Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Deutschlands Beruf in der veränderten Welt

Spiritualität

Des Deutschen harrt im kommenden universalistischen Zeitalter, wenn er rechtzeitig Einsicht beweist, ohne Zweifel ein hoher Beruf. Als geborener Universalist wird er eine bedeutende Rolle in ihm spielen können. Aber genügt dieser sein Charakter zur Führerschaft, so dass zu erwarten stände, die neue Ära werde eine dem Geiste nach deutsche werden? Dem Spirituellen, nicht dem Universellen, gilt als Letztem die Sehnsucht dieser Zeit, spirituelle Werte werden die letztbestimmenden sein in aller absehbaren Zukunft. Wie steht es mit der deutschen Spiritualität? — Hier gilt es, alle Eitelkeit abzutun und sich der Sachlage so bewusst zu werden, wie sie in Wirklichkeit ist.

Wie ich’s schon schrieb: dem Deutschen fällt es leichter, den Geist zu spiegeln, als ihn zu verkörpern. So wird es ihm auch leichter fallen, den der kommenden Zeit zu begreifen, als aus ihm heraus zu leben, und ehe er das nicht lernt, ist er im Letzten zu ihrem Führer nicht geschickt, wird er der werbenden Kraft, der es zu diesem Beruf bedarf, ermangeln. Heute klafft zwischen seinem Denken und seinem Sein im Allgemeinen ein tiefer Bruch. Die Gestalt Hegels, dessen Geist wohl der umfassendste und tiefdringendste zugleich aller Zeiten war, der jedoch persönlich zeitlebens ein Kleinbürger blieb, ist noch immer symbolisch für den ererbten deutschen Charakter. Gewiss ist nicht jeder Deutsche ein Kleinbürger, seine Gestaltungsmöglichkeiten sind mannigfaltig und reich, aber beinahe in jedem fehlt typischerweise der organische Zusammenhang zwischen dem, was er ist, und dem, was er erkennt und tut. Hierher rührt seine extreme Sachlichkeit, die ihn so leicht zum bloßen Werkzeuge erniedrigt, seine Sonderart des Pflichtbegriffs, die ihm die bloße Frage, was ihm wesentlich Pflicht sei, so leicht nicht stellen lässt, sein Taktmangel, seine Instinktunsicherheit in politischen und vielen anderen Dingen. Er muss dahin gelangen, Erkennen und Sein zu verschmelzen, Persönlichkeit und Sachlichkeit zusammenzuschweißen, den objektiven Geist nicht allein zu begreifen, sondern zu verkörpern, wenn er als Menschentypus bedeutsam werden will. Bücherschreiben und Organisieren allein tut’s freilich nicht. Der Deutsche hat die Anlage, alles Innerliche gleich aus sich herauszustellen: so sehr diese dem berufenen Philosophen, dem Dichter, dem Musiker dienlich sei — jedem anderen versperrt sie den Weg zur letzten Selbstverwirklichung; seinen Institutionen gibt sie nicht allein Kraft, sondern Seele und Sinn, diese werden bei ihm zu Kollektivgeistern von großer Weisheit — allein den Einzelnen behindert sie im inneren Wachstum. Ihr ist es zu danken, dass sogar deutsches Heldentum, so herrlich es sei, leicht unpersönlich wirkt — es scheint, als blieben die großen Tugenden, die sich betätigen, im Letzten unbeseelt, als sei es die abstrakte Idee gleichsam, die sich auswirkte durch einen beliebigen Menschen, nicht als sei der besondere Mensch als solcher der Held. Vom Standpunkte menschlicher Überlegenheit wäre es fraglos besser, wenn die Deutschen über die höchsten Probleme weniger schrieben und sich statt dessen bemühten, den Geist, welchen sie meinen, zu realisieren, in ihn hineinwüchsen durch stille Verarbeitung. Erst aus verwachsenem Erkennen und Sein entsteht Spiritualität, denn diese ist fleischgewordenes Wort, und auf sie allein kommt es im Letzten an. Das Fleischgewordensein des Worts aber setzt Durchdrungenheit der Erscheinung durch ihren letzten Sinn voraus, die Durchgeistigung und Durchseelung des ganzen Menschen, seine Beherrschtheit vom tiefsten Wesenszentrum her, die ihren äußeren Exponenten an der Vollendung hat, also gerade das, was seine Erbanlage dem Deutschen besonders schwer erreichbar macht.

