Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VI. Weltfrömmigkeit

Weltoffenheit

Zunächst sei hier ein weiteres landläufiges Missverständnis richtiggestellt: Selbstverständlich ist es nicht wahr, dass das bezeichnete besondere deutsche Gefühl die einzig mögliche echte Naturverbundenheit bedeutete — woraufhin sie anders organisierten Völkern fehlen sollte. Noch kein Deutscher hat sich so tief in den Geist einer Landschaft versenkt wie ein altchinesischer Maler. Keiner liebt seinen Acker mehr und versteht ihn lebendiger als der chinesische Bauer. Kein Mensch ist sich der Schönheitsmöglichkeiten der Natur so innig bewusst wie der Japaner. Heiß ist die Liebe zur bearbeiteten Scholle beim Italiener und beim Südfranzosen, und das nächste Verhältnis zur Erde überhaupt unter Europäern hat der Spanier (SM, IV). Was das deutsche Naturgefühl ausschließlich kennzeichnet, ist nicht einmal der so oft hervorgehobene besondere Sinn für wilde Natur, welchen der Deutsche mit vielen Wald- und Bergbewohnern teilt — es ist ein besonderer Sinn für Wasser, Sumpf, Zwielicht, Mondschein und Waldeskühle. Diese nun sind Entsprechungen des Germinalen: das Keimplasma ist kalt. Von hier aus finden wir denn den Weg zur eigentlichen Differentialbestimmung der Weltfrömmigkeit. Diese bedeutet überhaupt keine Beziehung des erwachsenen Menschen zum Geist oder zur Natur oder zu irgendeinem besonderen Teil der Wirklichkeit mittels differenzierter Organe und Funktionen: sie bedeutet ein integrales Erlebnis-Verhältnis eines Eihaften oder Embryonalen zur als unauflöslicher Ganzheit erlebten Totalität dessen, was ihn umgibt und bedingt, beeinflusst und gestaltet, sonach zum Weltall als Mutterleib. Und eben darum ist keine herausgestellte Geist- und Seelenform, und sei diese noch so bedeutend, des Erlebenden eigentliches Ziel: es ist immer und überall das persönliche Wachsen und Mehrwerden. Von hier aus erhellt denn, inwiefern das Wort Weltfrömmigkeit richtig gebildet ist: letztere bedeutet nicht Religiosität, und doch bedeutet sie persönliches Heilsstreben. Sie bedeutet Heilsstreben im Sinn eines Fortschritts auf dem Wege der Gesamtentwicklung des Weltalls. In ihrem statischen Aspekte ist sie fast tierhafte Identifizierung mit dem Naturverlauf, so wie z. B. Herman Wirth im bloßen Erleben des Kreislaufs der Jahreszeiten als das Gottesjahr Religion sieht — wo es sich hier doch offenbar nur um Meteorologie handelt. Ist Weltfrömmigkeit mit Irrealität des Geists gepaart, dann ergibt dies Romantik im Sinne irgendeiner ihrer vielen Arten und Abarten, die aber alle die gleiche Grundbedeutung haben. Im Falle milden Dynamismus ist Weltfrömmigkeit Heidentum Goethescher Artung. Bei extremem Dynamismus nun aber ist sie das Stimmungs­korrelat zu möglicher Mutation, z. B. vom Menschen zum Übermenschen, wie sie der a-religiöse aber weltfromme Nietzsche prophezeite. Das Wesentliche bei der Weltfrömmigkeit ist aber auf jedem Stadium ihr Naturismus. Nie geht sie von der Voraussetzung aus, dass sich der Geist von der Natur befreien könne: die Natur selber vielmehr soll sich höher hinauf entwickeln.

Das muss sie nun freilich, wenn der Geist einen höheren Grad der Verkörperung auf Erden finden soll. Meinen zweiten Vortrag auf der großen Darmstädter Weisheitstagung des Jahres 1927, Mensch und Erde,1 betitelte ich Der sich wandelnde Planet als Einheit. Dort zeigte ich die lückenlose Vollständigkeit des Zusammenhangs aller Bestandteile und Glieder der Schöpfung durch ihre sämtlichen Phasen auf. Genau wie jede vergangene geologische Epoche durch eine ihr und nur ihr genau entsprechende Fauna und Flora gekennzeichnet gewesen ist, genau so müsse auch der Mensch sich organisch wandeln, nicht bloß eine neue Weltanschauung oder einen neuen Glauben gewinnen, um in neuer Konstellation zu bestehen und höher zu gelangen, als er bisher gelangt war. Alle Yoga, alle Selbstvervollkommnungstechnik wusste dies von je: gerade der Körper muss verwandelt werden, damit, Geist und Seele wachsen können. Die deutsche Weltfrömmigkeit geht von den gleichen Grundvoraussetzungen aus. Doch ist ihr der Begriff der Askese völlig fremd, denn sie vertraut, auf organisches und damit selbsttätiges Werden; einseitige Geisteskonzentration und Willensanspannung kennt sie nicht. Hieraus erklärt sich abschließend die deutsche Unbegabung für echte Religion: nur reine Geistinitiative verbindet das einsame Selbst mit Gott und keinerlei Wer nur den lieben Gott lässt walten. Eben hieraus erklärt sich der eigentümliche Mangel an großen ethischen Persönlichkeiten unter Deutschen. Doch Kinder sind weder religiös noch ethisch, das ist Sache der Erwachsenen; und andererseits können Kinder allein als Ganzheiten zu mehr erwachsen, als sie in ihrem gegebenen Zustande sind. Daher die ungeheure Bedeutung weltfrommer Anlage zu jeder Wendezeit, allwo es kosmische Einflüsse seelisch aufzunehmen und in Korrelation zu ihnen einen neuen Gleichgewichtszustand zu gewinnen gilt.

An diesem Punkte können wir unsere allgemeinen Betrachtungen über das Problem der Polarisation, welche Anfang und Ende des vorigen Kapitels ausfüllten, zu Ende führen. Wir fragten damals, wie jenes Wachstum der geistigen Persönlichkeit zustande kommt, welche jeder Geistbewusste als Ziel seines persönlichen Lebens anerkennt, und unsere erste Antwort lautete: Sie kommt nie aus der Initiative des Einzigen allein zustande, sondern allemal durch Polarisierung mit dem, was er selbst nicht ist. Weiter unterschieden wir zwischen Entwicklung und Schöpfung. Während jene ent-wickelt, das heißt ausführt, was gegebene Voraussetzungen vorausbestimmt oder impliziert hatten, setzt jene neue Voraussetzungen als Ausgangspunkte neuartiger Entwicklung in die Welt. Neue Voraussetzungen aber entständen auf Erden ausschließlich als Ergebnis von Polarisierung. Alle Schöpfung auf Erden sei Produkt eines Polarisationsprozesses, so wie das Kind aus dem Zusammenwirken von Mann und Weib entsteht. So drücke sich die Tatsache, dass der Mensch wesentlich eine Beziehung und keine Monade ist, im vorliegenden Zusammenhang so aus, dass die Steigerung des Menschen über einen gegebenen Zustand hinaus allemal eine Spannung zu anderem voraussetzt, welche Spannung nicht etwa zu einer Lösung oder einem Ausgleich führt, sondern zur Geburt eines Neuen. Und wir schlossen unsere damaligen Betrachtungen mit den Sätzen:

Niemals ist der Mensch allein, und nichts vermag er aus sich selbst allein. Um persönlich zu wachsen und voran- und höher hinanzukommen, bedarf er der Mitwirkung der ganzen Welt. Eben deswegen kann er im Höchstfall deren Angel sein. —

Bedeutet unter diesen Umständen die Germinalität, wie sie das deutsche Gemüt kennzeichnet, und die ihr entsprechende deutsche Grundstimmung der Weltfrömmigkeit nicht die nahezu ideale Voraussetzung für jene Mutation des Menschen, welche offenbar in dieser Wende fällig ist? Nur germinales Gemüt kann grundsätzlich, in der Tat, all die neuen kosmischen Einflüsse in sich aufnehmen und verarbeiten, die auf den Menschen heute einstürmen. Und nur aus solch eihaftem Menschentum kann laut dem alles Organische beherrschenden Gesetz, dass alles Neue aus Undifferenziertem entsteht und nichts Ausgestaltetes sich über seinen Zustand hinaus zu entwickeln vermag, die Gestaltung des Menschentums erwachsen, welche der neuen kosmischen Phase entsprechen wird. Selbstverständlich behaupte ich damit nicht, dass notwendig Deutsche die größten Vorbilder der neuen Ära stellen würden: grundsätzlich ist und bleibt Deutschland, wie im Spektrum ausführlich gezeigt ward, das Laboratorium der Welt; so mag es auch dieses Mal so kommen, dass Deutsche, genau wie in der Reformationszeit, alle wichtigsten Vorarbeiten leisten, dass dann aber die vollendeten Endgestalten anderswo erwachsen werden. Doch auf das Endgültige und historisch Entscheidende kommt es vom Standpunkt des persönlichen und als solchen einzig wesentlichen Lebens niemals an. Es ist lächerlich, zu behaupten, ein Volk sei um einiger weniger Genien willen da: hier hat Jesus Christus mit seiner Theorie vom absoluten und unendlichen Wert jeder einzelnen Menschenseele das einzig und ewig Richtige gelehrt. Wohl aber hat die allgemeine Möglichkeit für jeden eine ungeheure Bedeutung: so kann jedes, auch das sonst bescheidenste Leben, das sich der Bedeutung der Weltenstunde bewusst wird, einen persönlichen Sinn gewinnen, dergleichen es nur an seltenen Wendepunkten der gesamten Menschengeschichte je gehabt hat. Zeichnen wir denn nunmehr die Hauptumrisse der neuen Aufgabe des Menschen in der Welt in großen Strichen hin, und beginnen wir dabei mit dem historisch Nächstliegenden.

Das Menschengeschlecht durchlebt zur Zeit (dies schreibe ich 1935) die Phase der Rückflut nach der großen Flut der Französischen Revolution im Rahmen einer Periode allgemeiner Reaktion auf die ausschließliche Geistbestimmtheit der christlichen Ära, die im intellektualistischen Zeitalter ihre äußerste Zuspitzung und Übersteigerung erfuhr. So drängen die langverdrängten uralten Erdkräfte gewaltsam ins Bewusstsein zurück, und viele primordiale Erscheinungen, welche die meisten, die an der europäischen Geisttradition teilhaben, in vorgeschichtlicher Zeit für immer überlebt glaubten, bestimmen das Bild jüngsten Geschehens. Das ungeistige Leben fordert erneut sein Recht, die blinde Gana will wieder in ihrer Eigenart anerkannt werden, die emotionale Ordnung sucht sich erneut als selbständige Ordnung zu konstituieren: ein solches Zeitalter der Revolte der Erdkräfte, wie ich den Prozess in meinem Buche über die Weltrevolution hieß, fordert offenbar die Umstellung vieler Probleme, welche die letzten Jahrhunderte endgültig gelöst glaubten. Und zwar fordert es diese Umstellung mit vollen geistigen Recht: denn der ganze Mensch lebt, immer tut er das als integrale Ganzheit, und hat das Verhältnis der in verschiedenen Dimensionen in ihm wirkenden Kräfte sich verändert, dann gelten die Lösungen aus früherer Zuständlichkeit für ihn nicht mehr. So erledigte die Emanzipierung des Intellektes seinerzeit organisch so manche an sich vollkommene Ausdrucksform des Verhältnisses des Menschen zur Welt aus früherer Zeit, da die irrationalen Funktionen die vital entscheidenden waren. Heute fordert der Kairós gerade vom geistigen Menschen eine Neueinbeziehung der im christlichen Zeitalter verdrängten Erdkräfte in sein Bewusstsein: nur soweit solches gelingt, wird der geistige Mensch sich halten. Andererseits: wenn solche Einbeziehung gelingt, dann kann eine viel höhere Kultur entstehen, als es die letzte war: eine Kultur ähnlich allseitiger Vollkommenheit, wie es die antike war, nur jetzt auf höherer und breiterer Verstehensbasis. Alles das habe ich in meinem Buche über die Weltrevolution genau ausgeführt und verweise hier darauf. Im Zusammenhange dieser Betrachtungen aber dürfte jetzt schon dieses Wichtigste einleuchten: Die deutsche Weltfrömmigkeit stellt die beste unter den heute gegebenen Menschheitsanlagen dar, um den Übergang zu vermitteln von der intellektualistischen Kultur zur möglichen integralen, sämtliche Kräfte des Menschenwesens organisch in sich zusammenfassenden, welcher die Zukunft gehört.

