Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VI. Tod

Gleichgültigkeit

Aller Kultus der Indianer galt dem Tod oder war Tod und Töten. Keine Menschenart hat je den Akzent weihevollen und weihenden Erlebens so sehr auf das Ende gelegt wie sie. Und zwar im Sinne wirklichen Endes, nicht des Todes als der Schwelle zu neuem Leben. Religionen ohne Jenseitsglauben oder -vorstellung gibt es viele. Und mich dünkt: bei vielen, die von einem jenseits des Grabes künden, bedeutet dies nur missverstehende Interpretation; sie wissen nicht, wie sie ihren Kult des Endes anders deuten sollen. Die indianische Religion bedeutet klar bejahte Bindung an die Erde; auch wo diese, wie bei den Inkas, in das Sonnensystem hinübergezogen scheint. Demgemäß ist dem Indianer Ideal, in Harmonie mit der Erde zu leben. Gesundheit ist Beweis dessen, dass es erreicht ward. Zu dieser Harmonie gehört auch rechte Sitte. Doch der Indianer befolgt sie nicht aus Nützlichkeitserwägung, etwa auf dass er lange lebe auf Erden, sondern aus innerem Bestreben, im Rhythmus der Erde mitzuschwingen. Deswegen kennt er auch keinen Fortschrittswillen, der den Ur-Rhythmus ändern sollte. Seine Pathik oder Apathie, seine Bescheidung und Melancholie bedeuten keine Anpassung des Schwachen und Ängstlichen und Widerwilligen an ein Mächtigeres, sondern freie Hingabe an dieses. Daher seine Vornehmheit. Daher steht er zum Menschenopfer, als Opferer wie als Geopferter, ähnlich wie in unserer tätigeren Welt der Kriegsheld, und nur er, zum Tode steht. Erfüllung des Lebens ist, zur Erde heimzukehren. Das freiwillig gespendete Blut ist befruchtender Regen. Solcher Tod ist Gnade, gleichwie Gesundheit Gnade ist.

Hieraus ergibt sich die physiologische Unmöglichkeit jeglichen Fanatismus. Bei der vollkommenen Bestimmtheit dieses Lebens durch dessen Urkräfte gibt es freilich ebensowenig Toleranz. Diese ersetzt uralte Überlieferung. Darüber hinaus ersetzt sie Gleichgültigkeit. Äußerlich führt dies zur Maske des Skeptizismus. Ist der Indianer nicht zu träge, um zu denken, so ist er ironisch. Abgründliche Ironie ist die Gesinnung des Gaucho, jener seltsamen und so schönen Kreuzung altspanischen Rittertums und indianischer Resignation. Von ihm heißt es: el gaucho se persigna por las dudas; er bekreuzigt sich, um seinem Zweifel — nicht seinem Glauben — Ausdruck zu verleihen. Letztlich aber ist Grundmotiv nicht Ironie, die von souveränem Geiste kommt; es ist Indifferentismus. Jeder Bauer auf Erden zeigt diesen gegenüber den Ereignissen der großen Politik. Auch der Gebildete zeigt sie gegenüber der Erdrotation oder dem Kurs, den unser Planet in seinem rasenden Flug durch den Weltraum einhält. Beim Bewohner des Kontinents des dritten Schöpfungstages herrscht diese Gesinnung durchaus und in jedem Sinn. Unter den Caboclos Brasiliens, jenen über alle Begriffe armen halbindianischen Fronknechten der Fazendeiros traf ich kynische Philosophen, welche Griechenland Ehre gemacht hätten. Die argentinische macana setzt wegwerfendes Lachen letzter Gleichgültigkeit auf. Grimmig ist der Oberton des chilenischen Fatalismus, dieses Kindes eines Erdbebengebiets. Dieser Indifferentismus, der ganz Südamerika durchsetzt, ist eine der ungeheuerlichsten Erscheinungen, die ich kenne. Er bedeutet nicht Mangel an Interesse, überhaupt nicht Mangel an was immer es sei: er bedeutet blindes Dasein. Er bedeutet das Primat des Ur-Lebens in seiner undurchdringlichen Abgeschlossenheit. Lange suchte ich nach einem überzeugenden Bild, das dieses ungeheuerlich Fremde dem Europäerbewusstsein wenn nicht verständlich, so doch deutlich machen könnte. Ich fand es endlich in folgendem. In Bolivien werden Todesanzeigen vielfach nicht in der üblichen Fassung (Es entschlief im Herrn…) versandt, sondern im Wortlaut: Don Fulano se quedó indiferente: der Herr so und so verblieb gleichgültig. Es gibt in der Tat nichts gleichgültigeres als einen Leichnam.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VI. Tod
© 1998- Schule des Rades
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