Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

VII. Wahrhaftigkeit

Lebensgefühl

Nunmehr sind die Grenzen sinngerechter Weltanschauung in ihren großen Zügen, und damit auch die großen Züge der philosophischen Zukunftsaufgabe unschwer zu bestimmen. Das erste und elementarste Ziel, welches sich hier jedem erkenntnisdurstigen Einzelnen stellt, ist demjenigen der Aufklärungszeit beinahe genau entgegengesetzt: es gilt die Einschmelzung dieses Mal nicht durch irrationale Funktionen, sondern durch Verstand und Vernunft geschaffener Schranken, Gerüste und Krusten. Der westliche Mensch und in Sonderheit der Deutsche steht heute in seinen begrifflichen Herausstellungen und deren Materialisierung in Programmen und Institutionen nicht weniger gefangen da, als der mittelalterliche in seinem emotional fundierten Glauben gefangen war. Dem Abbau dieser Krusten und Schranken ist der geistig befähigte Teil der echten Revolutionäre des 20. Jahrhunderts zugewandt, und hierin besteht das Positive der Intellektfeindschaft, die sich in der Revolte der Erdkräfte äußert (RM, I). Doch abgesehen davon, dass hier meist des Guten schon viel zuviel geschieht — mit diesem Abbau allein ist noch nicht neues Positives erzielt: allzu leicht kann die Folge seiner die zeitweilige Restauration seitens der Vorhut der Menschheit längst überlebter Zustände werden. Das mögliche Positivum des heute beinahe allein in die Erscheinung tretenden Negativen ist ein anderes: die Begründung vollkommener Weltoffenheit auf dem Wege vollkommen hingegebenen, von Vorurteilen freien und auf verfrühtes Deuten verzichtenden Erlebens der Totalität der Wirklichkeit, so wie diese ist. Aus dieser Weltoffenheit nun und nicht aus einem Sich-Abschließen vor missliebiger Wirklichkeit, können allein neue weltzeitgemäße Weltanschauungen hervorgehen. Weltanschauungen als solche wird es für Menschen deutscher Artung immer geben müssen. Doch können sie fortan das werden, was ich an anderer Stelle in bezug auf die Utopie (AV, VII) inklusiv an Stelle von exklusiv hieß. Sie können und müssen von schlechthin allen Wirklichkeiten im richtig erkannten gegenseitigen Verhältnis derselben zueinander Kenntnis nehmen und diese geistgerecht einrahmen und sich ihnen wiederum naturgerecht aufprägen. Das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck muss fortan restlos befolgt werden. Die Weltanschauungen, welche fortan Geltung beanspruchen, müssen nach außen zu restlos exakt sein — so wie dies von den Gleichungen der höheren Physik gilt, welche die Wirklichkeit auch nicht abbilden, was auf der Ebene des Verstandes unmöglich ist, sondern dieselbe zu meistern gestatten. Als Korrelat der Exaktheitsforderung nach außen zu steht aber fortan die Forderung unbedingter Wahrhaftigkeit nach innen zu. Damit fällt die bloße Idee einer allgemeingültigen objektiven Weltanschauung für alle Zukunft in den Papierkorb. Wohl kann es einheitliche Religion, einheitlichen religiösen Glauben und einheitliches Lebensgefühl geben. Die geistig-geistliche Zersplittertheit der Spätantike konnte freilich in die eine christliche Kirche einmünden, denn diese beruhte auf geglaubter Offenbarung eines Tatbestandes, welcher nach damaliger Auffassung ebenso unabhängig vom Bewusstsein existierte, wie für unsere Begriffe die Eigenart des Schwefels. Deswegen fühlte sich das eigene und unabhängige Denken durch die Autorität der Kirchenlehre nicht mehr gehemmt, wie das unsrige durch das Bekanntwerden einer neuen Naturtatsache, welche neue Begriffe zu ihrer Bewältigung erfordert, gehemmt wird; so lebte sich die antike Geistesfreiheit, bis dass sie aus anderen Gründen den Todesstoß erhielt, nach der Christianisierung in Exegese und Sektenbildung aus. Gleichsinnig hat es wieder und wieder einheitliche Lebensstimmungen und Lebensgefühle gegeben, welche den Allgemeinzustand größerer Menschengruppen zu bestimmter Zeit wirklichkeitsgerecht spiegelten. In diesem Sinne zweifele ich nicht daran, dass wir in Deutschland in eine Ära bestimmenden nationalsozialistischen Lebensgefühls als Teilausdrucks des allgemeinen kollektivistisch-sozialistischen Lebensgefühls, das diesen Kairós kennzeichnet, eingemündet sind. Nimmer aber kann es fortan für die letztlich zählende Vorhut der Menschen eine für alle gültige einheitliche philosophische Weltanschauung geben. Denn hier entscheidet letztinstanzlich die wirkliche persönliche Überzeugung, über welche keine Außenwelt direkte Macht hat.

Hier können wir denn den letzten und wichtigsten Punkt nachtragen, welcher gegen philosophische Systematik spricht und den zu berühren wir damals, als wir die Frage zuerst behandelten, absichtlich unterließen. Weltanschauung kann und darf ausschließlich persönliche Weltanschauung sein und damit intime Überzeugung. Die Zeit bestimmender Sachlichkeit ist um. Es war wohl unvermeidlich, dass der Mensch, nachdem sich sein Verstand emanzipiert hatte, zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrhaftigkeit zuerst allzu reinlich unterschied, so dass die Wahrheit persönlich unverbindlich scheinen konnte: es war unvermeidlich, da jene Emanzipation von einem ebenso festen Glauben an eine Gott-gewollte Heilsordnung erfolgte, wie wir selbstverständlich Naturtatsachen anerkennen. Dieser primitive religiöse Glaube ist historisch tot. Und damit ist für eine Weile der schauerliche deutsche Satz freibleibend und unverbindlich zur Devise der ganzen denkenden weißen Menschheit geworden. Hier liegt eine der wichtigsten Ursachen der heutigen Demoralisation sowohl als der allgemeinen Neigung, zu längst überlebten Festlegungen zurückzukehren. Doch das Heil liegt niemals in einer Restauration. Wie ich die Schule der Weisheit gründete, da verfasste ich (1919) eine Programmschrift Was uns not tut, was ich will (SE), deren Grundgedanke der war, dass Geist und Seele neu verknüpft werden müssten; das heißt geistig-Objektives und persönlich Subjektives müssten eine neue psychochemische Verbindung angehen. Und mein erster Vortrag auf der Eröffnungstagung der gleichen Schule (23. November 1920) führte den Titel Seins- und Könnens-Kultur (SE). Dessen Grundidee war die, dass die Zeit unpersönlichen Könnens und rein objektiv zu beurteilender Leistung um sei: das Niveau lebendigen Seins allein werde in Zukunft entscheiden. Diesem Ziele sind wir heute, da ich dieses schreibe, schon erheblich näher als vor fünfzehn Jahren, wenn auch wohl noch mindestens weitere fünfzehn verstreichen dürften, bis dass mein damaliges Programm aktuell werden wird. Die Zukunft gehört dem letztlich Selbstdenkenden, Selbst-Verantwortlichen, dem Menschen, der alles Äußerliche in seine Persönlichkeit hineinbezieht und von ihr her persönlich beseelt und begeistet — und ihm allein gehört sie. So müssen sich beim führenden Menschen der Zukunft Sein und Können, Sein und Glauben, Geist und Leben, Sinn und Ausdruck, Wahrheit und Wahrhaftigkeit vollkommen entsprechen. Die Zeit der typischen Schizophrenie des Geistigen ist weltzeitmäßig um. Dem typisch Deutschen Hier stehe ich, ich kann auch anders, wird fortan für alle, welche geistig zählen wollen, für immerdar das lutherische Hier stehe ich, ich kann nicht anders Platz machen müssen. Alle bloß objektiven Erwägungen über rechte Weltanschauung bedeuten Verjährtheiten. Ein neuer persönlicherer und wahrhaftigerer Mensch ist im Begriff, die geistige Herrschaft an sich zu reißen, und nimmer wird er sie, immer Weltzeit-gemäß geurteilt, wieder aus der Hand geben.

Selbstverständlich wird in diesem Kampfe all’ das untergehen, was nur Ansicht, nicht aber Einsicht, was nur Meinen und nicht fester Glaube war. Doch das ist gut so. Und ein wahrer Segen, einer der unzweideutigsten Segen innerhalb der ganzen Menschheitsgeschichte ist es, dass der freie und unabhängige Geist in der kollektivistischen Zwischenzeit um seine Existenz wird kämpfen, hart und bitter kämpfen müssen. Der geistige Verfall des Westens rührte vor allem daher, dass es der Geist seit anderthalb Jahrhunderten zu leicht gehabt hatte. Jetzt versprechen alle Sterne ein neues, großes, tief-innerliches, von der souveränen Persönlichkeit bestimmtes Zeitalter.

Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
VII. Wahrhaftigkeit
© 1998- Schule des Rades
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