Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

V. Das Prinzip der Polarisation und die Ehe

Liebe und Verehrung

Es bedarf wohl keiner grundsätzlichen und ausführlichen Erörterung dessen, was Polarität ist und worin ein polares Verhältnis besteht (AV, IV). Wenige kurze Hinweise auf das Prinzipielle dürften genügen, um das, worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, einzuleiten. Das Wesentliche an jedem polaren Verhältnis, dessen elementarste und deshalb verständlichste Illustration die funktionell zusammenhängenden zwei Brennpunkte einer Ellipse darstellen sowie die zwei Pole, durch deren Korrelation hindurch jedes elektrische Phänomen sich äußert, besteht darin, dass jeder Pol zu seiner eigenen Realisierung oder Selbst-Konstituierung das fordert, evoziert und schafft, was er selbst nicht ist, was ihn jedoch ergänzt. So ruft in jedem polaren Verhältnis das Entgegengesetzte sein Entgegengesetztes ins Leben; im Höchstfall schafft ein Pol in seinem Gegenpole das, was er selbst nicht ist und nicht besitzt. Das psychische Verhältnis der Geschlechter zueinander (mit dem physischen brauchen wir uns hier nicht zu befassen) ist nun genau in diesem Sinne polar; so geschieht es mit Unvermeidlichkeit; dass Frauen, je männlicher die Männer sind, in Korrelation mit welchen sie sich entwickeln, desto weiblicher werden und umgekehrt. Jedes Geschlecht evoziert sein Gegen-Geschlecht zu dessen höchstgesteigerter Identität. Nun wird seit Jahrtausenden immer wieder behauptet, der Mann verträte das Prinzip des Geists, das Weib dasjenige der Erde. Insofern die Seele dem Erd-Teil des Menschen zugehört, trifft diese Bestimmung im großen ganzen zu. Nur folgt daraus nicht das, was meist daraus gefolgert worden ist, sondern etwas, woran kaum je bisher gedacht worden ist: gerade wegen ihrer Erdhaftigkeit hat das Weib die entscheidende Rolle in der Vergeistigung des Menschen­geschlechts gespielt. Das Geistige im Manne ist es, was, sobald Höheres als körperliches Begehren im Spiele ist, die Frau am stärksten anzieht und fesselt. Daher ihr Kult des Helden und des großen Glaubenden: Mut und Glaube sind die Primärausdrücke des Geists (SM, X). Daher die Tatsache, dass es immer zuerst Frauen waren, die sich zu neuer Geist-Religion bekehrten und sie verbreiteten, die zuerst werdende Künstler erkannten und verstanden. Doch der paradoxale Tatbestand, dass die Frau gerade wegen ihrer Erdhaftigkeit besonders innig am Prozess der Vergeistigung des Menschen beteiligt ist, lässt sich bis in das Elementare hinab verfolgen; seine Erdwurzeln hat er in Ur-Eigenschaften des weiblichen Geschlechts. Die Frau und nicht der Mann ist ursprünglich dazu geneigt, zu unterscheiden und zu wählen: echtes Verständnis und gerechtes Urteil sind aber ohne Diskriminierung unmöglich. Der primitive Mann ist vom primitiven Verallgemeinerungsstreben des Intellekts besessen; so fehlt gerade ihm, obgleich er de facto als Geist das Einzigkeitsprinzip vertritt, wie das Weib als Seele die Gattung, ursprünglicher Sinn für das Einzige. Er fasst zusammen, aber er unterscheidet nicht. Demgegenüber unterscheidet die Frau aus Elementar-Instinkt, und dieses zwingt den Mann oder legt ihm nahe, seinerseits das Unterscheidungsvermögen auszubilden. So ist die Frau die wahre Initiatorin der Analyse, insbesondere auch der Psychoanalyse, deren wirklichkeitsgerechte Grundsätze wohl schon Eva richtig angewendet hat. Neigt die Frau also theoretisch zur Diskriminierung, so treibt sie ebenso elementarer Instinkt, dieser praktisch die Wahl folgen zu lassen: sie wählt einen Mann unter vielen, und damit behauptet und bejaht sie dessen Einzigkeit. Der Exponent alles Universellen nun aber ist das Einzige und nicht das Allgemeine (SE, 434; W, 180, 189, 211, 253, 280, 558). So ruft die Frau im Mann den Sinn für Einzigkeit überhaupt wach und damit die Einstellung, dank welcher allein er später seines eigenen Selbstes innewerden kann. Von Hause aus hat der Mann für Einzigkeit keinerlei Sinn; immerdar verwechselt er das Universelle mit dem Allgemeinen.

Doch nicht genug dieser segensreichen Einwirkung der Frau auf die Geistesentwicklung: tiefes Verständnis und schon gar Spiritualisierung sind unerreichbare Ziele, bevor der Mensch gegenüber seiner Elementar-Natur Distanz gewonnen hat. Gerade Distanz nun fordert die Elementar-Natur der Frau. Daher ihr Sinn für Formen, welche sie selten erfindet, jedoch allemal sofort akzeptiert, sobald sie merkt, dass sie ihr Sicherung gewähren; nur die Verpflichtetheit des Mannes durch konventionelle Norm, bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten, beschützt ihre Schwäche ursprünglich vor seiner Brutalität, und Elementar-Wissen darum lebt auf den höchsten Kulturstufen fort. Da nun alles Höhere sich auf Elementarem aufbaut oder aber sich in dieses eingebildet haben muss, um auf Erden wirksam zu werden, so darf man sagen, dass alle spätere innere Distanz, die den vergeistigten Mann kennzeichnet, durch das Sicherungsbedürfnis des Weibes vorgebildet worden ist. Insofern darf man weiter behaupten, dass die Frau auch den Schönheitssinn des Mannes erweckt hat, denn es gibt keine Schönheit ohne Form, und alle vollendete Form ist schön. Alles das, um dessentwillen man das weibliche Geschlecht das schöne heißt, geht ursprünglich auf diesen elementaren Formensinn zurück. Und so erweist sich schließlich die Frau verantwortlich für das Dasein von Kultur überhaupt, obgleich sie nie selber solche geschaffen hat. Es gibt keine vollkommene Sinnesverwirklichung ohne geschlossene Form; je vollendeter diese, desto mehr ist der Sinn realisiert (SE, 265, 329; W, 232). Folglich gibt es keine Kultur ohne anerkannte Grenzen. Doch für das Geschlossene hat nur die Frau ursprünglichen Sinn (AV, 43-50). Gedenken wir jetzt noch des im Kapitel Vorherrschaft der Frau von Amerika ausführlich behandelten Verhältnisses, dass auf geistigem Gebiet die Frau inspiriert d. h. befruchtet, und der Mann gebiert, so haben wir an diesem einen Beispiel, wenn auch nur hindeutend, die ganze Tiefe und die ganze Weite dessen bestimmt, was das Wort Polarisierung im Zusammenhang des Lebens bedeutet.1 So können wir uns nunmehr ohne Zwischenüberlegungen neuem Prinzipiellen zuwenden. Im Vorhergehenden ward an besonderem Beispiel der allgemeine Sinn der Schöpfung im Unterschied von der Entwicklung oder Fortentwicklung bestimmt. Während diese ent-wickelt, das heißt ausführt, was gegebene Voraussetzungen vorausbestimmt oder impliziert hatten, setzt jene neue Voraussetzungen als Ausgangspunkte neuartiger Entwicklung in die Welt. Neue Voraussetzungen nun entstehen auf Erden ausschließlich als Ergebnis von Polarisierung. Alle Schöpfung auf Erden ist das Ergebnis eines Polarisationsprozesses, so wie das Kind aus dem Zusammenwirken von Mann und Weib entsteht. So drückt sich die Tatsache, dass der Mensch wesentlich eine Beziehung und keine Monade ist, im vorliegenden Zusammenhang so aus, dass die Steigerung des Menschen über einen gegebenen Zustand hinaus allemal eine Spannung zu anderem voraussetzt, welche Spannung nicht etwa zu einer Lösung oder einem Ausgleich führt, sondern zur Geburt eines Neuen.

