Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Für und wider die Theosophie

Religiöse Gestaltung

Nachdem ich hiermit ausführlich dargelegt habe, wozu die Theosophie nicht taugt, kann ich mich nun zum Schluss ihren positiven Zukunftsaussichten zuwenden. Hat die Geisteswissenschaft einen realen Gegenstand — und mir persönlich scheint dies gewiss —, dann wird sie das Gebiet möglichen Wissens auf die Dauer in außerordentlichem Maße erweitern und dabei einen prinzipiellen Fortschritt herbeiführen von unüberschätzbarer Bedeutsamkeit. Alle positive Religion war bis heute insofern primitiv, als sie ein unreines Gemisch von Glauben und Wissenschaft darstellt. Religion bedeutet persönlich-wirksame Verbundenheit mit Gott, und den Weg zu dieser, nichts anderes1; theoretische Erkenntnis kommt hierbei nicht in Frage. Deshalb gehören die Heilspläne und -wahrheiten, welche die Kirchen lehren, soweit sie zutreffen, nicht der Sphäre des Glaubens, sondern des Wissens an. Die fortschreitende Einsicht in diesen Sachverhalt hat zum Erfolg, dass dogmatische Fragen, wie die nach dem Wesen Gottes und der Unsterblichkeit, in religiösem Zusammenhang immer weniger gestellt werden; alle tiefen Menschen fühlen’s schon: in religiöser Beziehung kommt theoretisches Wissen nicht in Betracht. So ist es. Aber gehen uns jene letzten Fragen darum gar nichts an? Ist es ein Vorzug, dass wir vom Jenseits gar nichts wissen? Wer den Zersetztheitszustand der modernen Menschheit mit dem seelischen Kosmos des Mittelalters etwa vergleicht, oder, im Besonderem, die Unsicherheit des entchristlichten Proletariers von heute, der allenfalls an der nihilistischen, aber desto fanatischer geglaubten Dogmatik des Bolschewismus einen Halt findet, mit der inneren Sicherheit des überzeugten Christen früherer Zeiten, der möchte diese Fragen kaum bejahen. Um als Agnostiker vollkommen zu sein, dazu bedarf es der höchsten Kultur. Aber auch kein Agnostiker wendete ernstlich etwas dagegen ein, wenn ihm der Schleier vor dem Jenseits gelüftet würde. Freilich wäre es ein Großes, und dies für jeden, wofern man wüßte, dass der Tod kein Ende bedeutet, dass irdischem Erfolg entgegenwirkendes Streben nach dem Guten dennoch Sinn hat … Alle früheren Zeiten sind im Besitz solchen Wissens gewesen; dass es sich dabei bloß um subjektives Für-wahr-halten unkritisch übernommener Dogmen, nicht um objektives Wissen handelte, ändert nichts am psychologischem Tatbestand. Und da möchte wohl niemand behaupten, dass dieses Wissen denen, die es zu haben glaubten, geschadet hätte. Gewissheit allein macht den Menschen innerlich fest; Ungewissheit demoralisiert. Heute nun ist blinder Glaube an etwas, was Wissensinhalt sein müsste, für alle vom Zeitgeist Ergriffenen unmöglich geworden; dies bedeutet, dass heute das Positive der Religion, um wirksam zu werden, vorher seine objektive Wahrheit zu erweisen hätte. Eben dies geschieht vorgeblich durch die Theosophie. Spricht diese nun grundsätzlich wahr — und dieses wird schließlich festgestellt werden —, dann wäre ein sehr großer Fortschritt erzielt. Die Organisierung der Menschheitsseele erreichte mit einemmal einen wesentlich höheren Vollkommenheitsgrad. Die Ursynthese erschiene endlich differenziert, alles Wissbare fiele fortan der Wissenschaft und Philosophie anheim, und die Religion könnte sich, ohne Verzicht, allein und ganz ihrer eigensten Aufgabe widmen.

