Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Für und wider die Theosophie

Theosophie als Wissenschaft

Es muss auf breiterer Wissensbasis, auf höherer historischer Stufe die reinliche Scheidung wieder entstehen, die schon erzielt war, doch dank dem Eingreifen des neuen Impulses aufgehoben erscheint. Dissoziieren muss sich vor allem das, was Wissenschaft sein kann, was Religion und was auf immer der persönlich-ethischen Zielsetzung vorbehalten bleibt. Die Theosophie ist den meisten ihrer Jünger alles auf einmal — genau im gleichen Sinn, wie den Jüngern der griechischen Naturphilosophien deren Lehre. Nun kann aber die Theosophie, ihrem innersten Gesetz nach, nur Wissenschaft sein, als Wissenschaft aber muss sie alles aus sich ausscheiden, was das Wissen trübt.

Die Ureinstellung der Theosophie ist eine theoretische, auch wo von Praxis allein die Rede ist; nicht Sein, sondern Sehen ist ihr Ziel. Soweit sie das Reich möglicher Erkenntnis zu erweitern sucht, ist sie unbedingt zu ermutigen, weshalb man aufhören sollte, den Okkultismus mit einem geringschätzigen Lächeln abgetan zu wähnen. Gerade dadurch bleibt dieses wichtige Forschungsgebiet, über dessen Vorhandensein sich gar nicht mehr streiten lässt, das Monopol unberufener Elemente. Dass diese zunächst vorherrschen, liegt in der Natur der Dinge: die Chemie war ursprünglich Alchemie, Quacksalber und Charlatane waren die ersten Naturforscher und Ärzte; die Frühperioden aller Wissenschaft tragen unsauberen Charakter. Für die Geisteswissenschaft nun muss dieses in besonders hohem Maße gelten, weil die zu ihr Befähigten besonders selten sind und es auf ihrem Gebiet besonders schwer hält, zwischen Erfahrenem und Eingebildetem zu unterscheiden. Überdies steht die neue Disziplin von der Außenansicht des Geistigen zur Zeit auf einer verhältnismäßig noch früheren Stufe, als dies die Naturforschung zu Empedokles Zeiten tat: also ist es kein Wunder, dass ihre Behauptungen bisher nicht allzugut begründet erscheinen. Desto mehr müssen sich die Theosophiebeflissenen darüber klar werden, dass ihr Heil einzig in strengster Wissenschaftlichkeit liegt. Gewiss hat diese Wissenschaft ihre besonderen Normen: Experimentieren, wie im Fall der Physik, ist im ihren unmöglich, manche Vorgänge mögen zu ihrem Ablauf Dunkel und Verschwiegenheit fordern. Auch ein Kind ist weder zu beliebiger Zeit gleichmäßig zu erzeugen und zu gebären, noch so schnell man mag, noch auch auf der Handfläche auszutragen. Aber der innerhalb der sachgemäßen Normen angewandte Gesichtspunkt muss zu einem rein wissenschaftlichen werden, und dies ist er bei der Mehrzahl noch nicht. Die Allermeisten sehen im Geistesforscher, wie ehemals im Naturforscher und Arzt, einen Zauberer und Magier; mit religiöser Weihe wird umgeben, was schlicht-sachliche Behandlung verlangt. Dieses gilt auch von den verschiedenen Yoga-Methoden. Vielleicht ist dieser Anforderung zunächst schwer nachzukommen. Wen es heute am Häufigsten zum Okkultismus zieht, sind nicht starke und klare Geister, sondern neugierige, trostbedürftige und abergläubische; vermutlich war Empedokles’ und Paracelsus’ Gefolgschaft gleichen Charakters. Diese Menschenklasse hat ihre historische Aufgabe: dank ihr wird das Interesse für Theosophie in so weiten Kreisen verbreitet, wie anders nie gelänge. Starke Geister hegen gegen unwahrscheinliche Behauptungen, zumal wenn solche von unmaßgeblicher Seite ausgehen, leicht ein Vorurteil. Deshalb bedarf es sehr ausgiebiger Vorarbeit seitens der Schwachen, damit die Starken deren mögliche Richtigkeit überhaupt in Frage stellen. Dann aber gelangt die Reihe ausschließlich an sie. Dann wird auch die Mehrheit innerhalb der heutigen Theosophengemeinde der Theosophie ebenso enttäuscht den Rücken kehren, wie äquivalente Kreise seinerzeit der zur Chemie sich wandelnden Alchemie, oder der wissenschaftlich werdenden Medizin, und sich neuen Dämmergebieten zuwenden. Dann wird auch die Manie ein Ende nehmen, die heute beinahe jeden, der sich für Fragen des Übersinnlichen interessiert, dazu antreibt, sich persönlich zum Hellseher auszubilden. Freilich wäre es schön, wenn alle möglichst alles selbst erfahren könnten; leider gelingt es nicht. Es ist ebensowenig wahr, dass jeder zum Hellsehertum befähigt sei, wie zur erfolgreichen Behandlung der höheren Physik: zu beidem bedarf es sehr besonderer Veranlagung. Persönliches Studium dessen jedoch, was einer Natur nicht liegt, führt unabwendbar von der wahren Lebensaufgabe ab. Denn mehr sehen bedingt durchaus nicht mehr und besser werden1. Freilich erkennt der, welcher mehr weiß, eben dadurch besser, was er soll; aber äußerliches Wissen und Leben bleiben grundsätzlich zweierlei. Aus theoretischer Einstellung heraus ist kein praktischer Fortschritt zu erzielen, selbst wenn der Besitz tiefsten Wissens höchste Tugend voraussetzen sollte. Dies ist die eigentliche Ursache dessen, weshalb seitens gläubiger Theosophen gar so selten große Fortschritte erzielt werden. Wer nun einsah, dass okkulte Ausbildung den Menschen im Übrigen nicht weiterbringt, der muss über die vielen Tausende, die es Steiner oder Leadbeater als Okkultisten gleich machen wollen, im selben Sinn den Kopf schütteln, als wenn sie alle zu Albert Einsteins praktischen Schülern würden.

