel seiner Träger ungefähr das und nicht mehr zu bedeuten, wie die Kindheit in derjenigen der Natur. Beim Kind ist alles im Werden, alles Versprechen; kein Ausdruck ist eigentlicher Wesensausdruck, der Mensch, der das Wesen bezeichnet, tritt kaum überhaupt in die Erscheinung, und nur ahnungsvolle Seelen vermögen die vollendete Gestalt in der ungeformten Materie weissagerisch zu schauen. Im gleichen Sinn tritt bei geistigen Persönlichkeiten das Eigentliche meist erst spät nach dem Tode hervor. Wer Goethe wirklich war, erkennt die Menschheit erst jetzt, wo seine Bedingtheiten und zufälligen Eigenheiten gegenüber dem Grund seiner Natur an Interesse und Deutlichkeit verlieren; was Nietzsche bedeutet, ja wer er eigentlich war, das werden unsere Enkel erst ermessen können. Und nicht etwa deshalb, weil dann erst das Material beisammen sein wird, um ein vollständiges Gesamtbild zu entwerfen — nein, in einem ganz unmittelbaren Sinne: erst dann wird Nietzsches Persönlichkeit, d. h. das schöpferische Prinzip seines Lebens über das bloß Stoffliche völlig Herr geworden sein. Daher sehen die, so einem Geist der Zeit nach am Fernsten stehen, diesen Geist tatsächlich am Nächsten, näher als seine Zeitgenossen, denn erst im Lauf der Geschichte wächst er vollständig heran; erst in einer Zeitspanne, die kein Individuum als solches durchlebt, gelangt die Seele zu vollendetem Ausdruck. Die Meisten von heute stehen dieser seelischen Wirklichkeit freilich skeptisch und misstrauend gegenüber. Es ist ja wahr: der Mensch ist nicht Seele schlechthin, er ist deren Verkörperung in den Zufälligkeiten des Daseins, und wessen Blick von diesen gefangen ist, dem mag es schwer werden, das zeitlich begrenzte Leben, das im Erdenwandel des Individuums zum Ausdruck kam, als Teil des ewigen, das dieses überdauert, zu begreifen; er mag gern der Vorstellung huldigen, das empirische Leben sei die einzige Wirklichkeit, was darüber hinausgeht, sei Geschöpf der Einbildungskraft. Doch diese Vorstellung, so nahe sie liege, bedeutet eine irrtümliche Theorie, eine Konstruktion, die den Tatbestand fälscht: die Seele ist im tiefsten Sinne wirklicher als die jeweilige Lebenserscheinung, sie ist die lebendige Wirklichkeit schlechthin.

Das Wirkliche an Christus war nicht der galiläische Wanderredner, dessen Wirksamkeit ein vorzeitig jähes Ende fand, es ist der lebendige Geist, der noch heute die Menschheit beseelt; das eigentlich Wirkliche an Kant nicht das schwerfällige Begriffsgebäude, innerhalb welches sein Genius Gestalt gewann, sondern dieser Genius selbst, der in alle Zukunft hinausleuchtet. Und dass dem tatsächlich so ist, wie schwer es immer zu fassen sei, tritt nicht allein bei Großen zutage, bei jedem von uns offenbart sich der gleiche Zusammenhang, so deutlich, dass er gar nicht in Zweifel zu ziehen ist. Keiner, so gering er auch sei, darf nach zufälligen Äußerungen beurteilt werden — er mag unfrei handeln, sich selbst missverstehen, von übermächtigen Verhältnissen äußeren Ursprungs am eigentlichen Ausdruck verhindert sein und so schlechter erscheinen, als er ist, oder auch nur anders, als er von Hause aus sein sollte —; nur nach dem, der er wesentlich ist, darf der Mensch beurteilt werden, denn sonst wird er falsch beurteilt; das Wesentliche ist überall die Seele. Hierauf beruht denn auch die Unsterblichkeit der Typen, die größte Dichter erschufen, ihre selbstverständliche Ewigkeit, die kein Zufall vernichten kann: so lebendig, so eigentlich wie die Kunst, hat die Natur die Seele nie zum Ausdruck zu bringen gewusst. Hinter jedem Hellenen, der je seit Homer gelebt hat, steht der göttliche Dulder Odysseus, und es bedeutet mehr als eine geistreiche Redewendung, wenn ich behaupte, dass jener verschlagene Inselkönig, der möglicherweise nie existiert hat, doch von jeher wirklicher gewesen ist, als sämtliche Gestalten der Chronik. Es ist eben, wie ich Ihnen vorhin schon sagte, der Sinn der Erscheinung allertiefster