Die schöpferischeste Spannung unter Menschen ist die zu einem geliebten oder verehrten Du. Liebe und Verehrung schaffen das schöpferischeste Kraftfeld, weil sie sich unmittelbar auf das Persönliche anderer Persönlichkeit beziehen. So erfährt in ihnen gerade die einzige Persönlichkeit die größtmögliche Steigerung und Bereicherung. Es erwachen in ihr alle schlummernden Kräfte, Keime entfalten sich, das Selbst assimiliert sich, wovor es sich vormals abschloss. Und im Verschmelzungsprozess wird vieles anders, als es ehedem war. Es gibt nun aber ausschließlich geistige Persönlichkeit. Diese Bestimmung besagt das Folgende: alle Dinge und Begebenheiten sind zunächst nur da, sie sind ohne von menschlichen Voraussetzungen aus evidente oder auch nur unmittelbar fassbare d. h. menschliche Bedeutung. So sind auch alle Schichten des Menschenwesens bis zur Seele hinauf zunächst nur da, ohne persönliche Beziehung zum Selbst. Immer wieder, in allen Zusammenhängen, die unsere Betrachtungen zu behandeln Anlass gaben, haben wir nun betont, dass das Ziel der Erfüllung persönlichen Lebens dieses Eine als das Eine, was nottut fordert: alles Nicht-Ich persönlich in sich hineinzubeziehen und alles das persönlich auf sich zu nehmen, mit dem man sich ursprünglich nicht identisch fühlt und auch nicht notwendig zu identifizieren braucht. Dieses ist der tiefste Sinn der Forderung Werde, der du bist und auch der tiefsinnigen, auf den ersten Blick schwerverständlichen Erklärung Luthers zur dritten Bitte des Vaterunsers:

Gottes guter gnädiger Wille geschieht wohl ohne unser Gebet; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns geschähe.

Bei Behandlung des unpersönlichen Charakters des Ur-Zusammenhangs der Menschen zeigten wir schon (S. 144), dass sich das eigentlich Persönliche hier nur in der inneren Haltung äußern kann, welche das Selbst dem Kollektivum gegenüber einnimmt. Nun, fassen wir die Bedeutung alles dessen, was in das Bereich vorliegender Betrachtung fällt, kurz zusammen, so gelangen wir zum Ergebnis, dass die Verpersönlichung offenbar darin besteht, dass dem an und für sich Nicht-Persönlichen ein persönlicher Sinn erteilt wird. Sinn ist nun ein rein und ausschließlich Geistiges, und aller Geist bedeutet zutiefst Sinn (SE; W; A, II, X). So besteht die Entwicklung und Entfaltung geistiger Persönlichkeit letztendlich darin, dass die Ebene des Sinnes zur eigentlichen Bewusstseins-Ebene wird, dass, wie wir es anderweitig einmal ausdrückten, der Geist zum biologischen Zentrum des Menschen wird und der Sinn des Lebens zum eigentlichen Leben. Doch der Sinn an sich hat keinen Körper; er muss sich verkörpern, um manifest zu werden; für sich lebt er, wie die Inder sich ausdrücken, jenseits von Name und Form. Der unmittelbare Körper des geistigen Sinnes ist nun beim Menschen seine Seele. Geistige Persönlichkeit entsteht, wenn individuelle Seele begeistet wird.

