Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

I. Gesundheit

Erfüllung der Wahrheitssehnsucht

Zum Ende vollständigen Verstehens der Menschennatur kenne ich kein lehrreicheres Meditationsobjekt als die Hormonenlehre, die Lehre von den Wirkstoffen. Vom verstandzentrierten Selbstbewusstsein her geurteilt, ist es schon ungeheuerlich, dass der Körper, um zu bestehen und zu dauern, von Luft und Nahrung, mithin von schlechthin Äußerlichem, abhängt: doch dieses Ungeheuerliche wird durch Begriffsscheidung zwischen Innen- und Umwelt immerhin des Charakters absoluter Unverständlichkeit entkleidet. Gemäß der Hormonenlehre nun scheint auch das innerlichste, ja das intimste Leben, vom Körperlichen bis zum Geistigsten, unablöslich an chemische Prozesse geknüpft. Chemikalien können Idioten und Zwerge zu normalen Menschen erhöhen, Begabte in stumpfe Tiere umwandeln. Die Liebe mit all ihren seelischen Erscheinungen hängt mit dem Kreisen bestimmter Stoffe zusammen, desgleichen die geistige Schöpferkraft und die Seelenstimmung, welche diese oder jene Weltanschauung zu vertreten eingibt. Im Grenzfalle können gar durch Einpflanzung oder Einspritzung Geschöpfe männlicher Artung in solche weiblicher umgeschaffen werden und umgekehrt. Der Versuch, geistiges Vorurteil dadurch zu retten, dass aller Zusammenhang im psychophysischen Organismus auf Grund des Nervensystems bestände, welches so oder anders nicht-physische Impulse telegraphendrahtartig fortleitete, ist gescheitert. Gerade die feinsten und intimsten Reaktionen werden durch Wirkstoffe vermittelt oder ausgelöst. Und diese wirken eben als chemische Substanzen, nicht als lebendige Einheiten — so ausschließlich es Lebendiges sei, das sie hervorbringt. Nur deshalb können gleiche oder gleichartige und gleichwirkende Hormone aus den verschiedensten Lebewesen gewonnen werden. Neuerdings wird das weibliche Geschlechtshormon gar aus Petroleum und Torf herauspräpariert.

Ist, es demnach nicht doch so, wie Carl Vogt meinte, dass der Mensch das ist, was er isst? Sicher bedeutet die Hormonenlehre eine sehr weitgehende Rehabilitierung dessen, was im Zusammenhang des Lebensprozesses nicht anders denn als Materie zu begreifen ist. Sie schließt die wichtigste begriffliche Lücke, die zwischen Ernährung und Medikation besteht; sie gibt jeglichem Vitalismus den Todesstoß, welcher so oder anders an einen besonderen Lebensstoff oder an eine besondere Lebenskraft glaubt. Sie rückt ferner die Tatsachen des Vererbungsprozesses, von seelisch-geistiger Deutung fort, rein körperlich zu Verstehendem näher. Die Möglichkeit dieses Prozesses überhaupt bedeutet ein schlechthinniges Mysterium. In Anbetracht des Ganzheitscharakters jeder Lebenserscheinung ist schlechterdings nicht einzusehen, wieso es Gene geben kann, welche atomartig ganz bestimmte Merkmale fortpflanzen, die dann mosaik- oder kaleidoskopartig von Lebenseinheit zu Lebenseinheit neue Verbindungen eingehen. Doch wenn bestimmte chemische Substanzen als solche so ungeheuer wirken können, wie die Hormonenlehre dartut, dann gibt es für das Denken einen Übergang von der Konstitutionslehre zur Vererbung — nur eben, wie gesagt, im Sinne ungeistiger Deutung; von einer unzerlegbaren begeisteten neuen Seele, die aus der Vermählung zweier Körper entstünde, kann wissenschaftlich nicht mehr die Rede sein. Sicherlich erlebten wir denn heute eine sehr ernst zu nehmende Wiedergeburt von biologischem Materialismus oder materialistischem Biologismus — wenn nicht gleichzeitig mit der