Die Spiritualität ist keine hervorstechende Eigenschaft der heutigen Deutschen. Hierher rührt im Tiefsten die Abneigung, der sie in ihrer jüngsten Gestaltung auf dem ganzen Erdenrund begegnen. Die Vollendung bezeichnet den Maßstab, an dem jeder instinktiv den Wert jeder Lebenserscheinung misst, und dies mit Recht, weil sie zugleich den Grad der Spiritualisierung, mithin der Vergöttlichung angibt. Wenn dieser Umstand dem geistig Armen zugute kommt, so wird er dem Reichen leicht zum Verhängnis: diesem fällt es, je reicher er ist, desto schwerer, seinen Körper ganz zu durchseelen. Was nun am Menschen nicht die Gottheit zum Ausdruck bringt, ist letztlich wertlos; unbeseelte, dem Atman nicht unmittelbar dienstbare Vorzüge wirken negativ, und im Grenzfall als teuflisch, was der Menschheit in einer Periode bestimmender Spiritualität, wie dies vom Mittelalter galt und heute wieder zu gelten beginnt, besonders bewusst wird, denn einer solchen fehlt der Sinn für den Eigenwert vorläufiger Tugenden. Niemand fragt heute nach bloß intellektuellen, moralischen, charakterlichen Vorzügen — die Frage gilt unmittelbar dem, welchen Grad spiritueller Einsicht jene zum Ausdruck bringen; was der typische moderne Deutsche als erstes für sich anzuführen pflegt und was ihn freilich vor den meisten Völkern auszeichnet, genügt niemand zur Anerkennung seiner Vorzugsstellung. Im Gegenteil: weil er so viele Vorzüge hat, fällt desto mehr auf, was ihm fehlt, so dass ihm das Seltsame begegnet, um seines Positiven willen negativ beurteilt zu werden. Dieses kann gar nicht anders sein, hierüber sei man sich klar. Denn dem einen, was not tut, ist der heutige Deutsche typischerweise wirklich ferner als die meisten Anderen.

Dieses liegt einerseits an seiner schon behandelten Erbanlage, sein Tiefstes, anstatt es zu verkörpern, aus sich herauszustellen, und soweit diese ihn bindet, ist gewiss, dass er es niemals typischerweise zu menschlicher Vollendung bringen wird. Es liegt aber andererseits auch an seiner Geschichte und dem Reichtum seiner Veranlagung überhaupt. Im Mittelalter war Deutschland ein Reich der Spiritualität, der wunderbarsten Verschmelzung von Erscheinung und Sinn, was schon beweist, dass seine Erbanlage dem Deutschen nicht notwendig zum Verhängnis wird. Seither nun versagten ihm äußere Umstände die Gelegenheit, sich zum überlegenen Menschen auszubilden. Die Spiritualität als solche blieb ihm, aber der Ausdruck, den sie seither fand, ist das, was man Sinnigkeit und Innigkeit heißt: eine Art seelischer Vollendung, die Vollendung des Ganzen nur bei beschränkten Verhältnissen sein kann, dieses geistig sowohl als materiell verstanden. Noch heute ist sie die eigentliche Erbform der deutschen Spiritualität, und dem Typus des kleinen Mannes kommt sie noch heute zugut. Anders steht es mit dem zu Wissen, Macht und Reichtum emporgestiegenen: hier ist die überkommene Seele außerstande, den Körper zu füllen, und da dieser dank der deutschen Begabtheit und dem deutschen Fleiß in kürzester Zeit zu einem Organismus von unerhörtem Reichtum erwachsen ist, so ergibt sich daraus eine gleichfalls unerhörte Diskrepanz zwischen Erscheinung und Wesen. So ist in Deutschland, dank dem Zusammenwirken von Geschichtserbe und Befähigung, wozu weiter die günstige Konjunktur des verflossenen halben Jahrhunderts tritt, ein Menschentypus entstanden, der dem äußeren Leben ebenso außerordentlich gewachsen ist, wie er innerlich seiner eigenen neuen Erscheinung nicht gewachsen scheint.

Jetzt fragt es sich, ob Anlage und Geschichte zusammen am Ende ein Schicksal erschaffen haben, das dem Deutschen verbietet, in seinem Seintypus ein Menschheitsideal zum Ausdruck zu bringen? — So könnte es sein; und schöbe dies auch manchem Ehrgeiz einen Riegel vor, stellte es manche Ziele als missverständlich hin, schlösse es Führerschaft vor allem auf immer aus, so präjudizierte es doch nichts über die hohe Bedeutsamkeit der deutschen Nation. Dem deutschen Geiste verbliebe sein einziger Beruf, jene aber wäre dann ganz dazu da, zwischen dem Geist und der Erscheinung als Mittlerin zu dienen, Ideen in die Welt zu setzen oder Körper zu schaffen, sei es auf dem Gebiete der Technik, der Wissenschaft, der Religion oder der sozialen und politischen Organisation; ihr Beruf bliebe ferner und vor allem, der Welt ein geistiger Sauerteig zu sein. Wenn nämlich Vollendung allein das Göttliche unmittelbar zum Ausdruck bringt, so ist es das Unvollendbare, das ewig Unvollendete, bei dem alle Problematik lebt. Nur dem Nichtwissenden ist Wahrheit ein Problem, das Gute nur dem ethisch Unsicheren: so könnte es sein, dass die Deutschen das problematische Volk par excellence wären, das Volk der reinen Sehnsucht, und insofern das wichtigste wären für allen Menschheitsfortschritt, denn Fortschritt gibt es immer nur von dem her, der nicht am Ziele ist — so dass ihre Unfähigkeit zur unmittelbaren Verkörperung eines Menschheitsideals recht eigentlich die Gewähr wäre ihrer einzig dastehenden Bedeutsamkeit. So könnte es sein, und zu einem nicht geringen Teil wird diese Auffassung für alle Zukunft recht behalten, denn zu dem allen sind die Deutschen unter allen Umständen geschickt. Immerhin: wenn es durchaus so wäre, so müsste dies Schicksal in Anbetracht der ungeheuren Kraft, die sie im weltlichen Aufwärtsstreben bewiesen haben, als tragisch gelten; als tragisch zumal, weil dann der Wille zu jenem Aufstieg ein metaphysisches Missverständnis bedeutet hätte … Bedeutete er ein Missverständnis? Er tat es ohne Frage, wenn der heutige Deutschentypus das Endziel der möglichen Entwicklung des deutschen Menschen wäre. Dieses ist er aber nicht. Und diese Erkenntnis erledigt den Zweifel an dessen möglicher Weltmission im menschlich-seelischen Sinne.

Ich will nicht auf das Bild des Mittelalters zurückgreifen, denn die Voraussetzungen unserer Zeit weichen dermaßen von den damaligen ab, dass sich alle Schlussfolgerungen von damals auf heute und morgen erübrigen. Ich will nicht an Goethe erinnern, diesen größten Europäer aller Zeiten, und der doch nur als Deutscher denkbar war; dieser Einzige war nur einmal, kehrt nie wieder, lebte gleichfalls überdies zu einer Zeit, in welcher der überreiche Körper, der dem Deutschen heute die Selbstverwirklichung erschwert, noch nicht erwachsen war, wo also das heutige Problem sich für ihn nicht stellte. Auch der unzähligen Einzelnen will ich hier nicht gedenken, die von jeher in Deutschland nach Selbstverwirklichung gestrebt haben und die hier, soweit Streben in Frage kommt, wohl immer zahlreicher waren als in irgendeinem Land: der einzelne Große erwächst meist im Gegensatz zu seinem Volk, bedeutet insofern wenig in bezug auf dessen Entwicklungsmöglichkeit. Worauf ich hinweisen will als auf ein höchst bedeutsames Zeichen der Zeit, ist die neue deutsche Jugendbewegung, denn diese durchdringt das ganze Volk und kommt daher für dessen künftigen Typus unmittelbar in Betracht. Vorerst ist sie freilich dunkel in ihrer bewussten Zielsetzung und dementsprechend vielfältig, zersplittert und unsicher in ihrem Ausdruck. Nichtsdestoweniger ist sie vollkommen einheitlich dem Sinne nach. Wenn die einen die Jugend an sich, also etwas rein Zuständliches, als höchsten Wert setzen, die anderen gegen das überkommene Universitätswesen Sturm laufen; wenn die Expressionisten den reinen Schöpfungsakt im Bilde festhalten wollen, die freien Schulgemeinden bei reiner Menschenbildung anheben, und Religionsschaffen in irgendeinem neuen, rein persönlichen Sinn weiten Kreisen die wichtigste Aufgabe dünkt: was bedeutet dies anderes, als dass die ganze neue Generation der bisherigen deutschen Lebensgestaltung satt ist, weil diese eben zu keiner wahren Seinsgestaltung führt, und den Weg sucht zu einer Verinnerlichung des Äußeren, die zugleich vollkommenen Ausdruck des Inneren ermöglichte? — Die Idealisierung des Jugendzustandes bedeutet eine Hypostasierung der reinen Spontaneität als höchsten Wertes, im schroffen Gegensatz zum traditionellen Glauben an Objektivationen. Das Bestreben der Expressionisten, die Bewegung, die zum Werk führt, als solche darzustellen, das dem Sinne nach richtige Bemühen, den Brennpunkt zu fassen, wo Persönlichkeit und Sachlichkeit noch eins sind; der Fehler liegt hier bloß im noch, der Idealisierung des Anfangsstadiums, wo das Ziel jenseits der Entzweiung liegt. Das Verdammen der alten Lehranstalten entspricht der Erkenntnis, dass Wissen allein es nicht tut; wenn diese dahin weitergediehen ist, dass rein sachliches Studium als Asketik unentbehrlich ist, aber freilich nur in diesem einen Sinn, dann wird sie vollendet sein. Die deutsche Jugendbewegung ist vollkommen eindeutig trotz aller Ausdrucksverschiedenheiten, ihr eines Ziel ist Spiritualität, vollkommene Selbstverwirklichung, die Verschmelzung von Persönlichkeit und Sachlichkeit, das Schaffen einer Synthese, welche die deutsche Universalität zugleich persönlich machte, die Scheidung aufhübe zwischen Leben und Begriff, die sich für den Deutschen, gerade wegen seiner hohen Begriffsveranlagung, so überaus verhängnisvoll erwiesen hat. Und wenn sie zunächst über die Maßen chaotisch wirkt, vielmehr so als ähnliches in anderen Ländern, so liegt dies eben daran, dass Spiritualisierung keiner Veranlagung schwerer erreichbar ist, als gerade der deutschen. Der Deutsche muss über eine hemmende Erbanlage hinweg, durch alle Reflexion hindurch; er muss aus extremer Sachlichkeit heraus persönlich werden, kann nur auf dem Umwege um die Welt sich selber finden; die geraderen Wege sind seiner universellen und problematischen Natur verschlossen.

Einzelne Deutsche sind schon lange auf diesem Wege gewandelt, jedoch sie taten es im Gegensatz zu ihrer Zeit. Heute ist es eine ganze Generation, die ihn beschreitet. Und dieser Generation folgt hoffnungsvollen Blicks das ganze Volk, denn allzu deutlich hat der Weltkrieg gezeigt, dass ihm auf seiner letzten Entwicklungsbahn keine menschlich große Zukunft winkte. Es wird bereit sein, wenn aus dem Chaos einmal ein tanzender Stern geboren ward, diesen zum Führer zu nehmen. Dann wird der Typus nicht allein des universellen, sondern des spirituellen Deutschen bestimmend werden. Ist dieses aber geschehen, dann sollte es merkwürdig zugehen, wenn der universellst veranlagte, umfassendst gebildete, der lernbegierigste und arbeitsfreudigste Europäer es nicht zu hoher Bedeutung auf unserem erneuten Erdteil brächte1.

1 Den praktischen Weg dazu weise ich in meinem Buch Politik, Wirtschaft, Weisheit (Darmstadt 1922).
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Deutschlands Beruf in der veränderten Welt
© 1998- Schule des Rades
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