Von hier aus, im Zusammenhang mit dem früher Ausgeführten, gewinnen wir einen Zugang zum Verständnis des Du in seiner nicht seelischen, sondern geistigen Bedeutung. Da der Mensch sich nur als begeistete Seele erfüllen kann, und es seelische Beziehungen sind — persönliches Interesse, Liebe, Leidenschaft oder deren Gegenerscheinungen — welche den Geist ins Erdenleben hineinbeschwören, so ist auch auf der Ebene geistiger Persönlichkeit kein Ich zu denken ohne korrelatives Du. Die Organe der Seele, die Gefühle, sind eben sämtlich gerichtet. Ist deshalb kein Korrelat da in der Welt materialisierter Phänomene für ein gegebenes Ich, so schafft es sich ein solches in der Phantasie, oder es überträgt die eigensten Bilder seines Unbewussten auf beliebiges Äußeres. Hier erfassen wir denn die metaphysischen Tiefen der Idee jener christlichen Liebe, deren nur-seelische das heißt empirische Aspekte wir bereits bedachten: sie bedeutet recht eigentlich spiritualisierte Freundschaft. Die Phänomene vollentfalteter emotionaler Ordnung dienen hier zum Vehikel reinsten unirdischen Geists. Die ganze Paradoxie der reinen Geist-Ordnung (SM, XI, XII) erscheint hier dem Erd-entsprossenen Seelenleben eingebildet. Damit aber erfolgt notwendig eine Betonung der Einzigkeit, welche Familien- und Freundschaftsgefühl für sich nicht setzen, so persönlich sie im übrigen seien. Das Christentum lehrt nicht den Affektions-, sondern den unendlichen Einzigkeits- und damit den Ewigkeitswert der Einzelseele. Es bejaht nicht den einem Liebesbunde zugehörigen unabhängig von seinem Wert, wie Familie und Freundschaft, sondern die Sündigkeit d. h. Wertlosigkeit des nur-Empirischen erkennend und behauptend, fordert sie den Ewigkeitswert des rein-Persönlichen und beschwört diesen damit in die irdische Erscheinung hinein. Daher die Transfigurierung, von der jeder Heilige, welcher je gelebt hat, ein eindeutiges Beispiel gibt. Der echteste Christ des letzten Jahrhunderts war ein Nicht-Christ im dogmatischen Verstand, der indische Mystiker Ramakrishna Paramahamsa. Dieser war zuletzt physiologisch unfähig, in irgendeinem Weibe anderes als die göttliche Mutter zu sehen und im elendesten Paria anderes als einen Aspekt des Göttlichen. Das bedeutet, dass der völlig vergeistigte Kern-Mensch, welcher als Keim in jedem Menschen wenigstens schlummert, in Ramakrishna so ausschließlich bestimmend geworden war, dass er auch in anderen nur ihn sah und in rein göttlicher Liebe alle umfing und doch jeden Einzelnen dabei so, als sei er der einzig Geliebte. Die Möglichkeit solcher Transfigurierung lebt nun in jedem Menschen, weil jeder eben zutiefst geistiger Kern-Mensch ist. Daher die grenzenlose Idealisierung des Geliebten bei erster offenbarungsmäßig das Bewusstsein überschwemmender großer Liebe und die der Heiligkeit ähnliche Transfigurierung, die jeder Gefühlsreiche noch so kurze Zeit erlebt, solang er sich in diesem Zustande befindet. Da will er nur geben und schenken, nichts Schlechtes und Niederes bemerkt er auf dieser Welt. Dementsprechend ist die Gemeinschaft der Heiligen, welche einander im Himmel von Ewigkeit zu Ewigkeit lieben, ein durchaus gegenständlich gebildeter Grenzbegriff. Solang die Seele Lebenszentrum ist, und sei diese noch so begeistet und durchgeistigt, kann überhaupt kein Ich bestehen ohne entsprechendes Du. Diese Behauptung impliziert, wohlgemerkt, durchaus keinen metaphysischen Pluralismus und auch keine pluralistische Ontologie. Hier wurde nicht ein Wort darüber hinaus gesagt, was sich kritisch begründen oder rechtfertigen lässt. Es ist von dem Standpunkt, den wir bisher erreicht haben, ganz einfach nicht auszumachen, ob nun der reine Geist im Menschen auf metaphysischer Ebene individuell ist oder einem Alleins angehört. Dafür ist sicher, dass jedes in der Seele verkörperte Ich durch seine bloße Existenz ein Du setzt.

Und nun vermögen wir auch, ohne weitere Auseinandersetzung, zu erkennen, worin der instinktiv von jedem erstrebte Einklang besteht, in sich zunächst und dann in bezug auf seine Nächsten und über diese hinaus mit der Welt. Ich sage Einklang, denn jener Friede, welchen der Osten für sich und andere als Höchstes ersehnt und herabfleht, bedeutet auch durchaus nicht Friede im pazifistischen Verstand, sondern Einklang; er entspricht dem deutschen Heil! Auch Gesundheit ist Einklang und nicht Friede. Das Nicht-Ich der Mineralität, der Reptilität, des Blutes, der Gana, des Kollektivums gilt es zunächst zu beseelen und von der Seele her durchdringend zu vereinheitlichen. Doch erst nachdem die Seele ihrerseits auf geistigen Sinn zurückbezogen worden ist, ist der Mensch für sein eigenes Gefühl und seine eigenen Begriffe integriert. Dann erst hängt die Vielfalt so notwendig und organisch in seinem Ich zusammen, wie sie’s im Falle eines vollendeten Kunstwerks tut. Nun aber steht jeder überdies in notwendiger Beziehung zu allem, was es außerhalb seiner gibt, und dies zwar auf allen Ebenen. Er ist in absolutem Sinne Welt-offen; gegen nichts kann er sich abschließen, ohne dadurch persönlich geringer zu werden. Wie er dem anorganischen All als integrierender Bestandteil zugehört, so ist er andererseits integrierender Bestandteil der Gesamtheit des Lebendigen, auf alles Lebendige bezogen, mit seiner Pflanzenheit auf alle Pflanzen, mit seiner Tierheit auf alle Tiere; mit den kollektiven Trieben seines Wesens ist er selbst Kollektivum, als Seele Bestandteil eines weit über ihn hinausreichenden Seelenraums. Auf der Stufe geistiger Persönlichkeit offenbart sich ein neuer Zusammenhang, welchem der Mensch angehört: der zwischen jedem geistigen Ich und jedem geistigen Du. Dieser Zusammenhang ist es, welchen die Gesammeltheit der Kirche (S. 165) auf besonderer Ebene zu materialisieren sucht.

Je intensiver ein Mensch sich also als Beziehung, im Gegensatz zur Monade, als Bezieher und Bezogenes zugleich fühlt, desto reicher entfaltet er sich und desto tiefer wird er. Da nun setzen Polarisationsprozesse auf allen Ebenen ein. Doch eben zur Erfassung der ganzen Tiefe und Reichweite dieses Sonderproblems waren die vorhergehenden noch so kurzen allgemeinen Betrachtungen unbedingt vonnöten. Denn nun können wir ohne besondere Erörterung und Begründung des Besonderen das für das persönliche Leben entscheidend Wichtige als bündige These formulieren. Nichts widerstreitet der wahren Bestimmung des Menschen und der Idee seiner Erweiterung zu immer größerem inneren Reichtum und seines Aufstiegs zu immer freieren Höhen mehr, als eine Verengerung des Gebietes möglicher Erfahrung und damit möglicher Polarisierung. Alle dem entgegenstehenden Normen der Religion, Moral und Ethik sind atavistische Produkte der Ur-Angst, oder aber Ausgeburten niedersten Neids. Nichts, was den Menschen freier, reicher, weiter und größer macht, kann aus Geistesgründen negativ bewertet werden, und umgekehrt nichts, was ihn einengt, verdürftigt, versklavt, anders als negativ. Hier haben die meisten der Vorurteile zu fallen, die noch innerhalb fast aller Gemeinschaften und auch noch für die Überzahl der Individuen Geltung besitzen. Wenn jede neue Polarisierung in beiden Polen neue Innen-Kräfte weckt, wenn jedes intensive Gefühl vertieft und neuen Geist beschwört, dann ist es irrsinnig, gerade Liebesbeziehungen ein für alle Male zu normieren und gar der Einzahl gegenüber der Vielzahl den Vorrang zu geben. Man sollte im Gegenteil wissen: wer da nur einer Beziehung — nicht nur in der Folge, sondern auch gleichzeitig — fähig ist, der ist ein dürftiger Geselle. Man sollte also nicht so wenig als möglich, sondern so viel als möglich emotionale Interessen haben und pflegen. Denn auf dem höheren Seinsniveau, das allein ich hier im Auge habe, stellt sich die Frage gegenseitiger Störung nicht mehr: je höher entwickelt eine Seele, desto schärfer und deutlicher ist sie sich der Verschiedenheit jeder Sonderbeziehung bewusst. Die Liebe zu einem Menschen kann niemals die gleiche sein wie die zu einem anderen. Überdies gibt es generell verschiedene Arten von Liebe: eheliche, wesentlich nicht-eheliche, amitié amoureuse, Freundschaft, Familienzuneigung, verehrende Liebe zum Meister oder Führer, Vater-, Mutter-, Kindesliebe usf. Sie alle können gleich heiß und allversengend sein; sogar die Gottesliebe kann alle Zeichen der Erotik zeigen. Bei der Differenziertheit, dem Reichtum und der inneren Distanz, die eine Persönlichkeit kennzeichnet, welche sich alle Gelegenheit zunutze machte, die ihre Sonderstellung im Kosmos ihr bot, stört kein Sondergefühl irgendein anderes; alles kann nebeneinander bestehen, in Harmonie und Kontrapunkt. In solchem Falle gleicht der Mensch einem vielfältigsten und doch vollendet zusammenspielenden Orchester. Wer sich hier auf altehrwürdige Vorurteile beruft, der gedenke nur der kanonischen Vorstellung von der Liebe Gottes: diese umfasst die ganze Schöpfung und ist doch auf jeden Einzelnen gleich intensiv persönlich bezögen. Das kann nur sein, weil — obschon dies keinerlei Dogmatik lehrt — Gott absolutes Unterscheidungsvermögen sowohl als Verschiedenseinkönnen zugetraut wird.