Grund. Dessen Verwirklichung dient alles Werden, oder soll es doch tun. Wie Gottes Wille immer wieder durchkreuzt wird, wie böse Absicht, Blindheit oder Missverstehen allzu viele so sehr um ihre Bestimmung bringt, dass man behaupten kann: nur die Größten hätten überhaupt ein Schicksal, denn nur bei diesen erweisen sich alle Zufälle als so bedeutsam, wie sie’s in jedem Falle sein könnten: so bleibt Geschichte, empirisch betrachtet, immerdar ein Postulat, eben weil es letzthin nur Geistesgeschichte gibt und der Geist an der Materie ein widerspenstiges Medium hat. Dennoch bezeichnet dieses stetig-Mögliche, nie ganz Wirkliche, nach Verwirklichung Strebende, dieses, vom Intellekt her geurteilt, Sein-Sollende, nicht notwendig Seiende, auch innerhalb des empirischen Daseins dessen tiefste Wirklichkeit. Auch wenn er nie erfasst würde, bliebe der Sinn der Erscheinung tiefster Grund. Es ist unmöglich, die Oberfläche tief zu verstehen, wenn man nicht jenem ständig Rechnung trägt.

Versuchen Sie es nicht, diese rätselvollen Zusammenhänge mit dem Verstande einzusehen: der Verstand steht ihnen ohnmächtig gegenüber. Dennoch sind sie wirklich, so wahr als irgend etwas wirklich ist. Keine Kritik wird den Sinn seines Primats entäußern, keine Überlegung die Tatsache aus der Welt schaffen, dass alles Leben erst in weiteren Zusammenhängen, als die Dauer des Einzelnen umspannt, ganz zum Ausdruck und zur Darstellung gelangt. In der Welt des reinen Geists ist sie freilich am Schwersten zu fassen; hier scheint sie eine jener mystischen Verknüpfungen, die der Dichter im Weltraum konstruiert, um Unmenschliches menschlich zu gestalten, dem Unbegreiflichen Bedeutung zu verleihen. Indessen, wenn dieser Zusammenhang mystisch sein soll, dann sind es sämtliche lebendigen Zusammenhänge, zumal die, welche selbstverständlich dünken. Im Augenblick wirklich ist überall nur der jeweilige Bewusstseinszustand, die Vergangenheit ist zeitlich tot, die Zukunft in der Zeit noch nicht geboren; wer die Wirklichkeit an ihrer Begreiflichkeit misst, müsste folgerecht den Tatbestand des Alltagslebens leugnen. Der Mensch, der ich vor einer Stunde war, bin ich im strikten Verstande nicht mehr, jede Sekunde hat mich fortschreitend verwandelt, jede Minute meine Erinnerung bereichert, und wenn ich nun doch darauf bestehe, mit mir identisch geblieben zu sein, so behaupte ich etwas ebenso Mystisches, wie wenn ich sage, dass der Geist Goethes lebendig unter uns fortwächst. Wann stirbt der Mensch? Er stirbt im Grunde jeden Augenblick. Wann hört sein Leben vollständig auf? Es ist kaum zu bestimmen. Es besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen den Phänomenen, dass das Wachstum des einzelnen Baumes Generationen in sich beschließt, von denen die älteren fortschreitend verholzen, dass das Infusionstierchen durch Zweiteilung sich fortsetzt, ohne jemals den Tod zu schmecken, dass Menschenmütter vor den Kindern sterben und dennoch in diesen ihren Seinsgrund sehen, dass ein Zustand lebendig in den folgenden übergeht und doch sich selbst für immer hinter sich begräbt, dass die Idee durch alles Missverstehen hindurch unzerstörbar fortdauert und alles Menschenleben sich erst als Geschichte ganz verwirklicht — denn was bedeuten sie allesamt? Sie bedeuten sämtlich das Gleiche: dass das Leben erst in weiteren Zusammenhängen, als die Dauer des Einzelnen umspannt, ganz zum Ausdruck und zur Darstellung gelangt, dass alles Empirische von einem Überempirischen seinen Sinn erhält. Wie das Kind erst im Erwachsenen und das Einzelleben erst im Tode vollendet wird, wie der große Geist erst im Lauf der Jahrhunderte, währenddessen sein Erdenwandel zur Legende verblassen mag, zur vollen Höhe erwächst, so greift alles Leben seinem Wesen nach von der Vergangenheit auf die Zukunft über, so ist die lebendige Wirklichkeit überall etwas Umfassenderes, als der greifbare Augenblick, und ein Bedeutsameres, als aus den Tatsachen als solchen erhellt.

Alles, was jetzt ist, hängt mit allem, was je war und je sein wird, innerlich zusammen. Nun aber gelangen wir zur wichtigsten, letztlich entscheidenden Einsicht: die Dimension, in der dieser Zusammenhang besteht, ist nicht die der Zeit, obschon deren Einsinnigkeit sowie die qualitative Einzigkeit jedes ihrer Abschnitte die Möglichkeit einer Geschichte empirisch definiert. Deren eigenste Dimension ist die, welche lebendige geistige Möglichkeit mit vollendeter Wirklichkeit verknüpft. Im Lauf der Geschichte lösen nicht allein mehr oder weniger tief zusammenhängende Ereignisse einander ab — es verwirklicht sich ein Geist; dieser ringt, im Werden, durchs Werden hindurch, unaufhaltsam nach Ausdruck. Wo solches nicht der Fall ist, bedeutet das Geschehen nicht Geschichte: dort erschöpft sich das Werden im biologischen Prozess, und alle Entwicklung, ja aller Fortschritt, der sich nachweisen lässt, trägt doch unhistorischen Charakter, weil er kein Streben nach höherem Ausdruck verkörpert. Erst wo dieses bewusstermaßen vorliegt, wo das noch so dunkle Gefühl einer Mission den Willen lenkt, kann es Historie geben. Deshalb darf man von einer Geschichte der Erde, der Organismen, ja aller bloß im Biologischen sich auswirkenden Menschengeschlechter nicht eigentlich reden: Geschichte gibt es allererst, wo der Sinn des Werdens oberhalb des Biologischen liegt. Letzterer Fall liegt nun vor, sobald ein Wille zur Kultur besteht. Dieser ist aus der Biologie heraus nicht zu verstehen, sondern einzig aus geistigem Ausdrucksstreben. Als Kulturschöpfer ist der Mensch nicht mehr Naturwesen, sondern Verkörperer eines Geists, der sich fortschreitend individuell, persönlich, völkisch, menschheitlich darstellt. Diese Reihenfolge besteht, obschon das Gemeinschaftsbewusstsein vor dem persönlichen erwacht, denn geht der Einzelne auch in der Gruppe völlig auf, so ist es doch kein innerlich ergriffenes, sondern ein äußerlich aufgedrängtes Allgemeines, aus dem heraus er lebt; seine letzte persönliche Instanz ist seine Individualität. Es liegt aber dem Konkret-Besonderen ein Konkret-Allgemeineres innerlich zugrunde, und das Bewusstsein wurzelt immer mehr in diesem, je mehr es sich vertieft. Zutiefst liegt ein völlig Allgemeines (oder doch etwas, das vom Verstand nur so zu fassen ist); die Einzigkeit ist dessen empirischer Exponent. Deshalb führt Selbstvertiefung notwendig gleichzeitig zur persönlichen Höchstentwicklung und zur Universalität; eben deshalb wird aus den Menschen, je mehr sie sich differenzieren, immer mehr eine Menschheit. In diesem Sinn sind alle Kulturen, ob empirisch noch so einzig, letztlich Sonderausdrücke des Menschheitsstrebens. Die Menschheit, dem ersten Anschein nach eine Abstraktion, auf kantisch ausgedrückt, eine Vernunftidee, bezeichnet eine überempirische Wirklichkeit. Sie gibt letzthin dem Einzelstreben Sinn; sie bedingt überhaupt, dass wir streben. Nur weil sie in jedem Menschen wirkt, fühlt jeder, sofern er geistig lebt, dass er eine Bestimmung hat, denn für sich allein kann keiner eine haben. Deshalb spricht man mit vollem Recht von Menschheitsgeschichte; man könnte weitergehen und sagen: eigentlich gibt es Geschichte nur von der Menschheit, nicht von den Völkern und Kulturen. Diese ist ein einiger geistiger Zusammenhang.

So sind denn die jüdisch-christliche Mythe, die Theodizee des Mittelalters und vor allem Hegel, trotz ihrer Irrtümer, der Wahrheit näher gewesen, als die modernen Atomisten und Morphologen. Wohl realisiert das Menschengeschlecht in seiner Laufbahn keinen vorgezeichneten Plan, wohl gibt es nirgends notwendige Entwicklung. Die Geschichte gehört ganz und gar dem Kantischen Reich der Freiheit an, weshalb alle ihre bestimmten Abschnitte, empirisch betrachtet, zufällig erscheinen. Nichts muss in ihr stattfinden, jedes Ziel kann verfehlt werden, keins wird je ganz erreicht. Und doch geht durch alles noch so vielfältige Werden, sofern es historisch ist, ein einiges Streben hindurch, ein Streben nach immer stärkerem, immer vollkommenerem Ausdruck. Jede einzelne Kultur hat letztlich dies gewollt, jeder Einzelmensch von historischer Bedeutung wollte Gleiches. Dieses Streben bedingt eine wesentliche Kontinuität, die noch längst nicht alle Erscheinung durchdrungen hat, doch von jeher in zwei Umständen ihren Ausdruck fand: dass alle Völker absolute Ideale verwirklichen wollen, und jedes Errungenschaft zum Sprungbrett einer späteren wird. Alles wesentliche Streben postuliert Kontinuität und verneint die Grenzen. Jetzt werden Sie jene früheren Ausführungen wohl verstehen, mit denen ich den Nachweis, dass es keine Gesetze der Geschichte geben könne, abschloss: tief verstanden, ist die Menschheit das Primäre gegenüber den Völkern und Menschen. Daran vermag keine Diskontinuität der Erscheinung etwas zu ändern. Jetzt werden Sie auch verstehen, inwiefern Goethe nach seinem Tode fortwachsen kann: seine Vollendung hat er während seines Erdendaseins nicht gefunden, und doch war Streben nach dieser seine tiefste Wirklichkeit. Dieses Streben, an sich ein Überzeitliches, tritt nun als Geschichte, und als solche allein, in die Erscheinung. Es verwirklicht sich in einsinniger Folge qualitativ verschiedener einziger Zustände, von denen jeder notwendig, keiner ersetzlich, noch außer dem Zusammenhang zu verstehen ist — nicht anders wie eine musikalische Komposition. Wer daher keinen Sinn für das Einmalig-Einzige hat, wird das Allgemeine nimmermehr fassen. Andererseits: wer für die Vergangenheit als solche kein Verständnis hat, wer die Zukunft nicht lebendig in sich trägt, wird die Gegenwart niemals verstehen. Und nicht etwa, weil er die genauen Ursachen gewisser Zustände und Ereignisse nicht zu beurteilen vermöchte, nein aus einem wesentlich tieferen Grunde: weil Gegenwart und Vergangenheit überhaupt nicht zu trennen sind. In jedem Zustande vollendet sich der vorhergehende, gleichviel ob es für unsere Begriffe aufwärts oder abwärts geht. Es ist ein Leben, das vom ersten historischen Menschen bis zu uns hinaufführt, und nur im Zusammenhang des Ganzen ist das Einzelne wahrhaft wirklich. So ist denn die Geschichte nichts anderes als das Menschenleben selbst. Die kurze Spanne mit ihren flüchtigen Inhalten, die uns besonders wirklich dünkt, die Individuen, Zustände, die einzelnen Ereignisse, sie bedeuten in Wahrheit Abstraktionen. Das eigentlich Konkrete am Leben ist sein Gesamtzusammenhang. Deshalb ist Geschichte im tiefsten Verstande interessant.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Vom Interesse der Geschichte
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