Okkulte Ausbildung bewirkt keine Lebensvertiefung, weil sie letztlich auf Sehen, nicht auf Sein abzielt, und Schulung zum Wissen den innersten Menschen nicht ergreift. Hier waltet das gleiche Naturgesetz, welches dem Nur-Gelehrten den Weg zum großen Menschen versperrt. Mit ihm hängt ferner die bemerkenswerte Tatsache zusammen, dass alle größten Geister, von denen wir wissen, nicht Okkultisten waren. Solches gilt durchaus von den Philosophen, Dichtern und Weisen. Und wenn religiöse Genien, wie Buddha und Jesus Christus, abnormen Könnens schwerlich unfähig waren, so legten sie doch keinerlei Wert darauf, im Gegenteil. Ihnen war es allein um Seinsgestaltung zu tun, dazu aber bedarf es keiner außergewöhnlichen Gaben. Hier nun fassen wir die tiefste Ursache dessen, weshalb Geistesschulung religiös und ethisch nicht weiter bringt: alles schöpferische Gestalten, alles tiefere Leben geht auf ein Integrieren des Gesamtmenschen zu tieferer Einheit zurück, während der Weg zur Erkenntnis höherer Welten die Wirkungseinheit, zunächst wenigstens, beeinträchtigt. Dieser hat eben nicht die Integration, sondern die Differentiation des Organismus zum unmittelbaren Ziel und kann daher keine vertiefende Zusammenfassung herbeiführen. Nach Rudolf Steiner besteht der Mensch aus sieben Teilen in einem ähnlichen Sinn, wie das weiße Licht aus sieben Farben besteht. Nun leben wir tatsächlich (um im Bilde zu bleiben) als weißes Licht, und je weißer wir werden, d. h. je besser die Teilfarben zusammenwirken, desto vollkommener werden wir. Durch die Analyse oder Bewusstseinsbetonung des Unterschiedlichen nun wird die Einheit zerlegt. Dies beweist nichts gegen die Theosophie als Wissenschaft; als solche ist sie genau so nützlich und berechtigt, wie die Vivisektion, und vielleicht gelingt Höherentwicklung der Teile nur auf diesem Weg. Andererseits aber arbeitet solche Schulung zweifelsohne der Wirkungseinheit des Menschen entgegen. Wer sich auf Sehertum einstellt, wird schwer ein Vollmensch. Auf dass das Menschenwesen sich voll entfalte, müssen seine Bestandteile vom tiefsten Kern bis zur äußersten Oberfläche zusammenwirken, nicht sich auseinanderschälen, und zwar muss alles Tiefe an diese hinaus, um sich ganz zu verwirklichen. Dies erkennt auch die Theosophie insofern an, als sie lehrt, das Tiefste im Menschen, der Atman oder Geistesmensch, stehe in unmittelbarster Beziehung zum physischen Leib. Hierher rührt die ausgesprochene Diesseitigkeit aller tiefreligiösen Naturen, vor allem Christi; hierher deren ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber aller Magie ihnen kam es allein darauf an, den Menschen vollkommen zu machen. Nun ist, ich wiederhole es, eine höhere Organisierung seiner Erscheinungsform vielleicht wirklich nur auf dem Weg der Zersetzung erzielbar; jeder Aufstieg muss bezahlt werden. Aber jenes Eine was not tut, von dem Christus kündete, ist andererseits allein durch unmittelbares In-Beziehung-Setzen des Tiefsten in uns, des Atman, zu dieser Welt erreichbar und wird uns durch vorläufige Bestrebungen nicht näher gebracht. Wer, theosophisch gesprochen, vor allem an seinen Astralleib denkt, handelt dem Geistesmenschen in sich zuwider. Der Mensch ist darin wunderlich organisiert, dass er unmittelbar nach dem Höchsten streben soll; das Streben nach Höherem liegt nicht auf dem Weg zu diesem. Daher führt der beste Fortschrittsweg in der Sphäre des Lebens in entgegengesetzter Richtung gegenüber dem, welcher die klarste Erkenntnis zum Erfolg hat: liegt das Ideal hier in höchstdenkbarer Explikation, so liegt es dort in größtmöglicher Implikation. Das Wort muss Fleisch werden. Wohl ist Höherentwicklung in jedem Fall erwünscht. Aber die erworbene größere Differentiation oder Explikation bedeutet dann doch wieder nur die Vorstufe einer neuen Implikation, eines neuen Fleischwerdens des Wortes, auf das allein es letztlich hinzuzielen gilt. So soll auch die Erkenntnis höherer Welten implizit in uns werden; hier liegt das Ideal. Wir sollen das Leben aus dem tiefsten Grund zu meistern lernen.

Dies nun haben alle wahrhaft Großen getan, und dies ist die wahre Ursache dessen, dass diese einerseits nie Okkultisten waren, andererseits doch immer wieder dafür gehalten werden: sie lebten unmittelbar aus den höchsten Welten heraus, hatten es daher für ihre Zwecke nicht nötig, diese überdies von außen anzuschauen. Überhaupt bedarf es grundsätzlich keiner Geistesschulung, um okkulter Wahrheiten bewusst zu werden. Wenn Steiner lehrt, Hellsehen, könnten nur wenige, aber die Wahrheit des von Hellsehern Mitgeteilten einsehen beinahe alle, so ist nicht allein dieses grundsätzlich richtig: man kann auf die gleichen Wahrheiten, sofern sie Geistiges betreffen, kommen, ohne Seher zu sein. Tut man dies aber, so erfasst man sie tiefer, da man sie innerlich ergreift, nicht bloß aus äußerlich Geschautem ableitet. Hierher rührt die Tatsache, dass die Worte von Sehern sich kaum je als unmittelbare Kraftträger erwiesen haben; die indischen Weisen haben sich in der Regel sehr gleichgültig ausgedrückt, und die überzeugtesten Verehrer Annie Besants und Rudolf Steiners können schwer behaupten, dass deren Schriften Stil hätten: sie haben eben nur beschrieben, nicht geboren, indem sie ihre Erkenntnisse zum Ausdruck brachten, und deshalb wohnt ihnen nicht dieselbe Lebenskraft inne, wie den gleichen Erkenntnissen, sofern sie von Nichtsehern aus persönlichem Wissen heraus ausgesprochen werden. Aus diesen Erwägungen heraus bin ich persönlich geneigt, Christus jede okkulte Ausbildung abzusprechen; in ihm war alles Wort wirklich Fleisch geworden; es bedurfte keines Heraustretens aus seinem normalen Bewusstsein, um Übermenschliches zu erleben. Von innen her betrachtet, erscheint die Grenze zwischen normaler und höherer Bewusstseinslage überhaupt illusorisch. Als Subjekt ist jeder letztlich nur Atman. Je tiefer sich einer verinnerlicht, desto tiefere Wahrheiten tun sich seinem normalen Bewusstsein auf. Der Weg zur Verinnerlichung aber führt in entgegengesetzter Richtung, als der zur okkulten Ausbildung. Um ganz zu verstehen, was ich hier meine, erwäge man noch Folgendes: überraschend vieles von dem, was nach Vivekananda, Besant, Steiner oder gar Brandler-Pracht den erfolgreichen Geistesschüler auszeichnen soll, eignet normalerweise jedem überlegenen Menschen, jedem echten und durchgeistigten Gentleman, ja in einigen Fällen jedem, der überhaupt eine gute Kinderstube hinter sich hat. Also handelt es sich bei dem, was Geistesschulung bewirken soll, und bei den Wahrheiten, von denen der Okkultismus kündet, grundsätzlich um durchaus nichts sonst Unbekanntes: spezifisch für jenen ist allein, dass er von außen nach innen dringt.

Dieser Punkt ist wesentlich. Wird man ernstlich aufmerksam auf ihn, so fällt einem auf, wie viele der sogenannten okkulten Wahrheiten jedem tieferen Menschen auf andere Weise bewusst sind, und dass eigentlich alle tieferen Werke von Bewusstseinsebenen aus geschrieben sind, die den geheimsten der Theosophie entsprechen. Diese Erwägungen zeugen unter anderem für die Wahrhaftigkeit der Lehren dieser. Sie erweisen aber zugleich die Berechtigtheit der Einschränkung, die im Vorhergehenden ihrer möglichen Bedeutung zuteil wurde. Zur Selbstvertiefung, zur Schöpfung tiefsinniger Werke bedarf es keiner Geheimschulung. Im Gegenteil, diese hindert gewöhnlich dabei, indem sie eine äußerliche Stellung zu dem ermöglicht, was sonst als Urquell aus dem tiefsten Innern bricht. Noch einmal: die Explikation, die sie bewirkt, kann, von der menschlichen Vollendung her beurteilt, nie mehr als die Vorstufe einer neuen Implikation bedeuten, eines neuen Fleischwerdens des Wortes, auf das allein es letztlich hinzuzielen gilt. So wird der wahre Fortschritt keinesfalls in einem Weitergreifen des Sehertums bestehen; zu diesem werden voraussichtlich immer nur wenige befähigt sein, und zur Förderung des Wissens dürften wenige Spezialisten auch immer genügen. Gipfeln aber wird er in einer Überwindung des heutigen theosophischen Bewusstseinszustandes, zum Besten einer tiefsten Innerlichkeit, die nach vorläufigen Tiefen nicht fragt. Sofern okkulte Schulung Gott zuführen soll, was sie nicht kann, muss sie schädlich wirken. Deshalb hat es seinen guten und triftigen Grund, wenn reinreligiöse Geister, wie Johannes Müller in Deutschland und in angelsächsischen Landen die Führer des New Thought, von den traditionellen Kirchen abgesehen, die Theosophie bekämpfen. Sie werden damit im Recht bleiben, bis dass das Urchaos, dass diese darstellt, sich soweit differenziert hat, dass Wissenschaft zu reiner Wissenschaft wird und Religion zu reiner Religion. Wozu die theosophische Einstellung aber im Guten führen kann, liegt ausschließlich auf jenem Gebiet.

1 Vgl. hierzu den Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs.
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Für und wider die Theosophie
© 1998- Schule des Rades
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