So ist es Zeit, dass jede moralische Entrüstung darüber grundsätzlich aufhöre, dass die meisten großen Männer und auch die meisten bedeutenden Frauen beziehungsreich in ihrem Gefühlsleben gewesen sind: es sollten vielmehr die Armen im Herzen bemitleidet und die Pharisäer noch schärfer verurteilt werden, als schon durch Jesus geschah. Goethes Doch widmet sich das Edelste dem Einen ist beinahe immer missverstanden worden: besagter Vers verherrlicht keineswegs die Monophonie des Herzens, sondern stellt nur das Gefühl zum Einen dem im Allgemeinen verschweben gegenüber. Goethe meinte Einzigkeitsbeziehung, das Gegenteil der Liebe eines Don Juan, welcher an jeder Frau dasselbe erlebt. Aber ganz offenbar steht auch auf dem Gebiet des Herzens die Polyphonie über der Monophonie (AV, VI). Wer da nur einen Menschen lieben kann, beweist damit, dass er nur einer Art Liebe fähig ist. Dementsprechend ist denn die Treue, so wie sie meist verstanden wird und tatsächlich am häufigsten vorkommt, überhaupt nichts ethisch Wertvolles: sie bedeutet nur Festgelegtsein. Festgelegtsein, das heißt Verfallenheit, ist aber immer nur möglich von der Unterwelt her (SM, 162); nur sie bindet, nur sie ist träge, der Geist hingegen befreit, und je mehr er bestimmt, desto freier und selbstherrlicher erscheint der Mensch in allen seinen Beziehungen. Das Ideal liegt in grenzenlosem Beziehungsreichtum, nicht in Beziehungsarmut. Jede als einzig empfundene Beziehung stellt ja den Beginn dar einer neuen Weltschöpfung; an jeder wird jeder in der Seele tief Ergriffene reicher. Wer hätte es nicht gesehen, wie innerlich treueste Ehefrauen am ihnen selbst oft unbewussten Besessensein durch einen anderen Mann innerlich wachsen und so auch ihrem Gatten und ihren Kindern viel mehr sein können, als sie früher waren? Wer hätte es nicht erlebt, wie Männer daran verdürftigen und verkümmern, dass eigenes Vorurteil es ihnen verbietet, die Möglichkeit innerer Bereicherung auszunutzen, welche ein neues Gefühl für sie bedeutete? Ich rede gewiss keinerlei Libertinage das Wort: der Wert jeder Beziehung liegt in ihrer Seelenhaftigkeit, als welche im Höchstfall mit geistiger Spannung und Erfüllung zusammenfällt. Geschlechtliche Beziehungen als solche sind völlig uninteressant, die gehören zum untermenschlichen Gesundheitsproblem. Auf den Erlebnisreichtum und die Erlebnistiefe kommt es an. Erfüllt sich die Liebe zwischen Mann und Frau für das innerste Gefühl vollkommen nur, wenn auch der Körper mitschwingt, so liegt das am Ideal des Einklangs aller Schichten seines Wesens, welches jeder in sich trägt. Doch es gibt stärkste und tiefste Gefühle, welche keinerlei physische Entsprechung haben können. Immerhin wirkt Polarisierung desto schöpferischer, je mehr Schichten des Menschenwesens an ihr beteiligt sind.

Wir haben uns im vorhergehenden ausdrücklich mit der Dynamik polarer Beziehung beschäftigt. Aber es gibt keine Lebensäußerung, welche nicht auch ihren statischen Aspekt hätte. Von diesem statischen Moment hängt alle mögliche Dauerhaftigkeit ab. So gibt es auch eine und nur eine Form polarer Beziehung zwischen Menschen, welche ebenso Dauer schafft und Dauer ist wie die Familienbeziehung, nur auf der Ebene geistiger Persönlichkeit. Das ist die Ehe. Daher ihre völlig einzigartige Bedeutung für das persönliche Leben.

1 Ich muss hierwohl, um möglichem Missverstehen vorzubeugen, das an zwei früheren Stellen (S. 72, 208) über die mann-männliche Liebe und Freundschaft Gesagte in anderer Blickrichtung ergänzen. Selbstverständlich bedingt und bedeutet auch sie Polarisierung, die unter besonderen Umständen ebenso fruchtbar wirken kann, wie mann-weibliche. Doch Erfahrung lehrt, dass der Bereich dieser besonderen Umstände sehr scharf und engbegrenzt ist, nämlich bis auf abnorme Fälle ganz und gar auf die verschiedenen Abarten des normalen Meister-Schüler-Verhältnisses, als welches, physiologisch geurteilt, eine Abart des Vater-Sohn-Verhältnisses darstellt. Letzteres wirkt aber nie im gleichen Sinne und vor allem nie gleichermaßen schöpferisch polarisierend, wie das zwischen Mann und Frau. Auf allen Gebieten des Lebens herrscht das Gesetz der Entsprechung von Ebene zu Ebene; darum ist es normalerweise ausgeschlossen, dass ein Mann von einem anderen Mann, soviel er ihm seelisch-geistig bedeute, so tief ergriffen werde, wie von einer geliebten Frau, vor allem aber, dass er gleichviel in ihm evoziere wie sie. Der Homoerotiker, welcher auf Einfluss aus ist und der sich natürlich meistens Führer heißt, ist darum typischerweise Verführer: er muss junge Menschen richtiggehend seelisch verführen, auch wo er keinerlei homosexuelle Betätigung anstrebt, um das von ihm gewünschte Polaritätsverhältnis, das von der Natur nicht vorgebildet ist, künstlich zu schaffen, und dessen Früchte entsprechen dieser Künstlichkeit. Daher das typischerweise Verbildende des Bildungs-Einflusses des begabten Homoerotikers auf seinen Kreis. Sein Verführertum grenzt aber scharf ans Kriminelle überall, wo die Neigung zu jener Sonderart von Kreis-Bildung, die dem aktiven Homoerotiker entspricht, in den Dienst des Machttriebs tritt. Da erweist sich der begabte Homoerotiker allemal als Verführer im allerschlimmsten, d. h. in direkt satanischem Sinn. An solchen — nicht allzu seltenen — Meistern können junge Menschen unmittelbar zerbrechen oder auseinanderfallen. Meiner Erfahrung nach kultiviert der (persönlich oft physiologisch durchaus normale) Homoerotiker der gemeinten Gattung, um sein Ziel zu erreichen, nicht selten eine Art künstlicher Schizophrenie — z. B. indem er einerseits den weichsten Versteher spielt, andererseits die grausamste Härte predigt —, die in den von ihm seelisch Abhängigen allzuleicht wirkliche Spaltung einleitet. Bedenkt man alles dies zusammen, dann gelangt man zum Ergebnis, dass Homoerotik unter allen Umständen als ungesund und verderblich gelten sollte. Und zwar ist die homoerotische seelische Einstellung das Verderbliche, durchaus nicht nur die homosexuelle Betätigung. Aus Furcht vor dem Gesetz enthalten sich ja die meisten Homosexuellen solcher, und die allermeisten heiraten…
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
V. Das Prinzip der Polarisation und die Ehe
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME