Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Die Philosophie als Kunst

Liebhaber der Weisheit

Die Zeiten ändern sich. Nachdem Jahrhunderte unter dem Philosophen ein lichtscheues, eulenartiges, lebensfremdes Wesen verstanden hatten, das aus bebrillten Gelehrtenaugen nur zu dem Zweck vom Papier fort in die Natur hinausschaut, um diese zu bemängeln und zu verneinen, gewinnt sein Name allmählich die Bedeutung wieder, die er zu Platos Zeiten besaß: des Liebenden, des leidenschaftlichen Liebhabers der Weisheit. Der Typus des Liebenden ist aber nicht der abgeklärte Greis: es ist der stürmische Jüngling. Und nachdem Jahrzehnte in der Metaphysik die trockenste, abstrakteste aller gelehrten Disziplinen gesehen, die Quintessenz alles Langweiligen, wissen es heute schon einige und ahnen es viele, dass Philosophie nicht so sehr eine Wissenschaft, als eine Kunst ist. Die Kunst ist aber der höchste, lebendigste Ausdruck des Lebens. Philosophie ist in der Tat nur in dem Sinne Wissenschaft, wie jede Kunst dies ist: nämlich als Meisterschaft der Ausdrucksmittel, Beherrschung der Technik, Kenntnis und Verständnis des Materials. Des Denkers Technik ist das Denken. Das Denken können besitzt für ihn wirklich rein technische Bedeutung, macht sein Können genau im gleichen Sinne aus, wie beim Bildhauer die Fähigkeit der Meißelführung — darf also bei jedem Philosophierenden, der an die Öffentlichkeit zu treten wagt, als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Des Denkers Ausdrucksmittel ist die Sprache, insofern als eine Idee erst in klarer, deutlicher Fassung überhaupt wirklich wird. Sein Material endlich ist das Wissen. Wie der Musiker Harmonielehre und Kontrapunkt im Blute haben, den Effekt jeder Tonfolge und jedes Zusammenklangs im Verhältnis zum Vorhergehenden und Folgenden richtig abzuschätzen fähig sein muss, so bedarf der Philosoph der Meisterschaft über die Denkgesetze, des klaren Urteils über das Wertverhältnis der Gedanken zueinander. Und wie wir beim Maler soweit erschöpfende Kenntnis seines Materials voraussetzen dürfen, dass er auch den Chemismus seiner Farben begreift, ihre gegenseitige Beeinflussung und mögliche Veränderung voraussieht, so muss der Philosoph die Wissenschaft seiner Zeit beherrschen und ihre Ergebnisse richtig werten, damit das Weltbild, das er entwirft, nicht nachdunkelt oder an der Zersetzung der Farben zugrunde geht. In diesem und nur in diesem Sinne ist der Philosoph Gelehrter, in des Wortes eigentlicher Bedeutung; sein Gelehrtentum betrifft die Seite seines Berufs, die lern- und lehrbar erscheint. Das Philosophieren ist aber reine Kunst. Der Denker arbeitet mit Denkgesetzen und wissenschaftlichen Tatsachen genau im gleichen Sinn, wie der Tonkünstler mit Tönen operiert. Er muss Akkorde finden, Folgen ersinnen, die Teile zum Ganzen in notwendige Beziehung setzen. Dazu aber bedarf es der Kunst. Das umfassendste Wissen an und für sich ergibt noch keine Weltanschauung, das schärfste Urteil noch keine neue Wahrheit. Es gilt das Wissen zu organisieren, dem Objekt ein Subjekt zu erschaffen, der veränderlichen Erscheinung eine Idee zugrunde zu legen; es gilt das Amorphe zu gestalten, die Materie durch Formung zum Leben zu erwecken. Deshalb ist das Problem der Philosophie ein Formproblem, wie das einer jeden Kunst. Die Frage nach dem Wert einer Weltanschauung ist eine Frage nach dem Stil.

Natürlich meine ich nicht den Stil der Sprache: ich meine den des Denkens. Ein großer Denker braucht nicht notwendig — obschon er’s meistens ist — auch ein großer Schriftsteller zu sein. Seine Kunst liegt nicht im Formen der Worte, Sätze und Gedanken, sondern im Formen der Probleme. Seine Aufgabe ist nicht, das Bekannte auszudrücken, sondern das Unbekannte so zu wenden, dass es erkennbar wird. Dem Denker gegenüber ist der Schriftsteller bloßer Dekorateur. Die Gestaltungskraft des Schriftstellers äußert sich darin, wie er das sagt, was schließlich jeder gedacht und gesagt haben könnte; die Form des Denkers darin, von welchem Standpunkte aus er sein Objekt ins Auge fasst, wie er die Probleme hinstellt, die als solche jedem vor Augen liegen. In diesem Wie liegt auch seine ganze, seine einzige Originalität. Die Neutralität des bloßen Stoffs zeigt sich bei der Philosophie womöglich noch deutlicher als bei anderen Künsten, da alle Denker im Grunde nur ein Thema behandelt haben: das Verhältnis des Geistes zur Natur, oder — wie ein früheres Zeitalter sich großartiger ausdrückte — die Beziehung von Gott und Welt. Bloß die Form der Problemstellung unterscheidet einen Denker vom anderen. Diese Form gibt dem Stoff erst seinen Gehalt. Und diese Form ist Funktion des Stils.

