Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IV. Blut

Mischung oder Nicht-Mischung

Doch das Ausgeführte genügt nicht zur Erklärung der ganzen Bedeutung des Blutes. Die Bluteinheit ist nicht nur Tatsache, sondern auch Forderung. Diese ergibt sich aus der Erfahrung, dass Bluteinheit Gesinnungsgleichheit schafft. Treten Menschen zu nicht Blutsverwandten in Beziehung, so treibt ähnlich starker Instinkt, wie der zum Familienabschluss, andererseits zur Mischung. Da sie zueinander zuallererst nicht in Beziehung treten, so schafft die Forderung des Abschlusses früheste Norm. Die Sehnsucht nach dem Inzest, die zuunterst in jedem lebt, beruht auf der Sehnsucht nach vertrauter Wärme. Schwerlich ist der Gedanke der Exogamie je irgendwo zur Herrschaft gelangt, bevor sich ein Stamm stark genug fühlte, fremdes Blut zu assimilieren; deswegen blieb im äußersten Falle, bei den Königen, welche die Einheit und das Gleichgewicht der Völker sinnbildlich verkörpern, Geschwisterehe bis heute Postulat; eben sie bedeutet zutiefst die Forderung der Ebenbürtigkeit; eben deshalb heißen Herrscher einander Brüder. Doch wenn ein Stamm seine innere Festigkeit erreicht hat und weiteres bewohntes Land erobern will, dann treibt es ihn früher oder später zur Vermischung. Das unbewusst leitende Ziel dabei ist die Schaffung einer weiteren Heimat.

Dieses und nichts anderes erklärt die Assimilierungspolitik, welche alle Eroberer auf die Dauer betrieben haben. Nichts, aber auch gar nichts soll fremd sein in der umgebenden Welt. Ist alles miteinander verwandt, dann, aber erst dann ist die Einsamkeit endgültig überwunden. Dann trägt jeden einzelnen ein so fester Zusammenhang vom Unbewussten her, dass er, ohne etwas dazu zu tun, seinen vorherbestimmten Platz in der Gemeinschaft hat und sich sogar dann nicht abgeschieden fühlt, wenn er als Einsiedler in die Wüste zieht. Der vom Instinkt gewiesene Weg zur Schaffung dieser allgemeinen Heimatatmosphäre ist eben die Blutmischung. Es drängt das Blut gebieterisch überall, wo sich die Frage der Einheit durch Beschränkung nicht stellen kann, durch möglichst allseitige Kreuzung Einheit zu schaffen. So zeugten die Sieger allenthalben mit den Besiegten Kinder, und aus der Kreuzung gingen dann neue und umfassendere Dauer-Einheiten hervor. Selbstverständlich war der Konflikt der Erbmassen und nicht deren Vereinheitlichung die erste Folge. Auch hier bietet das heutige Südamerika für alle Urzeiten das beste Sinnbild. Der erste Anzettler einer südamerikanischen Revolution im seither traditionellen Stil war ein Sohn des Cortez von einer indianischen Prinzessin. So wie Südamerika haben in der Tat alle Völker und Reiche, welche aus Blutmischung hervorgingen, ihr historisches Dasein begonnen. Nachdem die germanischen Eroberer sich mit den alten Bewohnern des römischen Weltreichs zu vermischen angefangen hatten, ging es in Europa jahrhundertelang sehr ähnlich zu, wie heute in Mexiko. Der Konflikt innerhalb der Seelen suchte in äußeren Konflikten Abreaktion. Und überall und zu allen Zeiten hörte der südamerikanische Zustand auf, nachdem ein Dauergleichgewicht erreicht war. Doch nie handelte es sich auch da um Endgültiges, es sei denn, das absolute Ende war erreicht. Der Mensch ist dermaßen differenziationsfähig und variabel und andererseits dermaßen fähig, sich in besonderer Abart zu fixieren, dass der Abwechslungsrhythmus primär notwendigen Abschlusses und ebenso primär notwendiger Mischung ewig ist. Endgültige Fixierung im Sinn des Verlustes aller Variabilität war allemal der Anfang vom Ende. Je tiefer die Archäologie schürft und je weiter die Ethnologie in die Vorzeit zurückgreift, desto mehr müssen wir staunen über die Vielfalt der Völker, welche die Erde bewohnt haben und wieder verschwunden sind; im Kleinen bietet die Menschengeschichte das gleiche Bild wie die der Vorwelttiere. Dort wie hier ist Festfahren in bestimmter Differenzierung die Ursache alles Aussterbens gewesen.1 Dort wie hier ist neues zukunftsträchtiges Leben immer nur aus noch oder wieder Undifferenziertem hervorgegangen. Denn die Mischung löst die Fixierungen wieder auf, und das ergibt Verjüngung.

Hieraus erklären sich die nicht nur verschiedenen, sondern entgegengesetzten Ideale, zu denen sich die Völker im Lauf ihrer Geschichte bekannt haben. Jedes Kulturvolk hat sich auf irgendeiner Stufe an den Normen der Ebenbürtigkeit oder Rassenreinheit orientiert. Damit tat es jedesmal recht, solang die besondere Periode eines stabilisierten und dabei vitalen besonderen Gleichgewichtszustands währte. Nie aber währte sie lang; bald bedingte Fixiertheit Erstarrung und Vitalitätsverlust. Dann lag die Rettung, falls solche überhaupt noch möglich war, allemal in der Verjüngung dank Orientierung an den entgegengesetzten Normen. So finden wir in entgegengesetzten Zuständen entgegengesetzte Ideale im gleichen Sinne heilsam wirkend. Hat der Vollmensch alter Kultur allen Grund, auf Rassen-Reinheit und Ebenbürtigkeit zu halten, auf dass kein fremdes Gen das bestehende optimale Gleichgewicht erschüttere, so fordert gesunder Instinkt überall, wo Neues entstehen soll, Mischung. Dieser Instinkt leitete die Eroberer des alten Römerreichs; so entstanden die heutigen Kulturvölker. Gleicher Instinkt lässt Nordamerika alle Kasten- und Rassenvorurteile im Rahmen der weißen Menschenabart ablehnen. Extrem fühlt in diesem Verstande Südamerika, dessen ersten Besiedlern jegliches Rassenvorurteil fremd war. Das überzeugendste Sinnbild seiner Gesinnung schaute ich eines Abends, da ich von einer Café-Fazenda nach São Paulo heimfuhr. Da begegnete mir eine berühmte Muster-Rasseherde. Die war aber nicht etwa einrassig: sämtliche bewährten Viehrassen, von der Anglerkuh bis zum indischen Zebu, waren in ihr vertreten. So behauptet Südamerikas bisher originellster Ideologe, José Vasconcelos, die kosmische Rasse, welche als Höchstausdruck möglichen Menschentums den integralen Menschen hervorbringen werde, würde aus der Mischung sämtlicher bisheriger Völker hervorgehen. Und da die Bevölkerung Südamerikas die gemischteste aller Erdteile ist, so werde die Menschheit dort ihr Schicksal vollenden. Diese Theorie ist noch falscher als die der alleinseligmachenden Reinrassigkeit, weil viele Gene einander ausschließen oder neutralisieren und nur bestimmte und quantitativ begrenzte Verbindungen im Guten lebensfähig sind. Doch die Möglichkeit dieser Theorie und ihr Sinn sind desto bedeutsamer. Sie beweisen die Richtigkeit der Auffassung, dass Drang nach Mischung zutiefst auf Verheimatlichung der Umwelt hinzielt. Wer unkonsolidiertes Mischblut ist, kann Heimat nur in einer vollkommen durchmischten Welt zu finden hoffen.

Absolut gültige Normen für das Blut vermag Geist keinesfalls aufzustellen. Jede Eugenik führte sich irgend einmal ad absurdum. Das Genie ersteht immer überraschend, dauernd hochstehende Völker sind nicht zu züchten. Ist schon die Tugend nicht lehrbar und schafft gute Erziehung nicht notwendig wertvolle Menschen, so steht es mit der Veredelung der Rassen vollends schlecht. Bei Tieren und Pflanzen ist dauerhafte Rassenveredelung möglich, weil da nur der Körper als Gattungstypus zählt mit seinen leidlich eindeutigen Gesetzen, weil vollkommener Abschluss durchzuführen ist und störende Einflüsse in hohem Grade auszuschalten sind. Doch wie soll man Menschen im gleichen Sinne züchten wie Rassevieh, wo es hier auf die individuellen Charaktere mehr ankommt, als auf die der Gattung, wo Geist und Seele, die niemand abschließen kann, bestimmen und wo die Gesetze der Geist- und Seelenchemie vollkommen unbekannt sind? Überdies können geglückte Rassen aus unwahrscheinlichster Mischung hervorgehen. So gilt die Zumischung von Negerblut in manchen Gegenden Südamerikas als begabungsfördernd. Dies ist, soweit es zutrifft, zum Teil wahrscheinlich so zu erklären, dass die Trägheit des Indianerbluts und die durch den Kontinent des dritten Schöpfungstags bedingte Kälte durch die stürmische Vitalität und die große emotionelle Wärme des Schwarzen kompensiert werden, so dass dadurch indirekt, wie durch die Wirkung eines Katalysators, höheres Niveau entsteht. Brasilien beweist jedenfalls, dass schwarzes Blut in geringer Zumischung — Brasilien wird von Jahr zu Jahr nicht schwärzer, sondern weißer — auf die Dauer nicht notwendig schadet, sondern zur Bildung einer neuen hochstehenden Rasse führen kann. In den afrikanischen Reichen aller Geschichte müssen die Verhältnisse ähnlich gelegen haben; die berühmte Nophretete Ägyptens hätte, heute geboren, allenfalls Brasilianerin sein können. Worauf es ankommt, ist nie die Frage Mischung oder Nicht-Mischung, sondern ob aus ersterer ein neues günstiges Gleichgewicht hervorgeht.

Ist nun ein solches erzielt, dann stellt es eine qualitativ neue unauflösliche Einheit dar, ganz wie im Fall einer neuen chemischen Verbindung. Beim zu neuer Einheit konsolidierten Mischling ist es grundsätzlich falsch, von der Vorherrschaft eines bestimmten Bestandteiles zu reden, so sehr der äußere Anschein dazu verführen mag: das Entscheidende ist allemal die neue Qualität. Auf die Dauer hat das ursprüngliche Erobererblut, das im Anfang allen Ton angab, nie eine andere Rolle gespielt, wie die vom Sieger übernommene Sprache: nicht die philologische Abstammung entscheidet hier, sondern das Neue der Tochtersprachen, ihre neue Seele. Nichts scheint mir lehrreicher in diesem Zusammenhang, als die verschiedene Bedeutung, welche die gleichen Worte im Spanischen und in anderen romanischen Sprachen haben (ich setze nur die spanischen Worte her, da die meisten die entsprechenden französischen und italienischen Modulationen kennen). Verificar bedeutet auf spanisch verwirklichen, sonst auf Richtigkeit nachprüfen; facilitar auf spanisch übergeben, sonst erleichtern; manifestar auf spanisch mitteilen, sonst zeigen oder öffentlich erklären preciso auf spanisch notwendig, sonst genau. Sogar vis und vicium (Gewalt und Laster) hat das Spanische verwechselt, sonst hieße nicht eine spanische Feste Villaviciosa. Im Volksmund ist gar das große Wort destino, Schicksal, zur kleinen Anstellung geworden; z. B. Fulano tiene un destino de quince mil reales (Meyer hat ein Schicksal von fünfzehntausend 95 Centimos-Stücken). Neuer Geist erteilt altem Sprachmaterial schier beliebigen neuen Sinn. Die wahre Bedeutung der Blutmischung lässt sich von der Parallele der Sprache her tatsächlich am besten ermessen. Man dürfte sagen: Mulatte zu sein, ist schauerliches Kauderwelsch. Das Englische ist seinem Wortlaut nach noch heute ein entsetzliches Mischmasch germanischer und romanischer Brocken. Doch die einheitliche Seele des neuen englischen Volks drückt sich so vollkommen in ihm aus, dass keiner darauf kommt, das Englische eine missglückte Mestizisierung zu heißen. Letztlich ist es in lebendigem Zusammenhang irrelevant, von Ursprüngen zu reden, denn es zählt immer nur das Jetzt und Hier. Dem Beispiel der Sprache als Mittels der Verdeutlichung dessen, was Blutmischung bedeutet, sei zum Abschluss dieser Betrachtung noch das des heutigen argentinischen Nationaltanzes, des Tango, beigefügt. Dieser entstand in Vorstädten zweifelhaften Charakters; seine wichtigsten nachweisbaren Vorfahren waren kubanische Negertänze und napolitanische Lieder. Bei der großen Passivität der argentinischen Natur war klar, dass der Erwecker von außen kommen musste. Doch bald bildete sich die ganze Weite, die ganze Schwermut, die ganze uferlose und lösungsunfähige Leidenschaft Argentiniens den übernommenen Formen ein, so wie der englische Geist das ursprüngliche germanisch-romanische Kauderwelsch zur überzeugenden Originalsprache umschuf. Die sichere Gehaltenheit des Pferdebändigers trat als Hintergrund an die Stelle negerhaft-napolitanischer Ausgelassenheit. Der Hieb der Reitpeitsche, der Guitarre angepasst, schuf männlichen Rhythmus. Heute gehört der Tango, als Musik und Tanz, zur Klassik dieser Zeit. Die Art, wie ihn die compadritos tanzen — die historisch einzig echte Art — mutet jeden Verstehenden schon heute als Sakrileg an, obgleich es noch um 1900 kaum anderes Tango-Tanzen gab. Und gleiches gilt vom Wollüstigen der europäischen Tanzweise. Richtig ausgeführt, bringt der Tango nicht losgelassene, sondern suspendierte Leidenschaft zum Ausdruck, so wie der Rio de la Plata den roten Sand suspendiert dem Meere zuführt. Am meisten ähnelt der echte Tango dem Menuett; nur dass dieses Ausdruck, einer Melancholie des Herbstes ist, und jener der Schwermut des Frühlings.

1 Diese Bestimmung halte ich für die sachgemäßeste, denn sie umschließt sowohl die Verhärtung (Übermineralisierung, nach Schramme die Hauptursache des Aussterbens der meisten Tiere und meisten Pflanzen), als die Verweichlichung dank der Gewöhnung an zu günstige Lebensbedingungen, als die Unfähigkeit zu weiterer Neuanpassung wegen Vitalitätsverlusts, als endlich die Entartung auf Grund aufgehäufter schlechter Erbmasse.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IV. Blut
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