Hormonenlehre die Tiefenpsychologie erwüchse, als welche erweist, dass die Psyche in hohem Grade unabhängig vom Körperlichen lebt, und wenn nicht überdies gerade jetzt auch eine Neubesinnung auf jene selbständige und substantielle Wirklichkeit des Geists erfolgte, die alle geistig und geistlich großen Zeiten kannten und anerkannten, deren Sinn jedoch im intellektualistischen Zeitalter, das nur vom reflektierenden und reflektierten Geiste wusste, dem Bewusstsein mehr oder weniger verlorengegangen war. So kann heute kein ausreichend Gebildeter und kein ehrlich Verstehenwollender mehr an Kurzschlüssen wie solchen, dass alles Materie oder alles Seele oder alles Geist sei, oder dass es eine unauflösliche Leib-Seele-Einheit gäbe, oder dass die Seele nur eine Funktion oder ein Aspekt des Blutes sei, Befriedigung finden. Es ergibt sich vielmehr als nicht abzuweisende Grundlage möglichen Tieferverstehens die Erkenntnis dessen, dass der Mensch keine Einheit und auch keine Monade solcher Art ist, wie solches alle bisherige europäische Anthropologie annahm. Nicht nur als Außenwelt gehört die anorganische Natur unablöslich zu ihm, sie ist auch Element seiner Innerlichkeit. Diese Einsicht ist es, die mich dazu bewogen hat, den Begriff einer menschlichen Mineralität einzuführen (SM, I). Ebensowenig aber ist der Lebensprozess als solcher chemisch zu erklären: überall im Leben setzen die Prozesse das Dasein eines Chemikers voraus, welcher sie leitet — wer oder was immer dieser Chemiker sei. So muss man denn die Animalität, in ihren zwei Modalitäten von Kalt- und Warmblut, als zweites Unzurückführbares gelten lassen. Ein drittes Unzurückführbares ist die Psyche. Aber auch mit dieser ist es nicht so einfach bestellt, wie dies überkommene Psychologie sogar dort annimmt, wo sie, gleich der altägyptischen oder japanischen, jedem Menschen mehrere oder viele Seelen zuerkennt. Kurz gesagt: vom Ich her ist die Psyche ebensowenig zu verstehen wie der körperliche Organismus vom Individuum her (U VI, VII); beide gehören einem größeren Ganzen an. Das Ich ist für sich nur ein Einstellungszentrum oder ein mehr oder weniger festgelegter Komplex. In jedem Menschen leben viele, ja theoretisch unendlich viele mögliche und wirkliche Iche; überdies aber gehört zur Gesamtpsyche eine über jedes nur mögliche Ich unermeßlich weit hinausreichende psychische Wirklichkeit, welche in Raum und Zeit auf besonderer Ebene Analoges bedeutet, wie der durch die Begriffe Generation, Vererbung, Korrelation und Gemeinschaftsleben allgemeinstumrissene überindividuelle Zusammenhang, dem jedes Einzelwesen als Körper zugehört. Dieses Kollektivpsychische ist aber wiederum nicht mit dem identisch, was jeder Geistbewusste als sein metaphysisches Selbst oder seinem Gotte zugeordnetes tiefstes Wesen erlebt. Die Unterscheidungen und Abgrenzungen, die hier gegeben wurden, sind natürlich in erheblichem Grade willkürlich; man mag mehr oder weniger Schichten unterscheiden: letztlich ist das irrelevant, denn keine ist von anderen hermetisch abgeschlossen und jede wirkt auf alle anderen ein. Worauf allein es ankommt, ist klar zu sehen und einzusehen und innerlich anzuerkennen, wie völlig abwegig es ist, den Menschen so verstehen zu wollen, wie dies seitens der überwältigenden Mehrzahl aller wissenschaftlich aufgeklärten Menschen bisher geschehen ist. Der Mensch ist anders, als dies traditionelles Vorurteil wahrhaben will. Von dieser Feststellung hat alles Erkenntnis- sowohl als alles Lebensmeisterungsstreben auszugehen.