Die Religion erkennte dann rückhaltlos alle Ergebnisse der Forschung an, machte sich selbst aber von allem, was nicht notwendig zu ihr gehört, endgültig frei. Sie würde zu reinem Leben, das Wissen um das Leben der Wissenschaft und Philosophie überlassend. Hierzu könnte es schon bald kommen. Zu diesem Ende aber muss die Theosophie rein exaktes Wissen werden wollen, sie muss bewusst hinausstreben über das heutige mystisch-unklare Stadium, sie muss auch bescheidener werden in ihrem Zukunftsehrgeiz. Als Urchaos birgt sie nicht eine endgültige Lösung; als Vorstadium einer Wissenschaft, aber keiner positiven Lebensmacht, birgt sie an sich kein Heilmittel gegen die Übel dieser Zeit. Als solches kommt einzig, soweit ich sehe, jene Neuverknüpfung von Seele und Geist in Frage, von welcher der folgende Aufsatz handelt. Rudolf Steiners Instinkt ist richtig, wenn er immer mehr, je älter er wird, den Nachdruck auf den Wissenschaftscharakter seiner Bestrebungen legt. Dass diese zum großen Teil tatsächlich andere Richtungen einhalten und eben dem ihren Massenerfolg verdanken, ist freilich nicht zu leugnen. Steiners Persönlichkeit ist vielfältig; nicht weniges in ihr neigt zum Schwülen, Dunklen, zur Magie und Demagogie. Aber hierbei lohnt es nicht zu verweilen: jeder bedeutende Mensch zum Mindesten sollte ausschließlich nach seinen besten Seiten beurteilt werden; die schlechten hat er mit Hunderttausenden gemein, und auf die Dauer amortisieren sich diese von selbst. Man sollte Steiner dankbar sein für die fruchtbaren Anregungen, die er gibt, sein Bedenkenerregendes möglichst unbeachtet lassen. Wahrscheinlich konnte das Positive in seinem Fall ohne viel negative Begleiterscheinungen nicht hervortreten; wahrscheinlich leidet er selbst darunter, dass er sich dieser nicht entäußern kann. Gleich den meisten Pionieren überschätzt er auch wohl das Bedeutungsbereich dessen, was er will. Auch die Theosophie kann eben nicht alles in allem sein. Sobald sie anderes bewirken will, als Wissenserweiterung, erweist sie sich als Schädling. Soll sie die Religion ersetzen, so führt sie zum Zerrbild der Wissenschaft als Religion. Soll sie Philosophie sein, so verwechselt sie den geistigen Sinn, der ein rein Innerliches, Unobjektivierbares ist, mit seiner äußeren Schale, damit zum schlimmsten Materialismus führend, den es je gab. Auf die bildende Kunst wirkt ihr Einfluss katastrophal, insofern sie die Sünde wider den Heiligen Geist dieser — das Gebot unbedingter Eigentlichkeit des Ausdrucks — leicht als Tugend hinstellt. Und wird sie als mögliche Lebensform missdeutet, so zeugt sie alle die Übel, die theoretische Grundeinstellung in praktischen Fragen notwendig mit sich bringt. Daher das merkwürdige Versagen in menschlicher Hinsicht der meisten Theosophen, die ihre Weltanschauung irgendwie in Leben umsetzen wollen. Noch einmal: die Theosophie als Erkenntnisvermittlerin ist zu begrüßen, und mag sie zunächst noch so viele Phantasmen und Missverständnisse als Wahrheiten hinstellen. Dies wird sich ändern, sobald mehr ernste Geister sich ernstlich mit ihr befassen. Im Übrigen, zumal als religiöse Gestaltung, wird sie sich bald, hoffentlich, überlebt haben2.

1 Vgl. hierzu mein Reisetagebuch (siehe dessen Register unter Religion).
2 Ich hatte nicht erwartet, dass dieser Aufsatz mir den unversöhnlichen Hass der Anthroposophen eintragen würde. Annie Besant hat die kritischsten, Adyar betreffenden Stellen meines Reisetagebuchs in ihrem Theosophist (in dem ja auch der erste Teil dieser Abhandlung zuerst erschienen war) kommentarlos abgedruckt; mehrere sonstige Häupter der theosophischen Bewegung sind der Gesellschaft für Freie Philosophie beigetreten, alle erkennend, dass ich keiner Bewegung feind bin, jede vielmehr zu fördern bereit auf ihrer eigenen Bahn — Rudolf Steiner und seine Anhänger hingegen verfolgen mich in so bitterböser Feindschaft, dass man den Eindruck nicht allein der Angst vor mir, sondern geradezu des Verfolgungswahns gewinnt. Diese Angriffe habe ich einmal berücksichtigt, werde es nie wieder tun, weil sie für mich endgültig erledigt sind. Da meine Erledigung jedoch vielen nicht bekannt sein dürfte, so setze ich sie aus dem ersten Heft des Weges zur Vollendung hierher, so wie sie im Zusammenhang der Bücherschau erschien. Nicht allein ihr allgemeiner Anlass ist von ungewöhnlichem psychologischen Interesse, sondern auch so manche Einzelheit:
… Es ist neben der Eitelkeit wohl das bedeutsamste Symptom von Unweisheit, wenn einer aus sachlichen Differenzen allseitige Ablehnung oder gar persönliche Feindschaft ableiten zu müssen glaubt. Kämen die anderen mir entgegen, ich verkehrte viel lieber mit meinen Feinden als mit meinen Freunden, weil ich von jenen viel mehr lernen kann. Unter wirklich gebildeten Menschen geht dies allemal, weil sich der Gegensatz immer nur auf Teile des Wesens bezieht, und es bei einiger Lebenskunst auch stets gelingt, die Reibungsflächen unberührt zu lassen. Leider ist diese Kunst in Deutschland besonders selten zu finden. Dieses erfahre ich jüngst wieder seitens der Anthroposophen. Sicher hat meine Kritik (in Philosophie als Kunst) der Sache einer möglichen Geisteswissenschaft mehr genützt, als aller blinde Dogmenglaube der Steinerianer zusammengenommen.
