Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VI. Tod

Tod ist kein geistiges Problem

Die mittelalterliche Kirche hatte alles Leben ritualisiert. Das Sterben der anderen gehörte zum eigenen Leben. Auch den eigenen Tod in gebührender Aufmachung ließ sich keiner nehmen. Für alles gab es einen absolut sichernden dogmatischen Rückhalt. Wie dieser Glaube unter die passiven Indianer verpflanzt ward, offenbarte sich erst sein ganzer Sinn. Im Jesuitenstaat von Paraguay lehnten ins Spital beförderte Indianer zu sterben ab, bevor sie eine schriftliche Lizenz dazu erhalten hatten; nachher war alles gut. Solcher Autoritätsglaube ist die vollendetste Eskamotage des persönlichen Lebens. Wem die Entscheidung eines anderen nur irgendwie persönlich Letztes bedeutet, der verleugnet nicht allein seine Geistesfreiheit — er entzieht und entrückt sich seinem eigenen Leben überhaupt; dessen Dasein ist eins der vollendeten und vollkommenen Irrealisierung und Irrealität. Die Christenheit wäre die oberflächlichste aller Menschheiten, entspräche die Lehre der gelebten Wirklichkeit. Was sie rettet und rechtfertigt, ist nicht, dass sehr wenige letzte Verantwortung und persönliches Erleiden als letzte Instanz zu tragen vermögen, sondern der Umstand, dass die meisten Christen sich ihrer nur als eines Gefäßes bedienen, in das sie ihr Persönliches gießen und insofern doch persönlich ausleben. Das heißt, der persönliche Glaube hat doch das Primat vor der Autorität. Nichtsdestoweniger muss der nicht-christliche Indianer überall, wo nicht echtes Geistbewusstsein bestimmt, als tiefer gelten denn der Christ. Denn ergibt sich seiner Unterwelt ganz hin. Dem Motto der heiligen Therese: vivre toute sa vie, aimer tout son amour, mourir toute sa mort, lebt er gemäßer als jeder Europäer, der in der Halbwelt des weder Unterwelt- noch Geistbestimmten sein Bewusstseinszentrum hat.

Das heutige Südamerika ist noch zu unfertig, zu abhängig von übernommenen letztlich fremden Vorstellungen, um tief zu sein. Doch unaufhaltsam entwickelt es sich dem Indianertume zu. Und so zweifle ich nicht, dass es einmal eine Kultur der großen Tiefe im Sinn der Erdnähe hervorbringen wird. Auch das dem Blut nach europäische Südamerika ist zutiefst unchristlich. Es ist nicht geist- sondern Ur-Leben-bestimmt. Es ist wesentlich blind. Wohl sucht es sich wieder und wieder an Wunschbildern zu orientieren, wohl pflegt es den Narzissmus, wohl schillert die Lüge an der Oberfläche bunter als irgendwo. Doch seine Vorstellungswelt ist zu undeutlich und zu schwach, um den Ton anzugeben. Letztlich ist sie Nachahmung — wie ja alle Bewohner Südamerikas ohne Ausnahme aus mangelndem Vorstellungsvermögen vollendete Nachahmer waren. Und in der Nachahmung lebt sich nicht einmal der Schauspieler persönlich aus. Südamerikas wahres Leben ist das Gegenteil eines Schauspiels; es ist durchaus dunkle Unterwelt. Keine Lebenskunst verschönt die Wirklichkeit, kein echter Geistesglaube erlöst von ihr. So waltet die ursprüngliche Erdschwere nahezu unbeschränkt. Südamerikas Lust ist die Wollust der Schöpfungsnacht. Sein Leiden ist abgründiges Leiden. Seine Trauer ist die Erfüllung der Lebensmelodie in Moll. Sein Sterben ist selbstverständliche Heimkehr in den Schoß der Erde.

Vom Geiste her ist dieser Menschheit nicht gerecht zu werden, denn ihr bewusstes Dasein wurzelt nicht im Geist. Aber eben deshalb wird sie dem Sterben gerechter als jede andere Menschheit. Der Tod ist kein geistiges Problem. Vom Geiste her geurteilt gibt es keinen Tod. Er ist entweder Schwelle zu anderem geistigen Leben, oder Verwandlung. Allein diese Erkenntnis ändert an seinem Pathos nichts, welches ganz der Ebene der Unterwelt angehört. Auf ihr bedeutet er die massivste aller Tatsachen. Dort erscheint er als der Extremausdruck möglichen Erleidens. Er ist das absolute Ende der Aktivität. Aber auch beim Töten handelt es sich ursprünglich weder um Schuld noch Willkür, sondern um Erleiden. Kein Tier kann etwas dafür, dass es töten muss, um zu leben, und kein Tier lebt von anderem als dem Tod der anderen; allein die Pflanze ist nicht Mörderin. So beurteilt der Südamerikaner das Töten sinngerechter als Europa, ja als jede vorwiegend geistbestimmte Menschheit. Vom Standpunkt des Gaucho bringt sich der, welcher einen Menschen tötet, ob im offenen Kampfe oder als Mörder, einfach ins Unglück. Auch die männliche Aktivität beurteilt diese Menschheit ursprünglich nicht als ein Können, sondern ein Müssen, weshalb sie im Richten des Richters ein Missverständnis sieht. Die besondere Urkraft, welche das Männliche beseelt, äußert sich als Angriff und Herausforderung. Nichtsdestoweniger ist sie vom Standpunkt des erlebenden Menschen ein Erleiden. Kampfesfreude gibt es in keinem anderen Sinn wie Mutterglück. So steht denn der Gaucho von allen Männern, die ich kenne, zum Tode als Erdenerscheinung am verstehendsten. Er pocht auf kein Heldentum, keine Ehre, keinen Ruhm. Mut ist ihm Selbstverständlichkeit. Er steht von Hause aus indifferent zu sich selbst. So hat er für den Tod ein schwermütig nachsichtiges Lächeln, ein letztes desden, welches Wort mehr verzichtenden Hochmut als Verachtung bedeutet — es hat die gleiche Nuance wie das französische il daigne mourir. Die Männer sind schließlich dazu da, um zu verbluten und die Erde zu düngen. So übten im Verlauf der Conquista ganze Indianerstämme, wenn sie genug hatten vom Dulden, mit bescheidener Selbstverständlichkeit Selbstmord.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VI. Tod
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME