Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom persönlichen Leben

XII. Heiligung

Sinn des Lebens

Mehr kann und darf ich nicht sagen. Nichts Konkretes ist jemals, so wie es wird, vorauszusehen, und wo Freiheit letztinstanzlich entscheidet, ist keinesfalls gewiss, was kommen wird. Ich konnte und wollte hier nur den Weg weisen. Wem er überhaupt einleuchtet und wer überhaupt berufen ist, ihn zu wandeln, der wird ihn dank den wenigen gemachten Angaben selber finden. Nur die folgende Frage darf ich hier noch beantworten. Wenn alle Geist-Verwirklichung auf Erden Sinn-Gebung ist und jeder Mensch instinktiv einen End-Sinn annimmt, gleichviel was er sich darunter vorstelle — was ist völlig undogmatisch, nicht substantivisch, sondern adjektivisch, nur der Bedeutungs-Intention nach bestimmt, dieses Endsinnes Endsinn? Die hiermit geforderte Bestimmung können wir vornehmen, denn mit der bloßen Setzung eines letzten Sinnes ist dieser bereits implizite bestimmt. Es ist das, was Plato die Idee des Guten hieß. An diesem Punkt erscheint der große Hellene als größter aller bisherigen Sinnversteher. Geistverwirklichung gelingt erfahrungsgemäß nur durch erstrebte Realisierung als solcher anerkannter absoluter Werte. Deren Generalexponent nun ist nicht die Idee des Wahren und auch nicht die Idee des Schönen, denn nur auf Grund ethischer Zielsetzung kann sich die bloße Forderung der Verwirklichung ästhetischer und logischer Werte überhaupt stellen.1 Diese Tatsache ist nichts anderes als die logisch notwendige Folge dessen, dass Sinnesverwirklichung nur mittels Sinngebung gelingt. Nur durch die persönliche Freiheit hindurch kann sich Überpersönlich-Geistiges manifestieren.

Weil dem so ist, deswegen gelten dem Christentum guter Wille und Liebe als letzte Instanzen. Darum entscheiden sie ihm und nicht Wahrheit oder Irrtum, nicht ästhetische Vollkommenheit oder Unvollkommenheit über Heil und Verdammnis. Bei gutem Willen und Liebe als selbstlos positivem Verhalten anderen gegenüber handelt es sich nun offenbar um Wege dazu, Geschehen und Schicksal, was und wie immer diese an sich seien, einen guten Endsinn zu geben. Aus diesen kurzen Betrachtungen ergibt sich denn mit aller auf Erden erreichbaren Vollständigkeit die undogmatische und überkonfessionelle Bedeutung des Wortes Heiligung: dieses Leben heiligen, bedeutet allen seinen Äußerungen einen Endsinn geben, welcher ausschließlich vom metaphysisch und unbedingt Guten her besteht. So verschmelzen Einzigkeitsbewusstsein und Allverbundenheitsgefühl im Geist des Guten. Ist nun diese Verschmelzung auch nur angebahnt, dann strömt durch alles Tun und Lassen, alles Wollen und alles Ertragen ein Strom heiligen Geistes hindurch, der letztendlich alles Leben heiligt. Dann wird das ganze Leben zum Sakrament im selben Sinn, wie unter lebendigen Lebensformen heute nur noch die Ehe eines darstellt.

Wer auf dieser Stufe angelangt ist, dem bedeutet Heiligung überhaupt kein theoretisches, sondern nur mehr ein rein praktisches Problem. Dann zeigt es sich, dass das ganze Zeitalter herrschender Theorie nur ein wahrscheinlich notwendiger Umweg war. Nur durch Herausstellungen seines Innersten und von diesem her weitertastend konnte der Mensch zu letztpersönlicher Einsicht gelangen. Ist er aber wirklich zu persönlicher Sinneserfassung gekommen, dann fragt er überhaupt nicht mehr nach theoretischer Wahrheit, sondern nur noch nach persönlicher Vollendung. Ja dann fragt er überhaupt viel weniger mehr. Zum Abschluss des Ganzen sei denn in noch so kurzen Worten eine Antwort auf die Frage gegeben, welche in den Zusammenhang eines Buchs vom persönlichen Leben eigentlich nicht hineingehört, die aber, ich fühle es, sehr viele meiner Leser stellen werden: die Frage nach dem Nachher, dem Jenseits. Da ist denn dies zu sagen: Wer da die Wesen und Dinge so sieht, wie sie wirklich sind und sich diese Wirklichkeit vollkommen eingesteht, der beantwortet nicht allein mehr Fragen, als vormals zu beantworten möglich war: andererseits und vor allem stellt er sich viele Fragen nicht mehr. Das Goethe-Wort, das ich am häufigsten zu zitieren Gelegenheit finde, lautet: Lebhafte Frage nach der Ursache ist von großer Schädlichkeit. Was er meinte, ist dies: die allermeisten Fragen solcher Art werden ohne jedes Interesse an der Sache gestellt; sie werden nur dazu gestellt, um von der praktischen Anschauung dessen, was ist, durch Flucht in dessen theoretische Gründe loszukommen. Wenn einer in revolutionären Zeiten misshandelt wird, so fragen alle schwachen Naturen, d. h. die überwältigende Mehrzahl aller Menschen zuerst warum, um dadurch des Mit-Leidens enthoben zu werden. Und finden sie, dass der Betreffende nicht schuldlos war, so ist für sie das unangenehme Erleben damit ausgelöscht. Das scheint ein Sonderfall: der psychologische Urgrund der meisten Theodizeen, Eschatologien und sogar der meisten wissenschaftlichen Systeme ist kein edlerer. Alles soll entweder aus Gutem hervorgegangen sein und zum Besten führen, oder aber aus Bekanntem hervorgegangen sein und zu Bekanntem führen: in beiden Fällen ist für den, welcher solches fordert, die persönliche Erkenntnis-Problematik ausgelöscht. Wer da nun wirklich verstehen will, der fragt sehr wenig, und der erklärt solange als möglich überhaupt nicht: er schaut und er strahlt aus. Mit seinem ganzen Wesen, nackt und offen, stellt er sich der Wirklichkeit so, wie sie ihm entgegentritt; ohne Vorbehalt wirkend und ohne Vorbehalt erleidend. Dann offenbart sich auf die Dauer zwangsläufig die wahre lebendige Beziehung zwischen der Welt und ihm. Soweit er erkennen will, fallen ihm dann die richtigen Lösungen ein; als Gefühlswesen findet er ganz von selbst die rechte persönliche Beziehung zu anderen Wesen; als tätiges schlägt er unwillkürlich die für ihn rechte Willenszielrichtung ein, und unvermeidlich prägt er sein Sosein der Welt auf entsprechend der geistigen Kraft, welche er verkörpert und deren besonderer Modalität. Bewusst braucht er kaum zu wissen, was dabei geschieht. Sehr selten ermessen große Geister ihre eigene Kraft; sie spüren nur, dass Kraft von ihnen ausgeht. Diese aber wächst von übernommenem Risiko zu übernommenem Risiko, von persönlichem Entschluss zu persönlichem Entschluss, von erkämpfter Entscheidung zu erkämpfter Entscheidung, von frei-willig geopfertem Opfer zu freiwilligem Opfer. Jesus betete zum Vater für die, welche ihn kreuzigten: sie wüßten nicht, was sie täten. Aber so weiß auch kein Welterlöser wirklich, was er tut. Wie keiner bisher verkörperte Jesus den Geist der Wahrhaftigkeit. Heute aber wissen wir über allen möglichen Zweifel hinaus, dass die Vorstellungen, welche er selber über seine Sendung hegte, ganz anders waren als das, was sich als seine tatsächliche Sendung erwiesen hat.

Je weiter ein Mensch nun auf diesem einzig ersprießlichen Wege des Selbst-Einsatzes und des Sich-selbst-Aussetzens kommt, desto mehr erkennt er, wieviele Fragen unnützliche Worte sind, für welche der grimme Jahveh mit dem Gerichte drohte. Theoretisches Wissen als solches nützt vital, das heißt für das persönliche Erleben, unmittelbar überhaupt nichts. Es nützt nur, wo es Ausdruck erfolgter innerer d. h. organischer Klärung und nicht Ersatz dafür ist, oder wo es Ansatzpunkt ist im gleichen Verstand wie eine Arbeitshypothese. Nur aufschließendes Wissen dient dem Leben; abschließendes hemmt, fesselt, erdrosselt es.