Jeder, dem es um sie, nicht um die Person und die Partei zu tun ist, muss spüren, dass ich auch die anthroposophische Bewegung als Trägerin eines positiven Impulses anerkenne, obgleich dieser von Indien stammende Impuls in keiner Weise an die anthroposophische, überhaupt die theosophische Bewegung gebunden ist und an innerlicher gerichteten unstreitig ein entsprechenderes Medium hat. Ich bekämpfe sie nur zu dem Ende, damit sie tatsächlich zu dem wird, was sie zu sein behauptet, einem Erkenntnis­fortschritts­moment. Als auf die Person Steiners eingestellte Glaubensgemeinschaft geriert sie sich leider immer mehr als alleinseligmachende Kirche im antiquierten Geist der Gegenreformation — ein Umstand, an welchem Steiner zweifelsohne nicht unschuldig ist. Geht es noch lange so weiter, so wird der wertvolle Impuls die Anthroposophen­gemeinde endgültig verlassen haben und nur mehr durch deren Gegner fortwirken, von denen heute die meisten, noch so indirekt, vom Geiste Indiens berührt worden sind. — Leider fehlt allzu vielen die nötige Unbefangenheit geistig, und die nötige Bildung menschlich, um solche Scheidung zwischen Geist und Buchstaben, zwischen sterblichem Leib und unsterblicher Seele zu verstehen … — Vorstehende Zeilen waren schon gesetzt, als ich in Nº 21 und 22 (1920) der Steinerschen Zeitschrift Dreigliederung des sozialen Organismus (Stuttgart, Champignystraße 17) die Wiedergabe seiner mir dem Hörensagen nach bereits bekannten Schmährede gegen mich zu lesen bekam. Ich möchte allen, die sich für Steiner interessieren, empfehlen, diese nur 40 Pfennige kostenden Heftchen zu erstehen, denn sie wirken im Zusammenhang mit dem, was ich über Steiner gesagt habe, ergänzend. Dass er meine Weisheit blutlos, abstrakt und leer findet und behauptet, er wisse immer schon im Voraus zu sagen, was Leute meines Schlages vorbringen könnten, das Wesentliche meiner Philosophie sei seelische Atemnot, ein innerliches nach Luft schnappen, und von Anthroposophie hätte ich keinen Dunst, nicht einmal einen blauen, lasse ich gern hingehen; genau gelesen hat er mich offenbar nicht, und mit seiner Verurteilung des Denkers, der von allen, welche zählen, am positivsten zur Geisteswissenschaft steht, auf dessen Empfehlung hin ihn viele zum ersten Male ernst nehmen, schneidet er sich ins eigene Fleisch. Aber dass er mich schlankweg einen Lügner schimpft, von gelinderen moralischen Vorwürfen zu schweigen, und dies in einem so unqualifizierbaren Ton, dass die Stuttgarter Hauptzeitung sich veranlasst sah, dagegen
als eine Herabwürdigung des Rednerpults, eine Beleidigung der Zuhörerschaft, ja eine Vergiftung der öffentlichen Moral
Verwahrung einzulegen, beweist, dass nur zuviel vom Demagogen in diesem Manne steckt; seine Kampfesweise ist häßlich und schlechthin illoyal. Er hakt bei einem ganz unwesentlichen Passus meiner Studie, der keineswegs tadelnd gemeint war, ein (er lautet wörtlich und im Zusammenhang zitiert:
Steiner selbst ist, seinen besten Seiten nach gewürdigt, ein echter Naturwissenschaftler, und kulturgeschichtlich beurteilt, wohl der äußerste Ausdruck des verflossenen naturwissen­schaftlichen Zeitalters, das in ihm in ein geistigeres einmündet. Weshalb es nicht gegen, sondern für ihn spricht, und für sein Wesen jedenfalls symbolisch ist, dass seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging)
