Schule des Rades

Hermann Keyserling

Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze

Erneuerung aus dem Ursprung

Die chinesische Weisheit, welche lehrt, dass jedes sichtbare Geschehen um 25 Jahre zurückzudatieren sei, hat heute auch in Europa erwiesenermaßen recht. Vor einem Vierteljahrhundert gründete ich aus der Einsicht heraus, dass es in dieser Krise nicht nur geistige Erneuerung gilt, sondern Neuverknüpfung von Geist und Seele, wodurch allein das unaufhaltsame Umsichgreifen der Zersetzung und des Abbaues in Neuaufbau und einen Schritt vorwärts in der Höherentwicklung der Menschheit im Menschen einmünden können, die Schule der Weisheit, deren Standardwerke Schöpferische Erkenntnis, Wiedergeburt, Die neuentstehende Welt, Das Buch vom persönlichen Leben und zuletzt das erst jetzt erscheinende Buch vom Ursprung zeigen, dass einerseits jeder Kulturpessimismus verfehlt ist, dass es aber andererseits wirklich ganz neu anzufangen gilt. Vor einem Vierteljahrhundert glaubten wenige außer mir, dass sich das, was damals in Russland geschah, nicht als bedauerliche Exzentrizität, sondern als futuristische Skizze einer Welt-Mutation erweisen würde. Heute kann jeder, welcher Augen hat zu sehen, wissen, dass nur aus dem tiefsten Erleben dessen heraus, was ich in meiner metareligiösen und sinnbildlichen, darum nicht allzu scharf abgrenzenden Sprache den Ursprung heiße, neue Tiefenkräfte frei werden. Und deren Beschwörung tut bitter not, denn überall auf Erden sind die Menschen arg oberflächlich geworden. Wo nun aber einer den Weg zu seinem Ursprung sowohl der Natur wie dem Geiste zu zurückfand, dort erweist sich Zerstörung wirklich als Schwelle der Wiedergeburt auf höherer Stufe. Und zwar stellen sich die Probleme bei allen Völkern gleich, denn es gibt nur noch planetarische Probleme, und überall zählen für die Zukunft allein die, welche sich durch die Welt-Mutation tief ergreifen und verwandeln lassen. Was soll da irgendein Pessimismus? Es hängt doch von jedem Einzelnen ab, ob das noch so entsetzliche Geschehen, ob er es selbst herbeiführte, oder ob es ihm auferlegt wurde, einen positiven Endsinn gewinnt.

Was bedeutet dieser gewaltigen Erneuerungsmöglichkeit gegenüber äußeres Unglück oder andererseits ein bloßer Fortschritt in der abstrakten Erkenntnis, von äußerer Zustandsbesserung zu schweigen? Der Mensch ist doch in erster Instanz eine Seele. Viele glauben heute noch, wo seine Prophetie erledigt ist, an Spengler, oder aber sie bekennen sich zur Existentialphilosophie, einem äußerst scharfsinnigen Gebäude, das aber seinem tiefsten Sinne nach ein Ausdruck der Verzweiflung ist und damit auf einer Ebene gelegen mit allem Zerstörerischen ist der Mensch wirklich in ein Schicksal, das ihn innerlich nichts angeht, geworfen, dann hat das Erdenleben tatsächlich keinen Sinn und dann können Nicht-Philosophen leicht darauf verfallen, statt Systeme auszuklügeln, Völker auszurotten, nur um ihre Utopien zu verwirklichen. Bei diesen Problemen tiefsten Lebens und Erlebens gilt es anzusetzen, nicht bei irgendeiner Theorie. Und siehe da: kaum ist das geschehen, dann gewinnt das noch so schwer gewordene Leben neuen Sinn. Dann sieht man auch die planetarische Bedeutung des scheinbar sinnlosen Zerstörens ein. In der Nazi-Zeit, wo ich in Deutschland totgeschwiegen und am Wirken verhindert war, schrieb ich mehrere französische Bücher, die in die meisten Weltsprachen außer ins Deutsche übersetzt wurden: insonderheit Die Weltrevolution und die Verantwortung des Geistes (1934), in welchem Buch ich das sich in allen so oder anders Vollziehende als Revolte der Erdkräfte gegen den substantiellen Geist, dessen Protagonist in unserem Kulturkreis Jesus Christus war, charakterisierte, und in dem ich weiter darauf hinwies, dass der Tierbändigertypus, welchen Hitler zutiefst verkörperte, durch den des geistig-geistlichen Führers abgelöst werden müsse und zwar wiederum wie seinerzeit bei Christus, nur auf anderer historischer Stufe, durch den im Menschen verkörperten, nicht abstrakten Geist. In einem anderen französischen Buche Vom Leben als Kunst (1935) zeigte ich, inwiefern es heute auch in der Philosophie auf Fortschritt im bloß abstrakten Denken gar nicht mehr ankommt, sondern auf Polarisation des ganzen Menschen mit seiner Innen- und Außenwelt. Heute wie nie früher gilt es an erster und letzter Stelle, eine höhere Stufe in der Menschwerdung zu erklimmen.

Wer nun die Frage so stellt, der findet unweigerlich den Weg zu seinem Ursprung. Je nach seiner Begabung wird dieses seine Religiosität, sein Erkennen, seine Kunst, sein politisches und soziales Wirken von bisher ungeahnter Tiefe her neu beseelen. Es gilt also ungleich Wesentlicheres, als irgendeine neuere Philosophie jemals gelehrt hat. Sobald das Leben einen neuen Sinn gewinnt, werden alle äußeren und inneren Schwierigkeiten erträglich. Für die, welche also unterwegs sind, ist die Zeit der Äußerlichkeit, als welche die letzten zweihundert Jahre zu bezeichnen sind, schon um, analog dem, wie für die Urchristen durch Jesu Sühnopfer der Tod: jetzt schon, mitten im Leben, überwunden war. Wieder einmal wie vor zweitausend Jahren hat alle Sophistik ausgespielt, der Zeuge für seine Wahrheit (Märtyrer bedeutet im Griechischen ursprünglich lebendiger Zeuge, nicht für seine Überzeugung Sterbender) tritt an die Stelle des unverbindlichen Denkers. So kann ein äußerlich unscheinbarer Mensch, sofern er nur den Weg zu seiner Tiefe findet, fortan mehr bedeuten als bisher nur ein durch große Talente Begnadeter. In diesem und nur in diesem Sinne bejahe ich die These, die man so oft vertreten hört, dass jetzt die Zeit des kleinen Mannes komme. In Wahrheit aber gilt es weder im bisherigen Sinne kleine noch auch große Männer. Eine neue Rangordnung manifestiert sich in der ganzen Welt. Vor allem die besiegten Völker haben allen Anlass, sich baldigst, alle Zwischenprobleme beiseite schiebend, direkt dem Ursprung zuzuwenden. Denn vom Ursprung her betrachtet, bedeuten Sieg und Niederlage nichts Wesentliches: nur darauf kommt es an, was dieses und jenes Geschehen in der Seele bewirkt. Leicht können auch hier sich die Letzten plötzlich als die Ersten erweisen. Ob dem aber so wird, hängt von keinerlei Kollektivgeschehen ab, sondern einzig und allein von der geistigen Initiative und der Tragfähigkeit der Seele jedes Einzelnen. In jedem Einzelnen, und nur in ihm west als Tiefstes der substantielle Geist mit bestimmten positiven Eigenschaften. Das von Jesus vorausgesagte Zeitalter des Heiligen Geistes besteht eben darin, dass jeder Einzelne alle Verantwortung übernehme. Unverantwortliches und unverbindliches Denken und Handeln, wie es für die letzten zweihundert Jahre charakteristisch war, hat keinerlei positive Zukunft mehr.

Hier und heute kann ich nur ganz kurz skizzieren. Ich habe auch schon genügend Bücher geschrieben, welche dies Grundthema variieren. Fortan werde ich dort und von dort aus, wo ich gerade bin, zunächst in Innsbruck, mündlich wirken. Ich brauche an meinem Lebensabend eigentlich nichts mehr tun als gleichsam i-Punkte aufzusetzen. Mögen sich meine Leser nicht darüber beklagen. Das mündliche Wirken ist dank dem Rundfunk genau so übertragbar geworden wie früher nur Schriftliches. Seit Beginn des Luftkrieges predigte ich meinen Freunden, dass sie sich auf Vorlesen und Vortragen einstellen mögen. Vor 1928, wo wenige diese Entwicklung voraussahen, veröffentlichte ich im Jahrbuch der Schule der Weisheit, dem Weg zur Vollendung, einen Aufsatz: Das Ende der Buchweisheit. Welche Aufgaben stellen sich da für jeden, der von einer neuen oder alten Wahrheit tief ergriffen ist! Sogar die Erschwerung des Lebens, dank der sich nicht jeder mehr durch Bücher wird bilden können, mag sich als Weg zum Ursprung erweisen. Noch ist die große Erfindung des Rundfunks in ihrem positivsten Sinne kaum ausgenutzt worden. Nur zu oft hat er im Dienste bösester Propaganda gestanden. Möge sich auch hier das paradoxale Weltgesetz manifestieren, gemäß welchem das Böse von gestern so oft zum Guten von morgen geworden ist. Freilich ist dieser Prozess auch manchmal umgekehrt verlaufen. So wurde der antike Dionysos oder Pan zum christlichen Teufel. An uns ist es, wiederum an jedem von uns, jedem in seiner besonderen Lage, zu verhüten, dass Ähnliches wieder oder dauernd wahr werde. Anfang der Zwanzigerjahre hielt ich in Hamburg einen rein aufbauenden Vortrag, der, soweit ich mich erinnere, Geschichte als Tragödie betitelt war. Da sagte ein mir Unbekannter zu mir: Sie sind also Optimist: Sie glauben, dass alles gut werden wird. Ich antwortete ihm, ich glaube gar nichts ich bin einfach, der ich bin und tue einfach, was ich kann. Ich bin weder Optimist noch Pessimist, das sind oberflächliche Einstellungen. Das Leben ist in erster Instanz tragisch. Wenn sich etwas ad absurdum geführt hat, so ist es der Fortschrittsglaube des Optimismus. Aber die tragischen Spannungen des Lebens können sich im selben Sinne als Vorbedingung des Guten und Schönen erweisen, wie nur auf gespannten Saiten der Geige schöne Musik gespielt werden kann.

Hermann Keyserling
Gedächtnisbuch · Letzte Aufsätze · 1948
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