Doch damit die Anlage zu ihr entsprechenden Leistungen führe, muss der Deutsche fortan so bewusst und energisch als irgend möglich seine Weltoffenheit betonen, pflegen und steigern. Leider ist es ja (wie wiederum im Spektrum ausführlich dargetan ward) deutsche Art und Neigung, das Kleine gegenüber dem Großen zu überschätzen und sich in möglichst enger Enge festzulegen: auch dies gehört mit zur natürlichen Einkapselungstendenz des Eis. In weiten Zusammenhängen zu leben, hält der bisherige Deutsche, welcher nicht alt-gezüchteter Oberschicht angehört oder kein universeller Geist ist, schwer aus. Es ist erstaunlich, wieviele deutsche Hausbesitzer in der Krisenzeit seit dem Weltkriege es intensiv genossen, auf Grund ihrer Verarmung möglichst alle Zimmer vermietet zu haben und sich auf kleinsten Raum zu beschränken. Es ist für jeden, welcher nicht im Reich geboren ward, kaum verständlich, wie begeistert der typische Deutsche nach jedem, auch nach dem allergeringfügigsten Vorwand greift, um sich von anderen abzuscheiden. Das ist nicht Individualismus: die ausgeprägte Persönlichkeit strahlt aus, bezieht, möglichst vieles in sich selbst hinein, erobert, ist darum großen Gesichtspunkten zugänglich. Es ist die Furcht, dass das weiche Germinale Schaden nehme, was zu möglichst beschleunigter Schalenbildung drängt. Gleichsinnig gibt der typische Deutsche, auch wenn er sozial hoch aufsteigt, den engen Rahmen sichernder Kleinbürgergewohnheiten ungern auf; tut er es jedoch, so verliert er gar leicht alle Form. Gleichsinnig leben die deutschen Kolonien überall wie abgeschlossene Eier. Nicht nur das Vereins-, auch das Sekten- und vor allein das Parteiwesen hat hier seinen wichtigsten vitalen Grund. Aber Krustenbildung bedeutet beim Deutschen auch jedes feste Begriffssystem — was immer es an sich und sonst sei —, alles bejahte Fachmanntum, alle hermetische Scheidung zwischen Wissenden und Laien, alle Vorliebe für Rückversicherung im Amtlichen, Doktrinären, Ständischen und Klassenhaften, aller Partikularismus überhaupt, worauf immer dieser sich beziehe. Da sollte denn jeder Deutsche, der in diese Wende schöpferisch hineinwachsen will, an erster Stelle erkennen und anerkennen, dass sein bisheriger Partikularismus und alles, was mit ihm zusammenhängt, absolut ohne jede geistige oder seelische Bedeutung ist, dass er nie anderes als Beschränkung beweist. Und dass es die schlimmste aller Beschränktheiten bedeutet, wenn er sich positiv zu ihm stellt. Wer da innerlich germinal ist, hat keinerlei Grund und überhaupt keine Entschuldigung dafür, wenn er den Wertakzent auf die Kruste legt. Freilich mag er irgendeiner Kruste zum Schutze und zum Halt bedürfen. Ich denke nicht daran, ein Einschmelzen aller Krusten zu predigen, nicht allein, weil solches keinesfalls gelänge, sondern vor allein, weil der innerlich Weiche nur dann in Form sein kann, wenn er äußerlich geschützt ist. Sogar Goethes bekannte sich zur Kruste, insofern er den Satz äußerlich begrenzt, innerlich unbegrenzt zur Devise wählt. Aber Goethe strebte eben nach dem Ziel, innerlich unbegrenzt zu sein, und das wird derjenige niemals werden, welcher den Nachdruck in sich auch nur im allergeringsten auf die Kruste liegt. Letzteres nun tat bisher die überwältigende Mehrheit aller Deutschen. Und das muss anders werden. Es kann aber auch anders werden, denn weiches Gemüt ist von der Erkenntnis her leichter als jedes andere zu formen.

Dieser Weltkairós fordert sonach als Resultante aller Zeitbewegungen das genaue Gegenteil dessen, was das Geschichtsbild zur Zeit, da ich dieses schreibe, in allzu vielen Ländern bestimmt: nicht Verengerung, nicht Selbstgenügsamkeit, nicht Abschluss, sondern einen weiten und entscheidenden Schritt voran auf allen Gebieten auf dem Weg zur vollkommenen Weltoffenheit. Auf der schon erwähnten Darmstädter Tagung Mensch und Erde prägte Max Scheler, aus dem Geist des überpersönlichen Zusammenklangs der Themen und Persönlichkeiten heraus, in seinem Vortrag Die Sonderstellung des Menschen (später als Broschüre unter dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos neuveröffentlicht) die bisher glücklichste Differentialbestimmung des Menschen unter allen erdebewohnenden Lebewesen: er sei das weltoffene Tier. Vergleicht man den Menschen, in der Tat, mit dem zweiten bisherigen Höchstausdruck organischen Lebens, dem Geschlecht der Ameisen, Termiten und Bienen, dann fällt als erstes die Gegensätzlichkeit der zwei Entwicklungsrichtungen auf. Die genannten Insekten verkörpern höchste Vollendung in Form vollständiger Festgelegtheit und Bindung; alles am Menschen hingegen ist darauf angelegt, dem Geringstmaß an Festlegung als Ziel zuzustreben. Daher die Atrophierung des Instinkts zugunsten der freiwählenden und —entscheidenden Intelligenz — eine Atrophierung, welche wohl schon bei der ersten Menschwerdung eingesetzt und schon damals einen der heutigen nahen Grad erreicht haben dürfte; denn das allermeiste dessen, was man heute noch bei Menschen Instinkt, instinktiv heißt, gehört nicht der Sphäre des tierischen Instinktes an. Daher die Fähigkeit zum Irren, die Möglichkeit von Sünde und Schuld. Darum das unersättliche Streben nach Freiheit. Daher das langsame und späte Erwachsen. Daher vor allem der protoplasmatische Charakter der Psyche, der beim Menschen allein die Plastizität eignet, welche sein Körper, verglichen mit niederen Tieren, welche verlorene Arme und Beine oder gar Köpfe regenerieren, verloren hat. Dieser protoplasmatische Charakter der Psyche wird nun im Sinn gesteigerter Nicht-Festgelegtheit ergänzt durch potentielle vollständige Weltoffenheit. Der Mensch ist grundsätzlich nicht ein für allemal an eine bestimmte und qualifizierte Um- und Merkwelt, gebunden, sondern zur Totalität dessen, was es gibt, kann er ein vitales Verhältnis gewinnen; und alle Werte, welche jeder Mensch instinkthaft anerkennt, gehören einer Skala an, deren Kulminationspunkt absolute Weltoffenheit wäre. Jeder Mensch erkennt instinktiv ein weites Herz, einen weiten Horizont, universellen Geist, allumfassende Liebe, alle Grenzen überschreitendes Streben als ein Höheres an, denn jede Engigkeit. Jede große Krisis in der Menschheitsgeschichte hat, falls sie gut endete, den Endsinn gehabt, dass ein höherer Grad von Weltoffenheit und von Freiheit Allgemein-Erreichnis ward. Eben das war der Sinn des Sieges der christlichen Nächstenliebe über das heidnische Herrenethos, der Renaissance, welche wiederum christliche Engigkeit sprengte, der Aufklärung, welche das Denken befreite, der Französischen Revolution, mit der die im 14. Jahrhundert von einem obskuren, als Narr verlachten und bald im Irrenhaus eingesperrten englischen Pfarrer zuerst behaupteten Menschenrechte zum Glaubensartikel aller Menschen wurden, was sie fortan bleiben werden. Und erst recht wird sich der Endsinn der Weltrevolution, in der wir mitten drin stehen, als Schritt voran auf dem Weg zu größerer Weltoffenheit erweisen. Gerade in dieser Krisis ist es restlos ausgeschlossen, auch nur ein wesentliches nationales oder internationales Problem auf partikularistischer Basis zu lösen. Unmöglich sind die logischen Folgerungen möglicher schneller Freizügigkeit und der erhöhten gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Völker voneinander rückgängig zu machen. Unmöglich kann gegenseitiges Sich-voneinander-Abschließen für die Dauer anderes bewirken, als noch größere Katastrophen, als es der Weltkrieg und seine Folgen waren. Nur als Kriegs- oder Belagerungszustandsunvermeidlichkeiten sind abgeschlossene Lebensformen heute für das Bewusstsein des Menschen­geschlechts auf der Stufe seiner heute bestimmenden Vorhut überhaupt noch tragbar; und unter dem Druck staut sich der Wille zur Weltoffenheit zu immer größerer Gewalt auf. Nur zu bald wird übereinstimmende Erfahrung endgültig bewiesen haben, dass kein Bienen- und kein Ameisenideal dem Menschen frommt. Hier können wir auf das in der Einführung Gesagte zurückverweisen. Zweifellos schließt sich der Mensch zunächst fortschreitend insektenhafter ab, je weiter die Umwelt wird, die er sich erobert; er tut es aus Selbsterhaltungstrieb, denn zunächst ist er dieser inner-organisch nicht gewachsen. Doch auf dem Wege dieser Verengerung verdirbt er: alle Zukunft des Menschen auf Erden hängt davon ab, dass er seinen inneren Organismus proportional den weiten Möglichkeiten höherentwickelt, so dass er also, um nur dies eine Beispiel zu nennen, fähig wird, trotz aller Schnelligkeit in der Fortbewegung ebensoviel zu erleben, wie der Fußgänger.2

Was nun von der Praxis gilt, gilt erst recht von der Gesinnung. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass irgendeine partikularistische oder Partikularistisches betonende Weltanschauung irgendeinem Volk noch für die Dauer Heil brächte. Jeder Partikularismus setzt, im Gegensatz zur Menschenbestimmung, Abgeschlossenheit als Wert, was immer er vorgebe und sogar ehrlich denke. Da alles bestimmte Bewusstsein einen Gegen-Stand braucht, der es weckt und wach erhält und von dem es sich abhebt, so muss jede bejahte Grenze innere Beschränktheit schaffen oder festigen. Leider schlägt die schöne Theorie, dass wer seine eigene Begrenztheit höchstachtet, eben dadurch auch vollkommenes Verständnis für fremde Begrenztheiten haben müsse, sämtlichen Gegebenheiten der Menschennatur und sämtlichen Erfahrungen der Geschichte ins Gesicht: unvermeidlicherweise hält jeder, der überhaupt auf seine Eigenart zufrieden pocht, die seine für besser als alle anderen, und damit ist jeder nur möglichen Engherzigkeit und jedem nur möglichen Vergewaltigungswillen grundsätzlich Tor und Tür geöffnet. Hier fassen wir einen neuen tiefen Grund der tiefen Unmenschlichkeit dieser Übergangszeit. In Wahrheit kann heute, genau wie dazumal, da der Christus-Impuls die Welt verwandelte, nur eine neue und menschlichere Gesinnung zu einer positiven Lösung der Zeitprobleme führen. Diese Gesinnung aber kann nur die einer größeren Welt-Offenheit im ganzen weiten und tiefen Sinne dieses Wortes sein, als sie die ganze bisherige Geschichte gekannt hat.

1 Deutsch ist dieser Zyklus bisher nur im Leuchter-Buch Mensch und Erde (Darmstadt 1927, Otto Reichl Verlag) veröffentlicht worden. Aber meine vier Vorträge auf jener Tagung habe ich der englischen, spanischen und amerikanischen Ausgabe von Wiedergeburt einverleibt und gleiches wird bei einer Neuauflage der deutschen Ausgabe letzteren Buchs geschehen.
2 Über dieses besondere Problem hier noch so viel. Selbstverständlich bedeutet die wachsende Technisierung des Menschen keinen Abweg, sondern den Beginn einer neuen, von mir in Amerika Die Geologische Periode des Menschen getauften Weltphase. In diesem Zusammenhang hörte ich selten Geistreicheres, als was mir der Mythenforscher Philipp Metmann kürzlich sagte: seiner Ansicht nach würde die Technik unserer Zeit nach Jahrtausenden als ein Analogon dessen beurteilt werden, was uns die Felsenbilder der Frühkulturen bedeuten.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VI. Weltfrömmigkeit
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