und anstatt einen etwaigen Irrtum meinerseits zu korrigieren, was ich mir gern gefallen ließe, denn zu spezieller Steinerquellenforschung habe ich keine Zeit gehabt, was ihm aber in diesem Fall wohl schwer fiele, da seine Studie Haeckel und seine Gegner, soweit ich urteilen kann, beweist, dass er tatsächlich in gewissen Hinsichten von jenem ausgegangen ist, so wenig hier sein Hauptausgangspunkt liege3, zeiht Steiner mich schlankweg der Lüge, worin ihn seine Handlanger seither im Ton noch überbieten. Steiner deshalb gerichtlich zu belangen, was ich wohl könnte, lehne ich ab, denn seit dieser Erfahrung kommt er für mich nur mehr als Untersuchungsobjekt in Frage. Ich berühre den Fall überhaupt nicht, um mich zu verteidigen oder anzugreifen, denn wie immer Steiner zu mir stehe, ich empfinde keine Feindschaft gegen ihn; wie ich 1919 einem seiner Verehrer erlaubte, ein freundliches Urteil über seine Dreigliederungsideen, das ein Privatbrief von mir enthielt, in die Zeitung zu setzen, so habe ich auch keinen Einspruch dagegen erhoben, dass die Darmstädter Anthroposophen ungefähr gleichzeitig mit Steiners Angriffen gegen mich meine wohlwollende Stellung zur Anthroposophie in der Presse als Reklame ausnutzten, und lasse mich seither durch die gegen mich in Szene gesetzte Kampagne (in Heidelberg wurden, einige Tage nach meinem dortigen Vortrag, große Mengen der ominösen Dreigliederungs-Nummer unter den Studenten verteilt) nicht abhalten, für die Sache einzutreten, soweit sie vertretbar ist. Ich berühre den Fall nur deshalb, um an seinem Beispiel recht deutlich zu machen, wie reinlich man zwischen Sein und Können unterscheiden muss. Von Steiners Sein kann ich unmöglich einen günstigen Eindruck haben; noblesse oblige; wer auf höhere Einsicht Anspruch erhebt, sollte verantwortungsbewusster sein. Aber als Könner finde ich ihn nach wie vor sehr beachtenswert und rate jedem kritikfähigen Geist von psychistischer Beanlagung, die seltene Gelegenheit des Daseins eines solchen Spezialisten auszunutzen, um von und an ihm zu lernen. Ich kenne nicht bloß die wichtigsten seiner allen zugänglichen Schriften, sondern auch seiner Zyklen, und habe aus ihnen den Eindruck gewonnen, dass Steiner nicht allein außerordentlich begabt ist, sondern tatsächlich über ungewöhnliche Erkenntnisquellen verfügt. Für den Sinn fehlt ihm jedes feinere Organ, deshalb muss er alle Weisheit abstrakt und leer finden, die sich nicht auf Phänomene bezieht; aber was er über solche vorbringt, verdient ernste Nachprüfung, so absurd manches zunächst klinge und so wenig vertrauen erweckend sein Stil als Offenbarer seines Wesens wirkt, weshalb ich es lebhaft bedauere, dass sein mir völlig unerwartet gekommenes Vorgehen gegen mich mir die Möglichkeit raubt, mit ihm selber persönliche Fühlung zu nehmen. Denn es bleibt wahr, was ich im gleichen Aufsatz, der Steiners Wut gereizt hat, zu dessen Schutz gegen seine Gegner schrieb, dass ein bedeutender Mensch ausschließlich nach seinen besten Seiten beurteilt werden sollte; das Interesse an seinem Wissen und Können darf durch seine Gebrechen und Fehler nicht beeinträchtigt werden. Am gleichen Tage, an dem ich Steiners Schmährede zugeschickt erhielt, empfahl ich einem Schüler von mir das ernste Studium seiner Schriften und sogar den Eintritt in seine Gesellschaft, da dies mir sein Weg zu sein schien und ich in seinem Fall den Kontakt mit dem Bedenklichen, das mit Steiner zusammenhängt, nicht für gefährlich anzusehen brauchte. Man soll nie vergessen, dass schlechthin jedes Wesen vielfältig ist, dass keine schlechte Eigenschaft die guten entwertet; und dass der Charakter einer Gesellschaft ganz und gar vom Geist ihrer vorherrschenden Mitglieder abhängt. Auch die anthroposophische kann noch eine Zukunft haben, wenn der Dogmenglaube und Sektengeist sie verlässt, wenn sie das unsaubere Agitieren aufgibt und wirklich zu dem wird, was sie statutenmäßig sein soll.
3 Martin Mörike hat seither (in der Frankfurter Zeitung vom 16. Oktober 1921) den dokumentarischen Nachweis erbracht, dass Steiner sich einstmals mit Haeckel viel mehr noch identifizierte, als ich in meiner Studie angenommen hatte. Der Aufsatz trägt den vielsagenden Titel Rudolf Steiner und die Wahrheit.
Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Für und wider die Theosophie
© 1998- Schule des Rades
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