Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VI. Weltfrömmigkeit

Über alle Grenzen hinaus

Im Zusammenhange dieses Buches kommt es nicht darauf an, wie der Deutsche ist oder war, sondern wie er werden muss, auf dass sein Leben im tiefsten und höchsten Sinn persönlich werde. Und nur zu dem Ende habe ich das Negative der deutschen Uranlage so ausführlich behandelt. Überall im Leben hängen Positives und Negatives organisch zusammen: nur wer da beide Aspekte im Zusammenhange überschaut, kann richtig sehen und führen. So dürfen wir uns denn fortan ohne Rückwärtsschau noch Seitenblicke den ungeheuren Zukunftsmöglichkeiten des deutschen Menschen zuwenden. Alle unsere bisherigen Betrachtungen bewiesen es ja schon: wie unzulänglich der Deutsche jeweils sei — nie braucht er der zu bleiben, der er war. Wie kein zweiter lebender Menschentypus ist er erneuerungsfähig. Das Germinale seines Gemüts bewahrt ihn so absolut, wie es Absolutes im Leben gibt, vor endgültiger Festlegung, und gewährleistet ihm so absolut, als es Absolutes im Leben gibt, die Möglichkeit der Wandlung und Vervollkommnung. Wohl mag er beengendste Schalen und Krusten tragen, wohl mögen diese so zerschlagen werden, dass alles ein für alle Male aus scheint — kaum ist das Keimplasma wieder frei, so beginnt neues Leben, von keiner Vergangenheit belastet. — Dennoch zeichnet die besondere Artung des Deutschen seinen sonst nahezu unbegrenzten Möglichkeiten eine bestimmte Marschroute vor. Nur wenn er diese einhält, kann Höchstes aus ihm werden.

Im Spektrum habe ich ausführlich gezeigt, dass die typische und differentielle Lebensmodalität des Deutschen die eines Er-Lebenden ist — und sehr bezeichnenderweise gibt es in anderen Sprachen ebensowenig ein Wort für Erleben, wie für Gemüt. Das dort und damals Gesagte setze ich hier voraus, und werde nur das behandeln, was im Spektrum fehlt oder was in einem Buch vom persönlichen Leben in anderer Belichtung gezeigt werden muss. Unsere bisherigen Betrachtungen bestimmten nun bereits implizite die tiefste Ursache dessen, warum dem Deutschen das Er-Leben und nicht das aktive Leben das Eigentliche und Wesentliche ist. Die Seele lebt von Erlebnissen; sie nährt sich von ihnen und sie wächst an ihnen. Ist nun der differentielle Charakter eines Wesens germinal, ist demzufolge Werden und Wachsen und Wandel sein eigenstes Ziel, dann liegt auf dem Erlebnis als solchem der Wertakzent — nicht darauf, was bei ihm herauskommt oder wozu es führt. Damit verschiebt sich die Ebene der Wertung. Auf das zweckhafte westliche Denken wirkt die russische Artung, wie sie sich in der großen Literatur der Vorkriegszeit äußerte, fremd, weil dieser das Wichtigste die Aufrichtigkeit als solche ist. Kerenskij konnte die Truppen zu keiner neuen Offensive entflammen, weil seine Beredsamkeit den Soldaten nicht aufrichtig klang. So lässt sich ein Russe kontemplativer Artung auch gern praktisch anlügen und betrügen, weil ihn vor allem interessiert, warum der andere lügt. Dem Deutschen nun kommt es bei seiner instinktiven Wertung an erster und letzter Stelle darauf an, ob etwas ein starkes und womöglich ein ungeheures Erlebnis ist. Er will erschüttert, durchschüttert werden. Eben deshalb sieht er in leichter Behandlung eines Gegenstandes, auch wo sie zweifellos nichts anderes als Meisterschaft bedeutet, Oberflächlichkeit: leicht nehmen an sich ist sündhaft. Und wirklich ist die innere Auseinandersetzung, welche in Ei und Embryo vorgeht, allemal ein schwerer, ja ein katastrophaler Vorgang. In diesem Willen zum Erlebnis als solchen liegen nun sämtliche Katastrophen der deutschen Geschichte und alle Fehlhandlungen in der Tiefe vorgebildet. Der Höhepunkt alles Erlebens ist der eigene Tod. Die konkordante Erfahrung aller Tiefenpsychologie beweist, dass Todesträume allemal einen für den Träumenden positiven Sinn haben. Nie träumt man solche, wenn der Tod bevorsteht: ein Todestraum bedeutet und beweist bevorstehende oder mögliche Wiedergeburt. Das germinale Gemüt nun arbeitet ähnlich dem Traumbewusstsein. So muss es bewusst den Tod als Ziel wollen. Nur aus dem Ende des bisherigen Zustands geht ja der folgende hervor. In diesem Zusammenhange ist der Nibelungen Not schon dem Wortlaute nach das Urbild deutschen Schicksals, und der Nibelungen Tod dessen tiefstes Sinnbild. Es ist urdeutsche Art, gerade das tragische, vom Verstandesstandpunkt sinnlose weil vermeidbare Ende herauszufordern. So kämpften unzählige Deutsche seit der Marneschlacht gerne weiter, gerade weil sie wussten, dass der Krieg verloren war. So las ich 1934 als Motto in einer deutschesten Zeitung: Dass der Weltkrieg tragisch ausging, beweist, dass er einen tiefen Sinn gehabt hat. Das furchtbare Erleben war dem Deutschen an sich höchster Wert. Und dass aus einer Katastrophe entsetzlichster Art die seit Jahrhunderten ersehnte deutsche Einheit hervorgehen konnte, beweist, dass der Deutsche für sich auch praktisch nicht unrecht hat, wenn er die Katastrophe will. So erklären sich auch die folgenden Gedankengänge, welche im Völkischen Beobachter vom 14. August 1934 über den Weltkrieg zu lesen standen:

Wer sich total erneuern will, muss total kämpfen. Zum erstenmal in der Geschichte wurden wir mitten in den totalen Kampf gestellt, kämpften wir nicht gegen zwei oder drei Staaten, nein, einen totalen Kampf gegen alle und mussten so gegen die totale Welt unserer totalen Erneuerung wegen ankämpfen… Nur was im totalen Kampf sich behauptet und nicht zugrunde geht, trägt das ewige Leben in sich. Im totalen Kampfe werden alle Kräfte lebendig, die Voraussetzung für Gottbegegnen und Gotterleben sind. Nur wer den totalen Kampf besteht, kann totale Erneuerung lehren. Wer im totalen Kampf nicht unterliegt, trägt das Samenkorn unerhörter neuer Sendung in sich, weiß um totales Leid, totalen Schmerz, durchschritt die totale Glut… Den totalen Kampf nach außen hatten wir verloren. An ihn schloss sich der totale innere an; ein Kampf aller gegen alle, davon die groteske Vielheit der Parteien Zeugnis gibt, und die Toten im eigenen Land, die den zwei Millionen Toten des Krieges als Opfer folgten… Wir haben den inneren Kampf gewonnen. Und Kräfte fühlen wir einströmen, die nicht von dieser Welt sind, die uns erlösen zur totalen Einheit mit Gott und All… —

Die ungeheure Gefährdetheit so eingestellter Menschen braucht nicht weiter betont zu werden. Aber alles Leben ist ein Stirb und Werde! und je mehr der Nachdruck auf dem Neuwerden liegt, desto mehr muss der Todeswille als Symbol hervortreten. Heute nun ist die eine wirklich wesentliche Aufgabe des Menschen­geschlechts — eine Aufgabe, die sich im äußeren Rahmen der Weltrevolution erfüllt, welch letztere aber nirgends Selbstzweck ist — die, über das bisherige Menschentum hinauszuwachsen. Dies bedeuten übereinstimmend die Sinnbilder des Nietzscheschen und auch des Ouspenskyschen Übermenschen, des Gottmenschen der russisch-christlichen Philosophie, der siebenten Rasse der Theosophen, welche deren Glauben nach die heute herrschende sechste abzulösen berufen sei, und vor allem die Erfahrungstatsache, dass die geistig wirklich bedeutsamen Menschen dieser Wendezeit sich einerseits vereinsamt fühlen, nicht aber weil sie Vergangenheit verkörperten, sondern noch ungeborene Zukunft (AV, VII), also als Propheten, und sich andererseits über alle Grenzen hinaus untereinander verwandter fühlen, als jemals innerhalb geistiger Eliten seit dem Ende der Antike geschah. Hier denn liegt die größte, die ganz große Möglichkeit, die sich in dieser Wendezeit dem deutschen Menschen bietet.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VI. Weltfrömmigkeit
© 1998- Schule des Rades
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