Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

X. Freiheit

Zaubern

Blicken wir von hier aus auf alle unsere vielseitigen und vielschichtigen Betrachtungen im Zusammenhang des Freiheitsproblems zurück. Was uns dabei vor allem beeindrucken muss, ist dies, wie offenbar schief alles Denken seit dem Siege des Christentums das Freiheitsproblem gestellt hat. Stellte es überhaupt die Frage des Frei-Seins im Unterschied von der funktionell verstandenen Freiheit, dann legte es den Nachdruck auf Sünde und Unschuld oder aber auf Freiheitsrechte — niemals auf das, was das Wesen des freien Menschen macht: seine Unbedingtheit. Das lag am Glauben an einen allmächtigen Schöpfergott, von dem der Mensch doch abfallen konnte, ohne ihm darum zu entrinnen, und demgegenüber es sich zu sichern galt. Letzteres leisteten zuerst die befolgten Gebote und Riten der Kirche, später die wohlerworbenen Rechte. Denn die Freiheitsrechte der modernen Demokratie entsprechen in der Sprache des Unbewussten dem genau gleichen Sicherungsbedürfnis, nur dass hier der alttestamentliche Gedanke eines Kontraktes zwischen Gott und Mensch gegenüber dem des rein christlichen auf Liebe und Gnade aufgebauten Verhältnisses das Übergewicht besitzt. Der unbedingte Freie starb in Europa als bestimmender Typus mit dem antiken Heiden einer-, dem nordischen andererseits. So konnte die spätere Philosophie wähnen, Wesentliches zu leisten, wenn sie kritische Untersuchungen darüber anstellte, ob und inwiefern es einem abstrakt konstruierten Freiheitsbegriff Entsprechendes im absoluten Sinne gibt. Diese Frage ist für das Leben vollkommen belanglos. Ob man die Sondermöglichkeiten, welche dem Menschen faktisch eignen, und von deren Auswirkung seine Höherentwicklung abhängt, so oder anders definiert, ändert nichts an der Wirklichkeit, auf die allein es ankommt; das heißt, es folgt praktisch nicht das allergeringste aus der einen oder anderen theoretischen Entscheidung. Beweise man noch so klar, dass es keine Freiheit gibt — das, was allein den Menschen an ihr interessiert, gibt es dennoch. Deswegen haben auch höchste Kulturen das Freiheitsproblem im modern-westlichen Verstand nie gestellt; dies gilt nicht allein von der chinesischen, sondern auch der hellenischen. Die vorchristliche Welt unterschied richtig zwischen freien Menschen und Sklaven, nicht zwischen Willens- und Zulassungsfreiheit und ähnlichen belanglosen Theorien.

Nichtsdestoweniger hat der christliche Impuls auch hier einen unbedingten Fortschritt eingeleitet: nämlich indem er zum Problem erhob, was ehedem selbstverständlich so oder anders war, und damit einfürallemalige Festlegungen löste, die nun einmal dem Wesen des geistbestimmten Menschen widersprechen. Es mussten die Stände des Freien und des Sklaven zu existieren aufhören, damit sich das Freie als solches überall, wo es vorhanden war, manifestieren und umgekehrt jeder, welcher innerlich Sklave war, auch äußerlich sein Leben entsprechend gestalten konnte; in diesem Sinne kann man sagen, dass es die Sklavenemanzipation war, die nach schier zwei Jahrtausenden nachwirkend die Versklavung des modernen, seiner inneren Würde verlustig gegangenen Menschen an Maschine und Kalkül ermöglicht hat. Es musste einmal die Frage der Freiheit und ihres Ausmaßes und Bereichs gestellt werden, damit alle schöpferische Initiative, welche im Menschen liegt, sich ihrer selbst ganz bewusst werden konnte. In diesem Sinne beruht die beispiellose Weltgewaltigkeit des Menschen christlicher Tradition auf nichts anderem, als dass dieser allein sich ganz klar und bestimmt zu seiner Freiheit bekannt hat. In noch so sinngemäßer einfürallemaliger Einfügung des Menschen in den Zusammenhang, dessen Grenzen die Worte kosmische Fügung, Freiheit und Notwendigkeit so exakt es geht bestimmen, konnte der Mensch über seinen früheren Zustand nicht hinausgelangen. Und das gilt auch nach innen, nicht nur nach außen zu. Es bedeutet einen Urteilsfehler, unserer äußerlichen Weltbeherrschung die östliche Innerlichkeit entgegenzuhalten. Freilich verkörpert der östliche Weise im Sinn der Innerlichkeit einen vorgeschritteneren Zustand, als der bisherige Abendländer. Doch seit langen Jahrhunderten schon gelangt jener über das damals Erreichte nicht mehr hinaus; überdies sind entsprechende Erreichnisse immer seltener und seltener festzustellen. Über den Zustand, zu welchem die traditionelle Yoga typischerweise führte, kann erst der Mensch hinausgelangen, in welchem der christliche Impuls wirkt, und so ruht die Zukunft heute noch in christlichen Händen. Alle diese Möglichkeiten sind durch Problematischwerden dessen, was ehedem selbstverständlich so oder anders war, geschaffen worden. Und so bedeutet dieses Problematischwerden an sich einen solchen Fortschritt, dass demgegenüber die Vorläufigkeit aller bisherigen Lösungen kaum ins Gewicht fällt.

Wo es gilt, eine neue Etappe im kosmischen Prozess des Einbruchs des Geists zu durchmessen, ist es sinngemäßer, in geologischen Zeiträumen zu denken, als die Unzulänglichkeiten von Jahrzehnten und Jahrhunderten ernstzunehmen. Dieses aber desto mehr, als die Zeit reiner Vorbereitung eines höheren Zustands — gleichsam die des Stimmens der Instrumente vor der Aufführung — grundsätzlich schon als abgeschlossen gelten darf. Es herrscht keine Höllenangst mehr; der Glaube an einen willkürhaften Gott, mit dem man sich stellen muss wie mit einem Tyrannen, welcher glücklicherweise seine Schwächen hat, ist als historische Macht dahin. Das Vorurteil, dass Erkenntnistheorie Ontologie und Kosmologie ersetzen könnte, wirkt nicht mehr bestimmend, so dass auch das Zeitalter der Flucht in die Theorie als abgelaufen gelten darf. Doch auch die Zeit, da in Freiheitsrechten Wesentliches gesehen ward, ist um: das bedeutet in diesem Zusammenhang das Sterben der demokratischen Idee, wie sie die Aufklärung erfand. Und seitdem tragisches Lebensgefühl und Schicksalsbewusstsein den fortschrittlichen Aktivismus zu balancieren beginnen, gewinnt dieser langsam die ihm vorher fehlende Tiefendimension. Überall freilich wirken noch Atavismen, so oder anders, mehr oder weniger, im Unbewussten mitbestimmend nach. So in Deutschland zumal die sehr mangelhafte lutherische Lösung des Freiheitsproblems, welche in Goethes Motto äußerlich begrenzt, innerlich unbegrenzt ihren grundsätzlichsten Begriffsausdruck findet und überaus tiefe Wurzeln im Volkscharakter geschlagen hat, weil sie der eihaften Anlage des deutschen Gemüts mit seiner Tendenz zur Krustenbildung besonders gemäß ist. Doch über diesen Zustand kann Deutschland fortan hinaus. Und diese bloße Möglichkeit bedeutet ein so Großes, dass ihr gegenüber alle Unzulänglichkeiten der Gegenwart gering erscheinen.

Wir haben die Grundaspekte des richtig verstandenen und gestellten Freiheitsproblems im vorhergehenden nacheinander behandelt, und zwar alle wesentlichen, bis auf den einen, auf welchen das Eigenschaftswort schöpferisch als Attribut der Freiheit hinweist. Schöpferisches Wirken bedeutet nun so augenscheinlich den Höchstausdruck von Freisein, dass wir hierbei überhaupt nicht zu verweilen brauchen (VJ, VI). Und doch müssen wir gerade hier noch eine möglichst exakte Grenzbestimmung vornehmen, denn allzuviele Vorurteile verbauen gerade hier der Einsicht den Weg, auf die es letztlich ankommt, weil von ihr die Erfüllung persönlichen Lebens abhängt. Wir zeigten bereits, dass der wahre Ort der Freiheit jenseits von Yang und Yin liegt. Aus der Enantiodromie, die sich daraus ergibt, da alles irdische Geschehen im Zeichen eines der beiden Prinzipien steht, erklärt sich das Paradox, dass die Menschen, welche allgemein als freieste gelten, persönlich nur das Gefühl des inneren Müssens haben. Der schöpferische Geist kann nicht anders, als das herausstellen, was in ihm zur Geburt drängt. Und der Religiöse, in dessen Leben die Freiheit der Kinder Gottes zum Ausdruck kommt, fühlt sich nur als Ausführungsorgan eines Höheren, als er es ist. Die Freiheit hat aber ihren Ort auch jenseits des Bereichs der Frage des gegenseitigen Verhältnisses von Wille und Schicksal. Sie ist ein Unbedingtes, Letztes, oder sie ist nicht, und auf der Ebene, wo diese beiden Mächte wirken, gibt es nichts Unbedingtes. Wie kann ihre Indifferenz trotzdem ein Schöpferisches sein? Sie ist schöpferisch, insofern sich sowohl durch das Schöpferische wie durch das Empfangende, sowohl im Ergreifen wie im Ergriffenwerden ein Tieferes äußert, welches zaubern kann.

Ich benutze das Wort zaubern, weil dessen allgemein anerkannte und verstandene Bedeutung dem Eigen-Sinn des Schöpferischen, welches die Freiheit letztlich kennzeichnet, am nächsten kommt. Es ist die qualitativ gleiche Schöpfermacht, welche Gott zuerkannt wird. Die aber hat der Mensch von sich auf das, was er als Geist als über seinem Geiste stehend vorstellt, übertragen. Diese Schöpfermacht ist rein geistig; an nichts Erdhaftes ist sie notwendig verhaftet. Ebendeshalb ist sie an sich unfassbar; als rein Sinnhaftes existiert sie als Tatsache überhaupt nicht, kann sich jedoch allen Tatsachen einbilden und von sich aus solche der Erscheinung einbilden. Als reines Aktualitätsprinzip, ausschließlich im Jetzt und Hier wirkend, und potentia immer vorhanden, ist sie weder räumlich noch zeitlich festzulegen. Empirisch geurteilt ist sie überhaupt nicht. Und doch geht alles Wesentliche und Entscheidende im Leben auf sie zurück.

Denken wir an das in Einsamkeit über die konkurrenzlose Macht des einsamen Selbstes Ausgeführte zurück. Dort handelte es sich um eben das Freie, dessen Attribute wir in diesem Kapitel bestimmt haben; nur damals in dessen potenziertester Ausdrucksform. Nicht jedes Selbst ist eine Weltmacht. So ist nicht jeder Freie fähig, so zu zaubern, dass es zauberhaft wirkt. Doch in irgendeinem Maß und Grade ist dennoch jeder begeistete Mensch des Zauberns fähig. Und je mehr einer also zu zaubern lernt, desto freier fühlt er sich, als desto voller und reicher und sinnvoller empfindet er sein Leben. Diese höchste und beglückendste Befähigung des Menschen ist nun steigerungsfähig; sie ist es dank dem gleichen Mechanismus, welcher bewirkt, dass es von der eigenen Entscheidung des Menschen abhängt, ob er frei sein will oder nicht. Jede Funktion, auf welche der Bedeutungsakzent gelegt wird, wird damit vitalisiert; sie wächst oder steigert oder potenziert sich real bis zu der Grenze, dass sie zur Dominante des ganzen Menschenwesens wird. In diesem Sinne ist es möglich; sein Zentrum in jenem letzten und tiefsten Schöpferischen zu suchen und zu finden, welches jenseits aller nur möglichen irdischen Polaritäten liegt.

Was das bedeutet, erhellt, am deutlichsten am Gegenbilde der Verhaftetheit. Dostojewsky sagte einmal, der Mensch sei das eine Tier, das sich an schlechthin alles gewöhnt. Darüber jedenfalls besteht kein Zweifel, dass es im natürlichen Gefälle aller Entwicklung liegt, dass Wiederholung die betreffenden Lebensabläufe festlegt, so dass Trägheit zuletzt selbstverständlich leistet, was der Freiheit anzunehmen noch so schwer fiel; das heißt, es ist natürliches Schicksal, dass jeder geistige Impuls von der trägen Ganaassimiliert und deren Normen unterworfen wird, bis zuletzt alles Freie vom Trägen überwachsen ist. Wie unglaubwürdig schnell solches erfolgen kann, vermögen gerade wir zu ermessen, die wir die Neuwerdung Deutschlands ab 1933 miterlebt haben. Überaus kluge Dosierung von Suggestion, Zwang, Wiederholung, Interesse-Erweckung und Schaffung von Kraft durch Freude hat Hunderttausende, wenn nicht Millionen in einigen wenigen kurzen Jahren vergessen lassen, dass ihr Leben jemals anders war und andere Möglichkeiten bot, als solche seither bestehen. Nun pflegen die meisten den Satz, man gewöhne sich an alles, im Sinne eines positiven Urteils auszusprechen: damit tun sie nichts Geringeres, als ihr Menschentum und ihre Menschenwürde zu verleugnen. Menschheit unterscheidet sich von Tierheit dadurch, dass Geist letztlich bestimmt. Der aber negiert alle Trägheit. Von seinem Standpunkt ist Trägheit die eine Sünde, die nicht vergeben werden kann (RT, II), denn sie wiederum negiert ihn, den Geist. Es gibt überhaupt keine guten Gewohnheiten, weil vom Standpunkt des freien Geistes geurteilt, jede Gewohnheit schlecht ist. Bestimmte der Geist allein, dann dürfte es überhaupt keine geben. Denn mit jedem Gewohntwerden gerinnt ursprüngliche Freiheit zur Gana-Bindung. Jede Gana-Bindung aber bedeutet Sieg der Routine über die Initiative und damit der Trägheit über das Schöpfertum.

Auf diese Weise ist bisher die meiste, wenn nicht alle Schöpferkraft des Geistes auf Erden zur Gana-Bindung geronnen und hat damit ihren schöpferischen Charakter verloren. Der meiste feurige Odem ursprünglicher Religiosität hat sich gar bald als tote Dogmatik und Praktik niedergeschlagen. Die meiste Inspiration des Gedankens und der Tat hat sich zum Routine-Ablauf des Betriebes mechanisiert. Die meiste nicht unglückliche Liebe auf Erden hat sich zur Gewohnheit der Befriedigung degradiert. Die meiste Hochflut der Begeisterung hat nur stillstagnierende Tümpel auf etwas größerer Höhe hinterlassen, als gleichartige Tümpel früher etwas niedriger lagen. Irgendeinmal hat das Schwergewicht der Erde alle bisherigen Spuren des Geistes auf Erden überdeckt. Dieser Prozess läuft aber in den meisten Fällen erschreckend geschwind ab, weil die meisten im Niedergang einen Vorzug sehen; gleichwie so viele den traumlosen Schlaf höher schätzen als den Wachzustand und Schlaflosigkeit — gegenüber dem Wachen und Beten, welches Jesus gebot! — für das schlimmste Übel halten, das es gibt. Fast könnte ich aus meiner Lebenserfahrung heraus sagen: zeigt mir die jungvermählten Frauen, die sich nicht schon nach wenigen Monaten damit brüsten, alle Illusionen verloren zu haben und die in überlegen sein-sollender Ironie die einzig richtige Einstellung zum Leben gefunden zu haben behaupten! Zeigt mir die feurigen Jünglinge von gestern, welche heute nicht über ihren Idealismus lächeln und in gesinnungsloser Anpassung an die geltenden Mächte das Α und Ω der Lebensweisheit sehen — ihre letzte Unabhängigkeit darin bekundend, dass sie erklären, nicht wirklich an deren Vorzüglichkeit zu glauben, was ihnen das Recht gibt, sie skrupellos auszunutzen! Es bedarf eben der Anstrengung, um aus der Freiheit heraus zu leben, und nichts scheut die träge Gana mehr. Wogegen diese nichts freudiger begrüßt, als den Geistesverleugner; dem macht sie alles leicht. In restlos anerkannter, allmächtiger Routine sind alle so buchstäblich aufgehoben, dass es keinerlei innerer Anstrengung mehr für sie bedarf, um zufrieden und gemütlich zu leben.

Wer da nun wirklich in der Befriedigtheit der Gana sein Lebensziel sieht, weil Besseres über seine Kraft geht, mit dem ist nicht zu rechten. Doch wer überhaupt nach Höherem strebt, der weiß zutiefst, dass das Ziel des Menschenlebens in genau entgegengesetzter Richtung liegt: in der Überwindung aller Trägheit und damit aller Gewohnheit, in der restlosen Eroberung und Durchdringung des Ganamäßigen durch den Geist, in der Alleinherrschaft von dessen Gesetz und damit in der Begründung des ganzen Lebens in der Freiheit. Dies ist der tiefste Sinn aller, schlechthin aller höheren Religion. Alle, schlechthin alle will den freien Menschen schaffen. Nur hat alle mit der einzigen Ausnahme der indischen bisher die Freiheit im Gegensatz zu dem, was den meisten Freiheit bedeutet, bestimmt und damit eine Gegensatzstellung geschaffen zwischen Selbstbestimmung und göttlichem Willen. Am extremsten tut dies der Islam, welches Wort allein schon absolute Hingabe bedeutet. In der deutschen Theologie ist Schleiermacher in der gleichen Richtung am weitesten gegangen. Doch das unserer Zeit wohl einleuchtendste deutsche Beispiel solcher Sinnesart bedeutet Johannes Müller — eine echt und tief religiöse Gestalt, die sehr viel größere Beachtung verdient, als ihr bisher zuteil geworden ist. Ich zitiere aus seinem Brief, der viele angeht, den er seiner Streitschrift des Jahres 1934 Reformation oder Rückkehr zum Ursprung (Verlag der Grünen Blätter, Elmau) vorgedruckt hat, das Folgende:

Ich von mir aus und in meinem Bemühen bin gar nichts wert und kann nichts. Ich bin wirklich arm an Geist und ganz unfähig. Das ist keine Bescheidenheit, sondern tägliche Erfahrung seit meiner Jugend. Sobald ich auf mich sehe, bin ich wie gelähmt. Nur wenn ich ergriffen werde und mich vergesse, lebe ich von den Einfällen, Impulsen, Zufällen und Führungen dessen, der mich ergreift und gebraucht. Deshalb beabsichtige und unternehme ich seit Jahrzehnten nichts, sondern gebe von mir, was mir gegeben wird, und tue das, wozu ich jeweils angestellt werde. Ob es sich um die Beratung eines Gastes oder das Entstehen eines Buches wie Die Verwirklichung des Reiches Gottes handelt, das mir allmählich im einzelnen zufiel und gezeigt wurde. Soweit ich dabei in Frage komme, empfinde ich immer nur, wie unzulänglich ich bin und Fiasko mache. Vergleichen Sie die Vorrede zur Bergpredigt. Es ist mein Leiden, dass die Menschen sich etwas aus mir machen. Aber das ist ja allgemein üblich und ein Zeichen der Gottlosigkeit der Menschheit, auch der Kirche, dass sie die Tatsächlichkeit des Satzes: ein Mensch kann sich nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben nicht praktisch kennen, sondern immer verleugnen. So will ich wenigstens bekennen, dass ich nichts dafür kann, was durch mich geschehen und hervorgebracht ist … Es gibt keine autogene (ursprüngliche) innere Lebendigkeit des Menschen. Er ist Geschöpf Gottes und Organ seines Herrschaftswaltens oder Produkt der Verhältnisse und besessen, erfüllt, getrieben von dem Wahn, der ihn beherrscht, von dem Einfluss seiner Vergangenheit, Umwelt, Verhältnisse und Schicksale. Es gibt für den Menschen keine Wahl: Entweder er lebt aus Gott oder er stirbt an allem, was von dieser Welt ist, obgleich in allem jederzeit ein Wort Gottes an ihn ergeht, das er aber in seiner Gottlosigkeit nicht vernimmt. Nie in meinem Leben habe ich mich an die innere Lebendigkeit der Menschen gewandt. Nie von ihr etwas anderes erwartet als Willkür, Sinnlosigkeit, Ohnmacht, Wahn, Krampf und Sucht. Stets antworte ich den Fragen nach Kraft, dass der Mensch an sich keine Kraft hat noch hervorbringen kann, sondern sie immer empfangen muss, und ich sie mein Leben lang immer von den Lebensansprüchen erhalten habe, in denen mir Gott begegnete und genau soviel Kraft gab, wie nötig war, um sie zu erfüllen. —

Johannes Müller, gleich den meisten Menschen, die zum Typus der Glaubenden gehören, identifiziert sich selbst mit dem empirischen Ich — und dann natürlich vermag er gar nichts Höheres aus sich selbst. Denn dieses Ich ist, wie im Kapitel Traurigkeit der Kreatur der Meditationen gezeigt ward, das erste Produkt der Verhaftung des Geistes durch die Gana, ein Gefängnis, welches gesprengt werden muss, auf dass freies Leben aus dem Geiste möglich werde. Nun wird die Frage nie entschieden werden können, inwiefern das tiefste Selbst, welches, wie alle bekannt haben, die es in sich realisierten, transpersonal ist, noch ein objektiv Selbständiges ist, oder aber Teil oder Gefäß oder Ausdruck einer höheren Einheit; extrem ausgedrückt: ob Gott das allertiefste Subjekt des persönlichen Menschen jenseits seiner letzten persönlichen Einsamkeit ist, oder ob zwischen Gott und Mensch eine unüberbrückbare Kluft besteht. Gleich tief religiös Erlebende haben die eine und die andere Auffassung vertreten. Aber es war ein Fehler aller bisherigen religiösen Tradition, dass auf diese Frage überhaupt irgendein Nachdruck gelegt wurde: es ist praktisch gleichgültig, wie sie beantwortet wird. Dieser Fehler und nichts anderes erklärt die nicht allein immer weiter, sondern auch immer tiefer greifende Gottlosigkeit unserer Zeit. Vom Standpunkt des konkreten Ziels, welches jeder Strebende unwillkürlich als das seine anerkennt, ist das Entscheidende nicht einmal die theoretische Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht, schon gar nicht, ob der Mensch letztlich bestimmt oder bestimmt wird, sondern die Tatsache, dass der Angelpunkt zum Mehrwerden unter allen Umständen in der schöpferischen Einsamkeit des Einzigen liegt. Es bedeutet genau Gleiches, ob einer sich vollkommen dem Einfluss seines geglaubten Gottes öffnet, oder die letzte Verantwortung persönlich auf sich nimmt; im letzteren Falle äußert sich die Freiheit mittels des Plus-, im ersteren mittels des Minus-Pols des Lebens. Im Vortrag Der letzte Sinn der Freiheit in Wiedergeburt steht genau ausgeführt, inwiefern sich daraus, dass die verschiedenen Zentren im Menschen organisch zusammenhängen, ein unzerreißbares Korrelationsverhältnis ergibt zwischen den Wirklichkeiten, für welche die Worte Notwendigkeit, Freiheit und Gnade stehen, sowie die Unvermeidlichkeit, dass Überbetonung der einen sofort eine der anderen konstelliert; diese Gedankengänge verfolge man an der angegebenen Stelle weiter. Hier geht uns nur dieses an: dass die persönliche Unbedingtheit des einsamen Selbstes unter allen Umständen die letzte persönliche Instanz des Menschen bleibt. Tatsächlich hat auch keine große Religion anderes gelehrt, so missverständlich die Theologie sich vielfach ausdrückt. Die israelitische Gesetzesgerechtigkeit hat ihre Tiefendimension in der Vorstellung, dass der Mensch nicht allein vor Gott, sondern für Gott verantworte, und in der Lehre, dass die Welt um der Wahl der Wählenden erschaffen worden sei. Alle Prädestinationslehre hat ihr Korrektiv am Bewährungsgedanken, welcher persönliche Verantwortlichkeit höheren Grades setzt, als dieses irgendeine mildere Lehre tut. Wo nur Glaube gefordert wird, der als solches alles rechtfertige, da bleibt doch der Zweifel Sünde; Sünde aber ist der Höchstausdruck von Schuld, und Schuld gibt es nicht ohne letzte Verantwortlichkeit. Gedenken wir nun aber der Vielschichtigkeit des Menschenwesens, dann können wir abschließend dies sagen: unterhalb seiner Geistigkeit ist der Mensch zweifelsohne nicht frei und verantwortet deshalb auch nicht. Als geistiges Wesen hingegen ist er potentia absolut verantwortlich, und so kann er nicht freiwerden und damit seine Menschenbestimmung erfüllen, wenn er nicht letztinstanzlich alle Verantwortung übernimmt für alles, was ihn innerlich angeht, und sich damit rest- und vorbehaltlos für seine Freiheit entscheidet.

Mit dieser Erkenntnis gibt der Mensch denn die letzte Sicherung preis, welche die Urangst fordert. Nur wer die letzte Sicherung preisgibt, nur wer sich ganz zum Ur-Mut als Willen zum Risiko bekennt, kann darauf hoffen, das Freie in sich vollkommen zu befreien. Es gibt aber nur einen allen gemäßen Weg zur Befreiung: den des Sich-Öffnens allen Lebensansprüchen im Geist vollkommener Weltoffenheit, sei es im Sinn des Helden, der jeder Gefahr mit offenem Visier begegnet, oder im Sinne dessen, welcher all-erlebend sich selbst verwandeln will; es ist damit der Weg des Riskierens, des Experimentierens, des grundsätzlichen Verzichtens auf alle Gewohnheit, alle Sicherheit; es ist der Weg geistig-geistlichen Abenteurertums. Doch hier handelt es sich um ein anderes als jene pathische Hingabe, als jenes Ja-sagen zu allem und jedem Geschehen, welches Deutschen so nahe liegt. Hingabe der üblich-deutschen Art, die Über-Antwortung und damit Verzicht auf Verantwortung bedeutet, deren Devise insofern freibleibend und unverbindlich ist, als jedes neue Erleben zu sofortigem Umfallen berechtigt — diese Art Hingabe macht niemanden frei. Einzig die Art von Riskieren frommt, welche moralischen Mut fordert. Man soll wagen, und dann nicht Gott oder das Schicksal oder den Zufall walten lassen, sondern schlechthin alle Verantwortung auf sich nehmen, nicht nur für das, was man tut, sondern vor allem auch dafür, was einem widerfährt. Auf diese Geste des Subjekts kommt alles an, ganz einerlei, wie die Dinge objektiv liegen, denn im Bereich möglicher Freiheit entscheidet das Subjektive in letzter Instanz. Nichts darf der, welcher ganz frei werden will, auf andere abschieben, auf keinen Führer, kein Schicksal, keinen Zufall, keine Notwendigkeit und keinen Gott. Er muss von vornherein alle Konsequenzen dessen, woran er überhaupt beteiligt ist, auf sich nehmen. Er soll sich letztlich nicht vor anderen, und sei es Gott, verantwortlich fühlen, sondern vor sich selbst. Jede Abwälzung der Verantwortung für Tun und Erleiden auf die Vorsehung ist eine gemeine List der Feigheit. Jede Äußerung der Art wie es sollte wohl nicht sein bedeutet selbstmörderischen Verzicht. Sicher gibt es so etwas, was man am neutralsten und zugleich exaktesten kosmische Fügung heißen mag. Darunter ist nicht das Natur-Schicksal (SM, IV) zu verstehen, innerhalb dessen es selbstverständlich keine Selbstbestimmung gibt — hier stellt der Mensch nur ein Rädchen dar in gewaltigstem Betrieb, aus dem ihm auszubrechen nicht gegeben ist —, sondern die Zugehörigkeit auch des einsamen Einzigen in der Dimension des Transsubjektiven und Transpersonalen zu einem großen Ganzen. Aber diesem gehört der Mensch eben als letztentscheidender einsamer Freier an. Und der persönliche Sinn jedes äußeren Geschehens, auch wo es kosmisch gefügt ist, liegt darin, wie einer es persönlich aufnimmt und auf sich nimmt; sonst wäre nicht ein angeblicher göttlicher Heilsplan nach dem anderen am Menschen zuschande geworden. So bedeutet es denn nicht mehr und nicht weniger als Gotteslästerung, so einer sich in welcher Lage auch immer auf die Vorsehung beruft. Niemals hat diese vorausbestimmt, wie der Mensch das ihm Gegebene und Zufallende aufnimmt und verwertet, und darauf allein kommt es beim Sinn des Geschehens an. So sagt orientalische Ur-Weisheit: Alles steht in der Macht Gottes, nur nicht die Gottesfurcht. Was aber das Verhältnis des Einzelnen zu dem betrifft, was ihm objektiv widerfährt, so gibt es davon bisher nur eine einigermaßen wahrscheinliche Theorie: es ist dies die indische Karma-Lehre. Nichts, lehrt diese, ward je über einen Menschen verhängt, was nicht seinem tiefsten einsamen Selbst gemäß wäre. Nicht jedoch, insofern Glück und Unglück als solche metaphysische Bedeutung hätten, sondern insofern jede Gesinnung und jede Tat unabwendbar bestimmte empirische Folgen zeitigt. Ob es sich bei diesen aber um Strafe, Sühne, Prüfung, Hemmung oder Förderung handelt, darüber entscheidet wiederum das einsame Selbst durch seine freie Stellungnahme. In diesem Sinne hat es auch noch nie einen von Gott gesandten Führer gegeben, auf welchem Gebiete immer, und nie wird es je einen geben. Mag ein Heiland in der Sphäre des Metaphysischen den höchsten Rang einnehmen — seine ganze historische Bedeutung hängt davon ab, wie er auf Erden frei mit seinen Möglichkeiten schaltet und wie sich die anderen, geistig, seelisch und praktisch, frei zu ihm stellen. Die Geschichte ist die eine Ebene des Geschehens, wo der Mensch ganz allein verantwortet. Hier walten weder Naturgesetze, noch spirituelle Normen: hier hängt alles von der selbständigen Entscheidung der Menschen ab, ihrer Einsicht, ihrer Wahl, ihrer Entschlusskraft im Führen und Gehorchen. Wer dies noch immer bezweifeln sollte, der meditiere nur den Lauf aller Geschichte: ausnahmslos ist bisher alles von hohen Einzelgeistern initiierte Große und Gute am Versagen ihrer Nachfolger zuschanden geworden (NW, III).

Wie ist es nun möglich, sich so ganz in seinem Freien zu zentrieren? Es ist möglich, gerade weil es, im Rahmen der Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität geurteilt, nicht möglich ist. Denn diese Möglichkeit besteht wohl in jedem Augenblick, jedoch in keiner Zeit; sie besteht im Einbruch neuen Sinnes in jede Kausalreihe, doch von keiner gegebenen Kausalreihe her. Freisein besteht zutiefst in einer freischwebenden Einstellung zu allem, schlechthin allem, was das Leben jeweils ist und bringt und ausmacht. In einer Einstellung schlechthin schöpferischer Indifferenz, welche einerseits in einem Freisein von allem besteht, was von der Unterwelt her bindet, und andererseits in einem inneren Freisein zu allem, was der Geist als Ziel vorstellen mag. An dieser Stelle können wir denn das für diesen Zusammenhang letztgültige Wort über die Gedankenfreiheit sagen. Diese besteht, sofern sie ein Ideal sein soll, durchaus nicht in der Freiheit zu beliebiger Meinungsäußerung, so falsch und schädlich sie sei: sie besteht einzig und allein, aber andererseits ganz und gar in der Freiheit zur Wahrheit. Diese Formulierung und sie allein prädeterminiert allen nur möglichen Erkenntnisfortschritt. Sie verbindet die Ideen von Freiheit, Wahrheit, und Verantwortung zu unlöslicher Einheit, die Verantwortung impliziert aber ihrerseits den Mut zum Risiko. In der Freiheit zur Wahrheit nun liegt die Möglichkeit zur Enthaftung sogar von dem vorgebildet, was von der Natur her geurteilt unentrinnbare Bindung zu sein scheint: die Verhaftung an das Vorgebildete im eigenen Unbewussten. Jede Tradition bedingt ein bestimmtes Sosein dieses, mittels dessen sich alsdann neue Einsicht äußert. So erlebt jeder Christ die metaphysische Wirklichkeit unwillkürlich christlich, der Inder hinduistisch usf.; nur in der Hineinlesung äußert sich da die eigene Unbedingtheit. Doch es ist möglich, auch über diese Verhaftung an Name und Form hinauszugelangen: so bedeutet Freisein dem Freien allein auch den Weg zur absoluten Wahrheit.

Wer sein Leben ganz in seinem Freisein fundiert, der begründet es damit in seinem — Zaubern-können. Zutiefst ist der Mensch überhaupt kein träges Gana-Wesen, sondern recht eigentlich Zauberer. Als Zauberer gewirkt hat denn auch jeder Mensch, welcher innerlich so frei geworden war, dass das Freie in ihm durchaus bestimmte. Einen solchen beengt die unentrinnbare Bindung seines empirischen Teils an den Naturprozess überhaupt nicht. Für sich ist er ihm, ob noch so augenscheinlich gebunden, entrückt. Wie durch ein Wunder bedeuten und enden Zufälle, die ihn befallen, anders, als sie es nach menschlichem Ermessen tun müssten. Das eine Mal erscheint er unerschöpflich in seiner Produktivität oder unermüdbar; das andere Mal wie gefeit gegen Krankheit und Anfechtung oder bis zum Tode im hohen Alter jung. Nach außen zu aber löst ein also Freier erst recht zauberhafte Wirkungen aus. Die Mühseligen und Beladenen, welche ihm nahen, macht er wie selbstverständlich frei; die meisten Probleme, welche solche bedrücken, sind auf einmal keine Probleme mehr. Unwillkürlich heilt er die Trägen von ihrer Trägheit, die Feigen von ihrer Feigheit, die Ungläubigen von ihrem Unglauben. Die Geistig-Blinden werden durch seine Gegenwart sehend, die Sündbewussten fühlen sich erlöst. Indem jedoch der Freie also rein ausstrahlt, rein gibt ohne wiederzunehmen, thront er innerlich hoch, hoch über allem Hunger und aller Angst, aller möglichen Sorge und aller Ausschließlichkeit. Damit ist er zu einem reinen Behälter der Freudigkeit geworden und kennt die ganze Glückseligkeit, welche dem Menschen, so wie er heute ist, auf Erden erzielbar ist.

Absichtlich habe ich die letzten Betrachtungen mit einem so nie vielleicht erreichten Idealbild abgeschlossen; nun möge es im Leser selbsttätig fortwirken. Seine Vollendung kann dieser ganze Gedankengang erst im nächsten Kapitel finden. Doch da jeder zutiefst die Freude und nicht die Abgestumpftheit will, so ist schon an dieser Stelle klar, dass jeder seine Glückseligkeit nur in der Freiheit findet, wo immer er sie suche. Und da es von jedem selber abhängt, wohin in sich er den Akzent legt und mit welcher Kraft; da das Freie in jedem lebt und jeder zutiefst das Zünglein an der eigenen Waage ist, ob er dies nun weiß und anerkennt oder nicht; da endlich überhaupt nicht ein dauerndes Erreichnis in Frage steht, sondern einzig ein Wach- und Gespanntbleiben von Augenblick zu Augenblick, so ist es jedem gegeben, zum Schöpfer seiner eigenen Freiheit zu werden. Den Weg dazu weist das schönste Wort des Meisters Eckhart:

Suche allezeit wie ein anhebender Mensch zu sein. Den Verzagenden aber ermutigt das andere Wort des gleichen Meisters: Gebricht dir’s nicht am Wollen, sondern allein am Vermögen, wahrhaftig: Vor Gott hast du alles getan!
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
X. Freiheit
© 1998- Schule des Rades
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