Schule des Rades

Hermann Keyserling

Philosophie als Kunst

Entwicklungshemmungen · Ein Mahnwort an diese Zeit

Modernen Menschen

Es ist schwer zu sagen, wo unsere Zeit hinauswill. Sicher scheint wohl, dass wir eine Umwandlung durchleben, wie es deren seit Jahrhunderten keine bedeutsamere gegeben hat; aber welche Gestalt das Neue, das sich allenthalben zu bilden beginnt, annehmen wird, lässt sich noch nicht erkennen, nur in wenigen Fällen erraten. Alle Vergleiche mit Vergangenem versagen. Was an unserer Zeit Wiederholung scheint, ist es doch nur im allgemeinsten Sinn, im Sinn der Naturformen des Menschenlebens: wie jeder Einzelne, wer immer er sei, in den Windeln beginnt und im Grabe endet, so folgt auch der Fortschritt der Völker einem einheitlichen Rhythmus. Aber der Rhythmus gestattet keinen Schluss auf die Melodie. Unser Zeitalter trägt so individuelle Züge, dass zu seinem Verständnis jede generelle Betrachtung unzulänglich erscheint.

Und diese Eigenart ist ihrerseits sehr schwer zu definieren. Der Bestandteile sind so viele, sie bedingen und bestimmen sich wechselseitig auf so vielfache, schwer zu deutende Weise, dass ein umfassender Überblick über ihren Zusammenhang kaum zu gewinnen ist. Man mag etwas Gegenständliches aussagen, wenn man vom Renaissancemenschen, dem Menschen des Mittelalters als einem einheitlichen Typus spricht: den modernen Menschen gibt es nicht; spätere Zeiten werden über dieses Geschöpf einer voreiligen Ordnungsliebe lächeln. Wenn wir sämtlich schneller leben, als unsere Großväter es taten, wenn viele unter uns nervös und die Meisten in irgendeiner Hinsicht zerrissen sind, so reichen diese Züge doch nicht hin, etwas Lebendiges zu umgrenzen; sie bedeuten abstrahierte Schemen, deren einzige Wirklichkeit am konkreten, überall verschiedenen Inhalte haftet. Der Charakter, den künftige Geschlechter dem gegenwärtigen zusprechen werden, wird vermutlich sehr anderer Art sein, als ihn der Zeitgenosse sich in seiner Beschränktheit ausmalt. Denn wie dank der technischen Überwindung des Raums kein Land mehr als Monade existiert und nur der ein Ereignis in Serbien vollkommen begreifen dürfte, dessen Gesichtsfeld zugleich Neuseeland einschließt, ebenso bedingt es die unübersehbar reiche Erbschaft, die jeder von uns in seinem Blut und seiner Geistesbildung birgt, dass es für die möglichen Voraussetzungen und Richtungen des Daseins eigentlich keine Grenzen mehr gibt; die entlegenste Vergangenheit wie die fernsten Räume sind in Punkt und Augenblick lebendig. Blicken wir um uns: unter modernen Menschen gewahren wir nicht allein Amerikaner und Ästheten, Journalisten und Juden, sondern auch Mystiker, Humanisten und Condottiere, Urmenschen und Dekadente, Mönche und Ritter des Mittelalters, Byzantiner und solche, die vielleicht gewaltige Päpste hätten werden können — sie alle echtgeborene Kinder ihrer Zeit. Wer deren Geist fassen will, darf keine seiner Erscheinungen verleugnen. — Man mag nun freilich auf diesen unbestimmbaren, flackernd-vieldeutigen Charakter unserer Epoche als ihr wesentliches Merkmal hinweisen: so berechtigt dies wäre, so wenig förderte es das Verständnis; bloße Wahrnehmung ist noch keine Erfahrung. Jeder Aufrichtige muss zugestehen, dass er die mögliche Totalauslösung der Spannungen unserer Zeit, ihren Ausgang und damit ihre historische Stellung zu erkennen nicht in der Lage ist.

Nun steht unsere Zeit in dieser Hinsicht gewiss nicht einzig da. Unter einfacheren Verhältnissen mag die Zukunft mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erraten sein, tatsächlich vorauszuwissen ist sie nie. Denken wir an das Einzelleben, das in dieser Richtung dem der Völker durchaus parallel geht: schon das banalste Schicksal, das sich überall dem gegebenen Rahmen fügt, entzieht sich der Voraussicht; es kann immer anders werden und wird in der Regel auch anders, als das Gewesene zu versprechen schien. Um wieviel mehr gilt solches von komplizierten, von großen Naturen! — Allein gerade bei letzteren gewahren wir etwas Merkwürdiges, beim ersten Eindruck Überraschendes, weil es der soeben festgestellten Wahrheit zu widersprechen scheint: so wenig sie die Zukunft vorauswissen konnten, so wenig sie sogar ihre eigenen Motive übersahen, so genau wussten die Großen doch stets, was sie um der Zukunft willen zu tun hätten. Ich glaube nicht, dass Männer wie Cäsar oder Goethe in dieser Hinsicht je fehlgegangen sind. So mussten sie doch um die Richtung wissen, die sie zum Ziel führte, sie mussten fühlen, was ihrem Schicksal hold und was ihm feindlich war. Ja, in diesem Sinn ist sich wohl jeder lebendige Geist seiner Zukunft dunkel bewusst: er ahnt, was er soll und was er darf, was er leiden und vermeiden muss, und dieses höhere Gewissen ist unabhängig von allen äußeren Normen. So fällt denn die Unkenntnis dessen, was sein wird, keineswegs mit dem Nichtwissen dessen zusammen, was wir zu tun haben; so verborgen das Ziel uns bleibt, so gewiss erkennen wir den Weg. Ein blinder Seher, ebnet der Mensch seinem Schicksal die Bahn. — Aber dieses Schicksal reiht sich seinerseits in weitere Zusammenhänge ein. Der Einzelne ist so sehr Teil eines Ganzen, hängt so innig mit seiner Zeit zusammen, dass er von dieser, ihren Möglichkeiten und Notwendigkeiten, gar nicht loszulösen ist. Beim Rückwärtsschauen erweist es sich allemal, dass jeder noch so freie, noch so persönliche Antrieb doch zugleich im Sinne dessen gewirkt hat, was Hegel den Weltgeist nannte. Jeder spätere Denker, so unbedingt er sich dünken mag, nimmt das Problem dort auf, wo es sein Vorgänger liegen ließ; jeder große Staatsmann verkörpert in seinem Wollen das Streben seiner Zeit. Sogar die Massenströmungen, die Moden und Augenblicksstimmungen, in ihren Gebärden willkürlich genug, stehen doch in festem Bezuge zu den großen Linien der Weltentwicklung. Daher kommt es, dass der Einzelne, für den sein eigenes Schicksal lebt, sich ursprünglich zugleich der Richtung bewusst ist, die seine Zeit verkörpert. Ohne das Ziel zu kennen, kann er doch wissen, wohin sie soll und was ihr frommt, ob sie richtig oder irregeht.

Hermann Keyserling
Philosophie als Kunst · 1920
Entwicklungshemmungen · Ein Mahnwort an diese Zeit
© 1998- Schule des Rades
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