Diese Erwägungen erklären, warum es gerade des Sokrates Behauptung, dass er, im Gegensatz zu den meisten Athenern, nichts wisse, war, aus welcher die exakte Wissenschaft entsprossen ist. Sein unaufhörliches Fragen bewies das genaue Gegenteil von Neubegier. Aus ähnlicher innerer Motivierung wie Kant wollte er Dämme aufrichten gegen die Flucht des Gedankens in die Gedankenflucht. Er wollte auf logischem Wege erreichen, was das brahmanische Indien durch Meditationstechnik anstrebte, die im wesentlichen auf einer Fixierung der Aufmerksamkeit beruht, oder Konfuzius dadurch, dass er zur Antwort immer nur einen kleinen Teil dessen gab, was er meinte, das übrige dem Selbstfinden des Fragers überlassend, oder der Buddha dadurch, dass er über bestimmte Probleme ausdrücklich, auf dass man es wohl merke, nichts verlautbarte. Ja, letzten Endes dient das betont Irrationale der Dogmen der christlichen Kirchen dem gleichen: es soll nicht über einen gewissen Punkt hinaus gefragt werden. Denn hier waltet ein dem Gelehrtengeist besonders schwer fassliches Weltgesetz: wer wirklich wissen will, dabei aber nicht fragen darf, gerade der findet am leichtesten den einen und einzigen Weg, der zur Beantwortung der zutiefst gemeinten Frage führt. Dieser eine Weg ist der des Selbst-Experimentes. Genau ebenso, wie in bezug auf die äußere Natur, gelangt der Mensch auch in bezug auf sich selber so allein zu exakter Erkenntnis, dass sich Wirklichkeit anderer Wirklichkeit aussetzt. Die realen Veränderungen, die dieser Prozess auslöst, sind die Antworten. Bloß theoretische Antworten sind für das Leben belanglos.

Sucht man nun auf diese Weise festzustellen, was man wirklich will, dann ergibt sich ein allen intellektuellen Vorurteilen erstaunlich wenig entsprechendes Bild. Man will zunächst erstaunlich viel weniger wissen, als man annimmt. Man will nie wirklich die genaue Zukunft kennen; alle Hochkonjunktur echter oder vermeintlicher Zukunftskünder fand von jeher zu solchen Zeiten statt, wo Gegenwartserleben den meisten zu schwer zu ertragen war, weshalb sie in die Zukunft flüchteten. Dies erklärt, warum Nicht-Eintreffen von Voraussagen eigentlich keinen, der sich mit Wahrsagungen beschäftigt, stört, und schlimme Prophezeiungen nur selten unangenehmer wirken als gute. Wahrscheinlich gibt es so etwas wie Vergangenheit und Zukunft nicht wirklich und nicht letztlich. Allein der Mensch ist so gebaut, dass seine Lebensmelodie nur dann Erfüllung ist, wenn alles zu seiner Zeit geschieht, nichts vorweggenommen, auch nichts im Rückblick verschoben und damit als Gegenwart versäumt wird; dieses aber bedingt, dass jeder neue Augenblick für ihn Überraschung ist und sein soll. Kommt der Augenblick also überraschend, dann erträgt der Mensch sogar das Entsetzlichste; dann allein vor allem meistert er sein Schicksal, soweit er es zu meistern fähig ist. So hat kaum einer Todesfurcht in wirklicher Todesgefahr, sofern er sich nur wehren kann. Umgekehrt kann jeder, der die Gabe lebendiger Erinnerung hat, für sich ermessen, welche Gnade es war, dass er die Zukunft nicht kannte: um alle größte Freude wäre er dann gekommen; das Schwere und Schmerzliche jedoch, das ihm zu tragen beschieden war, hätte er dann kaum überhaupt ausgehalten.

Von hier aus geurteilt ist denn das, was der Engländer to rise to emergencies heißt, das Urphänomen ursprünglichen Lebens. Und alles unverbildete Leben wehrt sich dagegen, dass diese Urbetätigung ihm verkürzt werde. In diesem Sinne weigern Kinder sich mit Recht, von den Erfahrungen ihrer Eltern über ein gewisses, recht bescheidenes Maß hinaus zu profitieren. In diesem Sinne soll auch der Tod überraschend kommen; das Furchtbare an der Hinrichtung ist gerade dies, dass hier der Tod mechanisch festgesetzt und ausgeführt wird. Und im gleichen Sinne, endlich, soll man auch nichts Gewisses über das Jenseits wissen. Wahrscheinlich sind alle Antworten auf Fragen, die über das Jenseits der Schwelle des Todes erteilt worden sind und werden, schon deshalb falsch, weil sie vom Gehirn her gestellt werden und dass es außerhalb des Körpers kein Gehirn gibt. Doch sei dem nun so oder anders: keiner will zutiefst genau wissen, was später sein wird. Der eigentliche Sinn der meisten Totenbücher, von denen dasjenige Tibets das eindrucksvollste ist, liegt nicht in dem, dass sie aufklären, sondern dass sie Verhaltungsmaßregeln empfehlen. Es sind unter allen Menschentypen vielleicht überhaupt nur die Theosophen, jene oberflächlichsten aller Erkenntnisstreber, welche Neugierde in bezug aufs Jenseits fühlen. Jeder tiefe, im Gleichgewicht seiner Kräfte befindliche Mensch hat von jeher durch sein Verhalten bewiesen, dass das Lebenswichtigste am Sterben die Bereitschaft zur Überraschung ist. Ob sie gefasst waren oder besorgt — nie eigentlich dachten sie angesichts des Todes an anderes als daran, dieses Leben geordnet und sinngemäß abzuschließen, um so vollkommen bereit zu sein für ungeahntes Neues. Dies bedeutet das Sinnbild des weißen Gewandes, das auf Erden dem Toten und nach dem Dafürhalten vieler Religionen der entleibten Seele angetan wird. Eben dies bedeutet die Forderung, dass man an die Unsterblichkeit glauben soll, sowie die einstimmige Abneigung aller religiöser Naturen gegen jeden Versuch, die Frage durch naturwissenschaftliches Experiment zu entscheiden. Was aber den Glaubensinhalt betrifft, so gilt von den meisten Tiefen, die sich zu einem positiven Jenseitsglauben bekennen, wohl dies: sie legen ihr Oberbewusstsein in bestimmter Fixierung fest, auf dass das schöpferische Unbewusste die Möglichkeit habe, sich so unbehindert auf das Risiko neuen Lebens vorzubereiten, wie dies der musikalische Charakter alles Lebens fordert.

Den Sinn des Lebens tiefer zu verstehen, bedeutet also nicht notwendig, mehr von ihm zu wissen: es bedeutet in manchen entscheidend wichtigen Fällen, dass man es ablehnt, Fragen zu stellen, mehr Risiko auf sich nimmt und weniger vorsorgt. Der Erkenntnistrieb hat zeitweilig weit über seine ihm zugewiesenen Grenzen hinaus gewuchert. Was uns am Jenseits ernstlich angeht, ist doch nicht Buchwissen, sondern dessen lebendiges Erleben. Der ganze Mensch lebt hienieden. Dass auch der ganze sterbe, halte ich für ausgeschlossen. Doch wie dem auch letztlich sei: nur von der Ganzheit des lebendigen Menschen her und auf sie hin sind auch Erkenntnisprobleme Wesensprobleme. Und wissen wir heute, dass der weitaus größere Teil des Seelenlebens unbewusst verläuft und dass es verderblich ist, nur in der Nacht Gedeihendes dem Lichte auszusetzen, so könnten wir auch wieder wissen, dass es dem Sinn des Lebens entspricht, dass wir im Dunkel sind über das, was der Tod eigentlich bedeutet. Dass er ein Wesentliches sei oder auch das, als welches trauernde Hinterbliebene ihn empfinden, ist mehr als unwahrscheinlich. Sonst gingen Krieger nicht so selbstverständlich in den Tod sonst fänden es ihre Mütter und Bräute nicht so selbstverständlich, dass sie in den Tod gehen. Sonst könnte rechter Tod nicht als Erfüllung des Erdenlebens empfunden werden. Sonst erkennte nicht jeder Tiefe so selbstverständlich an, dass es Höheres gibt als das Leben; sonst gäbe es nicht das bloße Wort sein Leben lassen. Sonst bedeutete es vor allem nicht vital so wenig, ob einer an persönliche Unsterblichkeit glaubt oder nicht. Denn metaphysisch tiefste Menschen sind gleich befriedet gestorben im Nicht-Glauben an individuelle Fortdauer, wie andere, ebenso tiefe, im Glauben an sie.

Ende

1 Die letzten Sätze stellen ein Zitat dar aus Wiedergeburt, S. 467. Es folgen darauf die folgenden Sätze, die ich zur Erläuterung hinzusetze und die ihrerseits zu einer Ent-Relativierung der Begriffe von Gut und Böse führen, welche ich dort nachzulesen bitten muss:
Wie auf der Naturebene sein Ethos und nichts anderes den Menschen macht, denn dieser steht und fällt als Mensch mit seiner Selbstbestimmung, so führt Ethos allein von jener ins Reich der Werte hinüber. Welcher Umstand allein zur Erklärung dessen genügt, warum allen Menschen aller Zeiten, und Kindern noch eindeutiger als Erwachsenen, da sie ihre ganze Welt erst zu erschaffen haben, das ethische Problem als das primäre und letztentscheidende galt und gilt. Nicht die Ethik ist auf anderes zu begründen, sondern die Wirklichkeit dessen, was theoretische Ethik mühsam zu verstehen sucht, bildet die faktische Grundlage alles Geisteslebens.
Hermann Keyserling
Das Buch vom persönlichen Leben · 1936
XII. Heiligung
© 1998- Schule des Rades
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