Die Philosophie ist eine Kunst. Sie ist es genau im gleichen Sinne, wie die Malerei, die Musik. Sie verfügt über besondere Ausdrucksmittel; darum erwecken ihre Werke auch andere Eindrücke. Die Vollkommenheit eines Bildwerks, einer Tonschöpfung empfinden wir als Schönheit; die Vollkommenheit einer Weltanschauung als Wahrheit. Was ist aber die Wahrheit anderes als eine besondere Art ästhetischer Vollkommenheit? — Hume zog aus der Tatsache, dass die Natur keinen Beweis für die Notwendigkeit des Kausalsatzes biete, den Schluss, die Frage nach der Ursache beruhe auf Gewöhnung, sei also in tieferem Sinne willkürlich. Kant, der die gleichen Prämissen anerkannte, dem aber außerdem nicht entging, dass wir nicht umhin können, nach der Ursache zu fragen, sofern wir verstehen wollen, gelangte zur Überzeugung, dass die Kausalität Voraussetzung, Vorbedingung, Grundsatz der Erfahrung ist und gerade darum aus ihr nicht abgeleitet werden kann. — Kants Auffassung gilt uns als die wahre. Sie unterscheidet sich aber von der Humeschen bloß durch die Art der Problemstellung; durch nichts anderes. Ein formales Moment gibt der Vernunftkritik ihren Wahrheitswert — wie die Form dem Rodinschen Kuß seinen Schönheitswert verleiht. Auch die Wahrheit wird, in diesem Zusammenhang betrachtet, durch ästhetische Qualitäten bedingt, wie die Schönheit einer Dichtung, einer Statue.

Darum bedarf es zur Entdeckung neuer Wahrheiten des ursprünglichen, innersten Berufs wie zu jeder anderen künstlerischen Tat. Die Wissenschaft tut’s nicht. Der Mann, der durch bloße Gelehrsamkeit philosophieren wollte, gliche dem Künstler, der ohne rechtes Talent, bloß als Vollender des akademischen Studienganges, zu bilden sich erkühnte. Es geht ja zur Not. Besitzt einer selbst bei minimaler Schöpferkraft viel Fleiß, viel Erfahrung und soviel Urteil, discernement, dass er das Schlechte vom Guten mit Sicherheit unterscheidet, so wird er nicht nur fremde Leistungen befriedigend werten, sondern auch eigene — wofern er sich genügend Zeit lässt, die glücklichen Einfälle bedächtig aufsammelt und alle minderwertigen erbarmungslos verwirft — soweit bringen, dass sie nicht schlecht sind. Soweit kann jede Kunst durch Wissenschaft plus Urteil ersetzt werden — weiter freilich nicht: bis zum Nichtschlechten. Oder, wie boshafte Leute sagen: bis zu dem, was nicht einmal schlecht ist. Es ist das uferlose Gebiet der akademischen Kunst, zu der auch die Philosophie allezeit ein bedeutendes Kontingent geliefert hat. Doch ist das wahrhaft Große, Vollkommene — wie wichtig die Disziplin immer sei — nur durch spontane Eingebung zu erreichen. Stil hat noch keiner erarbeitet, der ihn nicht ursprünglich besaß.

Die Philosophie ist also eine Kunst. Verlassen wir die ästhetische Betrachtung und suchen wir dasselbe Problem nach psychologischen Kategorien zu begreifen, so gelangen wir zum selben Ergebnis. Wie jede wesentliche Lebensäußerung, entspringt auch die Philosophie dem gebieterischen Drange der Seele, sich zur Welt in ein befriedigendes, beglückendes Verhältnis zu setzen, eine Spannung auszulösen. Sie sucht eine lebendige Beziehung herzustellen zwischen Weltall und Menschengeist. Bezwecken die anderen innerlichen Künste etwa anderes? — Goethe, der den Zusammenhang mit der Natur vielleicht tiefer erlebte, als irgendein Denker, hatte allerdings nicht viel Sinn für abstrakte Metaphysik. Sein Weltempfinden fand in ewigen Versen den entsprechendsten Ausdruck. Beethoven rang mit dem Weltgeist in Akkorden und Symphonien — es steckt wahrhaftig nicht weniger Weltsinn in seinen letzten Quartetten, als im vollkommensten überlieferten metaphysischen System. Ob Plato, Goethe oder Beethoven: sie alle wollten wohl Gleiches. Nur redeten sie verschiedene Sprachen. Der eine fand in Tönen den lebendigsten Ausdruck für seinen Weltsinn; der andere in Begriffen und Ideen. Und sank bei diesem der Schwerpunkt seiner Natur aus dem Verstande ins Gemüt, so ward die Kritik zur Mystik. So kann es geschehen, dass derselbe Drang der Seele, der lange in kalter Begriffszergliederung seine entsprechendste Auslösung fand, plötzlich, in einem großen Augenblick, in brünstigem Gebet zum Himmel sich ergießt. Auf diese Weise ist mehr denn ein Denker zum Heiligen geworden. Wo das Innerste des Menschen spricht, da gibt es die Grenzen nicht, welche die Schule absteckt. Freilich beherrschen Philosophie, Religion und Kunst an sich verschiedene, untereinander nicht vergleichbare Gebiete; doch sind sie insofern eins, als sie aus gleicher Quelle stammen und einem grundsätzlich gleichen Streben des schöpferischen Geistes Ausdruck verleihen. In verschiedenen Sprachen reden die verschiedenen Triebe des Menschen doch immer nur vom Einen, Unaussprechlichen.

Und hieraus folgt weiter der persönliche Charakter einer jeden Philosophie. Es gibt schlechterdings keine unpersönliche Weltanschauung; der Ausdruck widerspricht sich selbst. Der Philosoph ist ebensowenig Photograph der Wahrheit, wie der Maler Photograph der Natur. Das Unpersönliche, folglich Unmenschliche, geht uns nicht das Mindeste an; es kann zum Menschen nicht sprechen. Das im höchsten Sinne Allgemeine ist uns nur im Spiegel des schlechthin-Individuellen zugänglich, das Objektive in subjektiver Fassung. Gibt es etwa eine allgemeine, objektive Schönheit? — Nein. Doch bewundern wir ein einziges Meisterwerk, in seiner ausschließlichen Eigenart, so glauben wir darin die Idee der Schönheit selber zu schauen. Das im höchsten Sinne Individuelle ist eben dadurch schon typisch, allgemein. So verkörpert den Deutschen Goethe, diese einzige, so über die Maßen vielfältige und eigenartige Persönlichkeit, zugleich die Idee des höheren Menschentums. Nicht anders steht es mit der philosophischen Wahrheit: auch ihr, wie der Schönheit und letztlich jeder Idee, schenkt erst das persönliche Moment objektives Dasein. Eine ursprünglich abstrakte, unpersönliche Philosophie ist ein Unding; staubgeboren, wird sie wieder zu Staub. Was nicht einem Menschen aus innerstem Herzen sprach, das wird zu niemandem sprechen.

Gerade durch ihren persönlichen Charakter besitzt Philosophie objektiven Wert! — Das ist kein Paradox: es ist grundlegende Erkenntnis. Kant hat gelehrt, dass die Welt erst durch die von uns in sie hineingetragenen Denkformen für uns zur Wirklichkeit wird — fiele die subjektive Seite fort, so wäre damit zugleich auch die objektive Wirklichkeit preisgegeben — ganz im Gegensatz zur landläufigen Anschauung, dass uns erst dann Die Wahrheit unverhüllt entgegenträte. Abstrakte Wahrheit gibt es allein im Verhältnis zu einem möglichen denkenden Subjekt — subjektlos hätte ihr Begriff keinen Inhalt. Genau dasselbe gilt von der konkreten Wahrheit, die der Philosoph als die seine verkündet: auch sie gilt zunächst nur im Verhältnis zu ihrem Subjekt, der einzelnen Person; und erst dadurch wird sie überpersönlich und allgemein. Es gibt eben für uns Menschen keine Objektivität, außer in bezug aufs Subjekt. Dies gilt für den Denker wie für jeden Künstler. Mag er im Werk noch so aufgehen, verschwinden — vorhanden ist er stets, als des Werkes Gesetz; ja, je mehr er sich in der objektiven Vollkommenheit aufzulösen scheint, desto gegenwärtiger ist sein schöpferisches Ich in Wahrheit. Die Philosophie, deren Wahrheit schlechterdings objektiv erschiene, wäre zugleich die allerpersönlichste. Sie wäre der lebendige Ausdruck einer einzigartigen Individualität, unvergleichlich, unnachahmlich, ausschließlich. Denn noch einmal: die Philosophie ist eine Kunst. Wer die Wahrheit will, muss zunächst sich selbst vollkommen zum Ausdruck bringen.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Die Philosophie als Kunst
© 1998- Schule des Rades
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