Ist dieses nun geschehen — was weiter? Die Antwort hängt davon ab, was man bezweckt. Man mag natürlich dem Tatbestande angemessenere neue wissenschaftliche Theorien aufstellen. Doch solche Theorien nützen dem unmittelbaren Leben gar nichts. Ja, hier kann man so weit gehen, dass man getrost behauptet: nichts verbaut den Weg zu lebendiger Erkenntnis und damit zu Erkenntnis-bedingtem persönlichen Leben sicherer, als festformulierte Theorie. Denn unter allen Umständen verlegt solche den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und den Bedeutungsakzent vom erlebten Leben fort auf eine herausgestellte Vorstellungswelt, und bei den allermeisten beweist der Wille zur Theorie nur die Sucht, Problematik zu erledigen um jeden Preis. Es soll das Bewusstsein von beunruhigenden Tatbeständen abgelenkt, es soll bohrenden Fragen eine undurchdringliche Wand vorgeschoben, es soll ein für alle Male Ruhe und Sicherheit gewonnen werden. Bei allen außer den zu aller Zeit seltenen sogenannten theoretischen Menschen beweist Wille zur Theorie nicht Erkenntnisstreben, sondern Vorherrschaft der Ur-Angst (SM, II). Und tut er dies nicht, dann beweist er die des Ur-Hungers: in der Tat ist die ganze westliche Wissenschaftlichkeit als bestimmende Lebensmacht ein Ausdruck westlichen Weltbewältigungsstrebens; nicht erleben will der typische Abendländer die Welt, sondern sie beherrschen. — Demgegenüber gehört alles echte und eigentliche Erkennen der Sphäre unmittelbaren Erlebens an. Denn echtes und eigentliches Erkennen bedeutet unübertragbares persönliches Verstehen, und Verstehen bedeutet innerlichste Aneignung seitens des Geists. Von hier aus finden wir denn die Antwort auf die Frage, mit der dieser Abschnitt anhub: Was weiter? Will sich der Mensch selbst verstehen, will er vom Geiste her sein Leben neu und tiefer begründen, will er zu dem gelangen, was man geistige Existenz heißt, dann darf er zunächst die Entwicklung nicht in sich einleiten, zu welcher Theorie als solche die träge Menschennatur verführt. Er darf keine Problematik ein für allemal erledigen, keinerlei Fragen einen Riegel vorschieben; vor allem darf er unter gar keinen Umständen seinen Bewusstseinsmittelpunkt in herausgestellter Vorstellungswelt begründen: er muss sich alle Erkenntnis zum Erlebnis machen. Nur so kann er’s erreichen, dass Wissen und Verstehen ihm zu dem werden und damit das bedeuten, was deren tiefste Intention ist: Erfüllung der Wahrheitssehnsucht. Keine wissenschaftliche Theorie bedeutet je mehr als eine Arbeitshypothese; das heißt sie ist nie wahr, sondern bloß zweckmäßig als Hilfsmittel zur Weltmeisterung. Demgegenüber zielt alles echte Wahrheitsstreben auf Wiedergeburt der Welt im erkennenden Geist, durch welchen Prozess ein neuer Mensch und eine neue Welt zugleich entstehen.

Ist nun wissenschaftliche Theorie vom Wahrheitsstandpunkt überflüssig? Mitnichten. Doch sie bedeutet anderes, als wofür sie heute allgemein gilt, und zwar bedeutet sie zweierlei. Erstens einmal einen Wegweiser. sintemalen alles Erleben subjektiv ist und Eingebildetes zunächst für das Bewusstsein gleichen Wirklichkeitswert besitzt als objektiv Vorhandenes, so hält es schwer, zu wirklichkeitsgemäßem Erleben zu gelangen, ohne dass objektive Feststellung den Zugang zu Irrwegen abgesperrt hätte. Zweitens kann das, was als Erscheinung nur eine Theorie unter vielen anderen ist, ganz Besonderes und Einziges bedeuten: nämlich den verstandes- und vernunftgemäßen Ausdruck innerlichsten Erlebens. Letzteres gilt von jeder philosophischen und religiösen Lehre, die sich als für das unmittelbare Leben bedeutsam erwiesen hat. Solche Theorie nun ist aber nicht ab-, sondern im Gegenteil aufschließend. Sie gibt möglichem Nach-Erleben die Vor-Form, nicht anders wie große Dichtung und Musik. Ihr Wert hängt nicht von ihrer wissenschaftlichen Exaktheit, sondern von ihrer Fähigkeit ab, ihr entsprechendes geistiges Erleben zu wecken. hieraus ergibt sich für das herrschende wissenschaftliche Zeitalter allerdings, dass nur wissenschaftsgerechte Theorie im Guten bedeutsam ist, denn beim heutigen Bewusstseinszustand entspricht nur sie dem Korrelations­gesetz von Sinn und Ausdruck (SE 1, 2). Nichts ist falscher, als in dieser unserer Zeit von Mythen auch nur das allergeringste Heil zu erwarten. Schon seit über tausend Jahren sind alle begabten Menschenarten auf Erden der offenbar vom Erdzeitalter abhängigen besonderen Physiologie, welche Mythenbildung ermöglicht, entwachsen, während diejenigen, deren Tagesbewusstsein mythische Bilder noch entsprechen, festgefahren und schöpfungsunfähig geworden sind. Wer auch nur das allererste Wort gerade von Europas neuen irrationalistischen Bewegungen verstehen will, muss zuvörderst einsehen, dass sie alle dem gleichen Tatsachenbewusstsein ihren Ursprung danken, dank welchem vor knapp zweihundert Jahren die Materie als solche bewusstseinsfähig ward. Wer also heute Blut sagt, der meint die Tatsache Blut; sie bedeutet nichts darüber hinaus; Gleiches gilt vom Boden, von der Rasse, vom Volk, vom Staat. Wie immer die Vorkämpfer der neuen Weltanschauungen ihre Vorstellungen selber deuten mögen — das faktisch Entscheidende an ihnen ist, dass sie noch unmythischer sind, noch reineren Tatsachengeist verkörpern, als alle auf Amerikas Boden erwachsenen. Und eben darin liegt ihre positive Bedeutung: mit der Revolte der Erdkräfte (RM 1) ist eine Bereicherung des Bewusstseins eingetreten, die zugleich exakteres und differenzierteres Erleben möglich macht; bald wird das Menschengeschlecht reiner als je früher zwischen dem zu scheiden gelernt haben, was der Erde, was dem Fleische, der Seele und dem Geiste zugehört. Und genau so, wie die modernsten Weltanschauungen restlos unmythisch sind, so sind sie auch restlos unromantisch. Nur deshalb vermögen sie sich so weltgewaltig auszuwirken. Was dem Mythos oder romantischem Sehnen entspringt — das zu organisieren oder organisatorisch auszubeuten, ist unmöglich. — Noch einmal: mit diesen Feststellungen behaupte ich nicht Unwert, sondern Wert. Zunächst muss die Einstellung auf Tatsachen als solche alles leisten, was sie leisten kann: dann erst wird ein neuer und höherer Bewusstseinszustand begründbar werden.

Knüpfen wir nach diesem kurzen Exkurs bei dem Satze wieder an, in dem gesagt ward, dass Theorie, welche persönliche Erkenntnis fördern soll, nicht abschließen darf, sondern aufschließen muss. Nun, unsere noch so kurze Evokation des Sinnes der Hormonenlehre, der Tiefenpsychologie und der neuen Religiosität kann das Bewusstsein weiterem und tieferem Erleben öffnen, als jemals früher möglich erschien. Alles Bewusstsein ist zunächst ein Haben, kein Sein; auf alles, was überhaupt dem Menschen zugehört, kann Drieschs Formel für den Urtatbestand Anwendung finden, welcher allem Wissen zugrunde liegt: Ich habe bewusst etwas. Sind wir uns nun darüber klar, dass der Mensch nachweislich keine Einheit und keine Monade im überkommenen Verstande ist, dann hindert nichts Grundsätzliches daran, unsere Aufmerksamkeit in solcher Blickrichtung zu lenken, dass wir am Ende der ganzen Wahrheit innewerden.

Innewerden: mit diesem Worte bestimmen wir letztgültig den Weg zur lebendigen, im Gegensatz zur theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis. Mit innewerden und innern hat Heinrich Zimmer den indischen Begriff sehr glücklich übersetzt, welcher sonst auch im Deutschen mit dem aus dem Englischen übernommenen Wort realisieren wiedergegeben wird. Hier aber möchte ich den bewährten terminus technicus zunächst weiter anwenden, weil dessen bloßer Wortlaut klarste und schärfste Abgrenzung seines Inhalts gegenüber dem Begriffe wissenschaftlichen Erkennens schafft. Wissenschaftliche Theorie irrealisiert nämlich, vom Leben her gesehen. Was die mathematische Physik im höchsten Grade tut, sie, die mittels rein abstrakter, als solcher nicht existenter und schlechterdings nicht vorstellbarer Hilfskonstruktionen zu einem Begreifen der Natur führt, welches Begreifen seinen Ort auf einer ganz anderen Ebene hat, als innerlichem Wahrheitsstreben entspricht, betreibt mehr oder weniger jede Wissenschaft. Demgegenüber bedeutet Realisieren unmittelbare Erfassung eines Gegebenen durch die Tiefen des Bewusstseins sowohl als auch des Unbewussten. Wie fruchtbar dieser altindische Begriff ist, erhellt schon daraus allein, dass Materie, formell geurteilt, genau so realisiert werden kann wie Geist und Sinn. Sie wird eben als Materie realisiert, wogegen sie nur in Funktion geistgeborener Fiktionen wissenschaftlich begriffen werden kann. Und sie kann buchstäblich als Materie realisiert werden, weil der Mensch unter anderem auch Materie ist. Gleichsinnig ist er aber auch Fleisch, Seele, Geist, Gott oder Gotteskind. Konzentrieren wir nun alle Energien sämtlicher Schichten, welche den Menschen machen, aufs Realisieren, dann erreichen wir auf die Dauer zweierlei. Erstens ein unmittelbares Innewerden der ganzen Wirklichkeit, welche zu uns gehört, so wie sie wirklich ist. Zweitens deren Wiedergeburt aus dem verstehenden Geist, dank dem sich das Verhältnis von Innen- und Außenwelt ändert; das Innere wird mächtiger. Zuletzt eine übertragbare Lehre, welche jeden, welcher guten Willens ist, zum Selbst-Inne-werden, zum Selbst-Realisieren anzuleiten vermag. Diesen Weg sind in historischer Zeit nur drei Kulturen bewusst gegangen, und alle drei nur in einer bestimmten Richtung und innerhalb bestimmter Grenzen: die von der vor-arischen Indus-Kultur abstammende brahmanische, die buddhistische, und jene jüngst in Europa dämmernde, die man für unsere Zwecke hinreichend genau dahin bestimmen kann, dass sie Religion durch Psychologie zu ersetzen sucht. Das brahmanische Indien verdarb sich mögliche vollkommene Wirklichkeitsschau dadurch, dass es kraft intellektuellen Vorurteils nur der metaphysischen Wirklichkeit Realitätscharakter zusprach; so hat sie diese tiefer realisiert als irgendeine andere und spätere, doch alles übrige hat sie irrealisiert. Buddha war der scharfsichtigste und vorurteilsfreieste aller bisherigen Inne-werder; kaum eine Beobachtung gibt es, welche von ihm stammt, die sich nicht als zeitlos gültig erwiesen hätte. Doch indem er seine ganze Aufmerksamkeit nur den Phänomenen zuwandte, die Sphäre des Sinnes außer acht lassend, und indem er zuletzt all sein so weites und tiefes Wissen in den Dienst einer beschränkten Lehre von der Aufhebung des Leidens zwängte, blendete er im Bewusstsein seiner Jünger den größten Teil realisierbarer Wirklichkeit ab (RT I und W 156 ff.). Die Tiefenpsychologie nun versteht alle Zusammenhänge, die ihre Einstellung zu erforschen gestattet, exakter als irgendeine frühere Disziplin des Innewerdens. Doch für sie gibt es nur Psychisches. So ist Gott ihr, wie C. G. Jung einmal (von seinem Standpunkt aus mit vollem Recht) erklärte, nur eine psychologische Funktion. Das Ideal möglichen Realisierens kann nun offenbar nur in Einem und in ihm allein liegen: im vollständigen Innewerden alles dessen, was ist und was es gibt, so wie es ist, sodass kein Vor-Urteil das unmittelbare Erlebnis fälschte, keine im voraus festgelegte Blick- und Wegrichtung den Gesichtskreis einengte und das Erreichen unerwarteter Ziele unmöglich machte, und dass so sämtliche Energien im Menschen frei ausströmen und sich positiv auswirken könnten. Nichts berechtigt den Menschen, irgendeinen Teil seiner zu verleugnen oder als unwesentlich oder gar unwirklich zu erklären. Mag für den Geist oder die Seele oder den Leib oder einen Funktionskomplex innerhalb desselben oder zuunterst für die Körperchemie irgendein Erlebnisgebiet belanglos sein — in seiner Sphäre ist alles lebenswichtig, und a priori kann überhaupt nicht entschieden werden, ob ein Ausfall und welcher den Menschen wesentlich verringert oder nicht. Wir müssen endlich unbefangen zu werden lernen. Wir müssen endlich über den vieltausendjährigen Aberglauben hinauswachsen, dass von überkommener Vorstellung her über das wahre Sein und das wahrhaftige Sollen dekretiert werden darf. Wir müssen endlich ganz ernst machen mit der schon vor Jahrhunderten als richtig erkannten Forderung, nur Erfahrung als Weg zur Einsicht gelten zu lassen. Eben deshalb sind wir auf der heutigen Erkenntnisstufe nicht mehr berechtigt, in unseren Deutungen und inneren Zielsetzungen von anderem als der gegebenen Vielfalt und Vielschichtigkeit des Menschenwesens auszugehen, und ebensowenig dazu, uns Erfüllung oder Vollendung oder Heil von Hause aus unter Ausschaltung irgendeines Teils des Gesamt­organismus vorzustellen.

Der ganze reiche und tiefe Sinn des Ideals vollständigen Innewerdens ist vom Offenbarungsbegriff her am leichtesten deutlich zu machen. Kants richtiger Satz: Alles Wissen stammt aus der Erfahrung, kann dahin vertieft werden, dass man sagt: Alles Wissen stammt aus Offenbarung. Ich sage, vertieft werden, denn der Offenbarungsbegriff ist dem Erfahrungsbegriff gegenüber um die Nuance reicher, dass er nicht allein das menschliche Subjekt erfasst, sondern auch mögliche andere Subjekte, welche sich zeigen wollen oder nicht. Andererseits bedeutet alle sonstige Erfahrung auch Offenbar-werden und damit Offenbarung. Da dürfen wir denn sagen: in den vergangenen religiösen Zeitaltern bezog sich der Offenbarungsbegriff einseitig auf den metaphysischen Geist. Im wissenschaftlichen Zeitalter bezog er sich nicht minder einseitig auf die äußere Natur. Unter diesen Umständen leuchtet ohne weiteres ein, dass das Ideal darin bestände, allseitiger, das ist integraler Offenbarung teilhaftig zu werden. — Eine weitere Begriffsbestimmung wird diese Erkenntnis präzisieren. Das verderblichste Vorurteil, unter welchem die Erkenntnis bisher gelitten hat, ist dies, dass zwischen Graden des Wirklichseins unterschieden werden darf, sei es, dass allein die metaphysische Realität ganz real sei und das übrige Schein, oder dass Ideale wesenhafter seien als Phänomene, oder dass die Natur oder das Fleisch oder die Erde allein als ganz wirklich anzuerkennen sei usf. Alle bisherigen Ismen, Idealismus, Phänomenalismus, Positivismus, Naturismus usf., die solche Rangordnung statuieren, verkennen, dass es überhaupt keinen Gradmesser für Wirklichkeit als solche gibt; entweder es ist etwas wirkend da oder nicht; wirkt es weniger als anderes, so entwirklicht es dieser Umstand doch nicht. Deswegen darf die Frage von Wirklichkeiten höheren oder geringeren Grades grundsätzlich nicht gestellt werden; das einzige, wozu solche Fragestellung führen kann, ist Beschränkung und Verdunkelung der Erfahrung. So vermag einzig und allein die Gesinnung, welche ich die radikal realistische heiße, oder kürzer gesagt: nur radikaler Realismus vermag jener integralen Offenbarung zuzuführen, welche zum Heil der Zukunft werden kann und wird.

Im Geiste und im Sinn obiger allgemeiner Betrachtungen wollen wir uns zunächst auf der Grundlage der erkannten Vielfalt und Vielschichtigkeit des Menschenwesens dem Probleme der Gesundheit zuwenden.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
I. Gesundheit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME