Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VIII. Delicadeza

Höflichkeit

Alle Angst fordert Sicherung. Daher das Primat, in der Beziehung von Mensch zu Mensch, der Umschreibung vor der Geradheit, der Etikette vor dem einfachen Verkehr, der Höflichkeit vor aller Offenheit. Primitive Frauen empfinden jeden klaren Ausdruck als brutal. Dies gilt aber in erster Linie vom Sagen, nicht vom Tun. In Argentinien, sagte mir eine geistreiche Tochter des Landes, dürfe man alles tun, wenn man nur nichts sagt. Grundsätzlich ist dies überall so, wo die moderne Aufrichtigkeitskultur vieltausendjähriges Herkommen nicht überwunden hat. Denn da alle unmittelbare Erfahrung des Menschen psychisch ist und aller Verkehr von Mensch zu Mensch in erster Instanz von Seele zu Seele geht, so bedeuten Worte notwendig mehr als Taten. Sie verletzen mehr, sie freuen und beglücken mehr. Gute Worte können schlimmste Schädigung ausgleichen, weil sie negative Empfindung durch positive überschichten, was kein Schadenersatz erreicht. Hieraus ergibt sich, nebenbei bemerkt, die ungeheuerliche Roheit des modernen Zeitgeists, dem Beleidigung durch angemessene Bezahlung für wiedergutgemacht gilt: menschenwürdig war und ist es, für seelische Verletzung entweder das Leben (Duell oder Blutrache), oder aber ein Wort der Entschuldigung zu fordern; wer hier auch nur auf den Gedanken kommt, dass Geld einen Ausgleich schaffen könne, beweist eine Empfindungsstumpfheit, die eigentlich das Recht schafft, ihn so anzusehen und zu behandeln, wie es die Griechen mit ihren Sklaven taten. Doch selbst mit den intellektuellsten Männern, die nicht alles Feingefühl verloren haben, steht es zutiefst nicht anders wie mit zarten Frauen, ob sie es selber merken oder nicht. Schwerste Zumutung wird ungekränkt ertragen, wenn nur die Form gewahrt blieb. Die höflichen Völker, d. h. die, welche auf die Empfindungen der anderen Rücksicht nehmen, unabhängig von jeder Weltanschauung und jedem Werturteil, haben unter sonst gleichen Umständen ausnahmslos die größere werbende Kraft. So sehr ist jeder Mensch in erster Linie sensibel und irritabel — absichtlich gebrauche ich immer wieder den terminus technicus der Zoologie — dass rechte Berücksichtigung der Empfindungssphäre das Α und Ω ist aller Menschenbehandlungs-Kunst. Die in ihrem Handeln so rücksichtslosen Engländer brauchen grundsätzlich keine verletzenden Worte; personal remarks vermeiden sie unter allen Umständen und formulieren jede Behauptung so unbestimmt, und jede Forderung so bittend als nur möglich.

Den extremsten Ausdruck möglicher Berücksichtigung fremder Empfindlichkeit verkörpert der ungeschriebene Kodex der brasilianischen Delicadeza. Den Zugang zu deren Verständnis finden wir, im Anschluss an das Vorhergesagte, am schnellsten durch eine Betrachtung von Brasiliens Staatsapparat. Es gibt auf der heutigen Erde keinen raffinierteren als diesen, und zwar nicht im Sinn von Überreife, sondern von echter Fortschrittlichkeit unter archaischen Verhältnissen. Zunächst erscheint Brasilien dem zaristischen Russland verblüffend ähnlich — was nicht etwa ein grundsätzlich negatives Urteil bedeutet, sondern ein positives; zurückgebliebene und kulturell nicht-homogene Völker sind demokratisch-modern nicht zu regieren. Hier wie dort ein ungeheures Land, von einer kleinen Minderheit verwaltet, welche in einem (solange er die Stellung innehat) allmächtigen Einzelnen gipfelt. Der Staatsapparat ist eine Wesenheit für sich; der brasilianische hohe Beamte wirkt wie der leibliche Bruder des zaristisch-russischen. Aber Brasilien erscheint auf gleicher Ebene vollkommen und gesichert, wo Russland unvollkommen und so verwundbar war; so sehr, dass ich mir nach wenigen Tagen brasilianischen Aufenthalts sagte: wäre Russland wie Brasilien regiert worden, nie hätte das Volk revolutioniert. Wo Russland roh war, herrscht in Brasilien raffinierteste Rücksichtnahme. Was Unzufriedenheit nähren könnte, bleibt so oder anders unsichtbar; dies gilt schon von der äußerst fähigen Polizei. Die öffentliche Meinung darf sich in Worten austoben; viele einfache Brasilianer meinen, sie würden überhaupt nicht regiert — solche Unmerklichkeit eignete einer Regierung sonst nur in China zu dessen größter Zeit. Die Gesetzgebung Frauen und Kinder betreffend ist vorbildlich; und es herrscht solch tätiges Wohlwollen gegenüber allen, welche dem Staate dienen, dass sich der Arme bis ins dritte oder vierte Glied verpflichtet fühlt — nicht nur die Kinder, noch die Kindeskinder treuer Beamter werden pensioniert. Mehr wie jede andere geht die brasilianische Regierungskunst ähnliche Wege wie die Diplomatie des Weibchens. Alles in ihr bezieht sich auf Ursprüngliches — und gerade deshalb erreicht sie so viel. Nur schlimme Eindrücke trägt der Primitive nach, also werden solche nicht gegeben. Herrscht Menschlichkeit dort, wo auch der Kannibale sie übt — so Frauen und Kindern gegenüber — dann drückt alle Welt sonst gern die Augen zu. Von hier aus gelingt es unschwer, das rationale selbst der unwahrscheinlichsten Ausdrucksformen der Delicadeza einzusehen. In Brasilien versteht es jeder, wenn einer um eines unfreundlichen Blickes willen den Revolver zieht. Aber es gilt andererseits, sofern die Verletztheit Raum für Reflexion lässt, für unfein, von vorn zu schießen, denn das könnte einen unangenehmen Eindruck machen. Meuchelmord gilt für vornehmer als Zweikampf. Das beste mir bekannte Beispiel von Delicadeza bietet die folgende Geschichte (welche authentisch ist, von der ich mich aber nicht mehr genau entsinne, ob sie in Brasilien spielte oder in einem Nachbarstaat). Ein Mann hatte Grund, seiner Frau wegen auf einen anderen eifersüchtig zu sein und beschloss daraufhin, seinen Rivalen zu erschießen, was dort unter die Rechtskategorie der Wahrung wohlerworbenen Interesses (intérêt bien entendu) fällt. Der Bedrohte ahnte das und ging seither nie ohne Begleitung seiner Frau und Tochter aus. Tatsächlich verbot die Delicadeza seinem Widersacher, welcher ihm täglich auflauerte, den Damen durch Töten des Gatten und Vaters vor ihren Augen einen peinlichen Eindruck zu machen. So ging es Monate entlang, bis dass der Verfolgte doch einmal unbegleitet ausging. Sofort traf ihn die Kugel. Das Gericht sprach daraufhin den Täter, anstatt auf vielfach erwiesenen vorbedachten Mord zu erkennen, frei, und das Publikum bereitete ihm ob seines wundersamen Feinsinns eine Ovation.

Die gleiche Einstellung beherrscht das Gemeinschaftsleben des ganzen Kontinents, mit der einen Ausnahme Chiles, wo mehr oder weniger nordische Gesinnung vorwiegt. Es ist eine lichtscheue Welt auf ihre besondere Art, insofern jedes sous-entendu sofort verstanden und richtig gewertet, Klarheit jedoch nur im Ausnahmefalle nicht missdeutet wird. Im raffinierten Brasilien spielt dementsprechend die Aufmachung, die fita, die entscheidende Rolle. Eben hier liegt die psychologische Wurzel der scharfen Unterscheidung zwischen dem Ehrenrührigen und nicht-Ehrenrührigen bei Vergehen und Verbrechen. Alles darf passieren, nur kein Skandal. Wer Objekt eines solchen war, ist für immer erledigt. Im urwüchsigeren und einfacheren Argentinien führt Dämpfung alles in irgendeinem Sinne Lauten bis zum Schweigen, oder aber die Maske, der Arroganz oder der Macana (der argentinischen Sonderart des je-m’en-fichisme), oder endlich gewählteste Kleidung zu äquivalentem Effekt. Ein witziger Spanier sagte einmal, im so denkmalreichen Buenos Aires fehle das wichtigste Monument: das Denkmal des Unbekannten Schneiders. Aber dank der außerordentlichen Entwicklung der Empfindlichkeit, welche vor Taktfehlern natürlicherweise bewahrt, und dem allgemeinen Wunsch nicht weh zu tun, stellt südamerikanische Geselligkeit auch für den Fremden keine schwer zu meisternde Aufgabe dar. Ich für meinen Teil finde, dass es keinen erholenderen Verkehr gibt als den mit Menschen, welchen wohltuende Empfindung höchstes Gut ist. Die altchinesische Höflichkeit näherte sich zu sehr der Grenze höfischer Etikette. Diese ist ein objektivierter Sicherungsapparat. Der König wird als dermaßen verwundbar vorausgesetzt, dass jeder Verstoß gegen die erwartete Form sein Selbstgefühl vernichten könnte; und die Befürchtung ist berechtigt, denn die überschwengliche Höhe seiner Stellung nährt im Unbewussten des Fürsten einen kompensatorischen Drang nach Erniedrigung.1 So wird er durch dermaßen starre Regeln distanziert, dass nichts Unerwartetes seine Haltung gefährden kann. Damit aber fällt das Schönste an aller Höflichkeit: die jeder Situation neuangepasste Spontaneität. Die französische Courtoisie orientiert sich an Ideen und Werten und ist deshalb ebenso geist- wie empfindungsbedingt, weshalb sie wesentlich Aufmerksamkeit verlangt und ist; Aufmerksamkeit aber ermüdet. Die südamerikanische Delicadeza nun betätigt sich im Zustand vollkommener Gelöstheit und ist doch so präzis reagierend, dass man sich, wenn kein störendes Moment dazwischenfährt, wie in reibungsfreiem Raum bewegt. Natürliches sich-gehen-Lassen ohne geistige Motive, ohne Wertgefühl und ohne moralische Postulate ergibt da Ähnliches, wie in anderen Kulturen geistigste zu Fleisch gewordene Disziplin. Dies ist offenbar kontinental bedingt. Weder den Spaniern noch den Portugiesen eignet diese Art Delicadeza. Die Spanier waren und sind menschlich warm und gütig, doch viel zu individualistisch und viel zu abgeschlossen innerlich, um überhaupt primär Rücksicht zu nehmen. Die Portugiesen hingegen, von denen das Wort delicadeza in seinem brasilianischen Verstande stammt, sind kompliziert, zerrissen und explosiv, was Hellhörigkeit und leichtes Spiel auf dem Instrument der Empfindungen unmöglich macht. Doch die gleiche Delicadeza, welche den heutigen Südamerikanern europäischer Abstammung eignet, war von jeher Tugend der Indianer. Alle ihre Stämme, mit Ausnahme der Sibirier-ähnlichen Araukaner und natürlich der unbegabten und entarteten, charakterisiert eine eigentümliche Empfindungsfeinheit und Süßigkeit. Sie sind niemals unhöflich, nie roh. Es hat tiefe Bedeutung, dass es in vielen Indianersprachen nur ein Wort gibt für Schönheit und Glück. Gleichen Feinsinn beweist die Sage, mit der brasilianische Indianer den Sieg des weißen Manns erklären:

Gott hatte dem weißen und dem roten Mann ein eisernes und ein hölzernes Schwert zur Wahl gereicht. Dieser wählte das hölzerne, weil es das schönere war…

Die Hochkulturen der Indianer kennzeichnete eine besondere Menschlichkeit, für die es meines Wissens nirgends Parallelen gibt. Auf dem Gebiet der heutigen Wüste von Santiago del Estero in Argentinien blühte in sehr alten Zeiten eine wundersame Kultur. Dort stößt der Archäologe bei seinen Ausgrabungen am häufigsten auf die göttliche Hand, welche heilt und tröstet, als Sinnbild des Göttlichen. Es ist die Hand einer Göttin, welche als ganze Gestalt so dargestellt wird, dass sie weint ob des Leides der Welt, ihre Tränen auf ihre Brüste fallen und von dort als Milch befruchtend auf die Erde rinnen. Die so dargestellte Empfindsamkeit ist offenbar weder schenkende Tugend noch christliche oder buddhistische Liebe — sie will schmerzliche Empfindungen glätten. Insgleichen kennzeichnete die soziale Ordnung der Inkas, welche an Zwangsmäßigkeit, Schärfe, Konsequenz und restloser Auswertung des Einzelnen zum Besten des Ganzen die bolschewistische übertraf, eine Rücksichtnahme von unvergleichlicher Zartheit. Bei der kollektivistischen Zwangsbestellung der Felder wurde zuerst das der Sonne gehörige Teil vorgenommen, dann das der Hilflosen, Kranken und (etwa wegen der Wehrpflicht) von der Heimat Fernen; zuletzt das des Herrschers. Kein Mensch wurde überbürdet. Keiner durfte Sorgen haben. Stahl einer und wurde festgestellt, dass er es aus Not getan, dann ward nicht er bestraft, sondern der Staatsbeamte, der durch Unterlassung den Anlass zur Verfehlung gegeben hatte. Faulheit und Trägheit galten als Sünde und Laster und wurden nicht geduldet; doch andererseits geschah alles nur Mögliche zur Steigerung der Arbeitsfreude. Und nun zum Feinsinnigsten. Nach dem Tode jedes Inka saßen die Großen des Reichs über ihn zu Gericht und entschieden, ob er ein guter und würdiger Fürst gewesen war. Fiel die Entscheidung ungünstig aus, dann wurde er — totgeschwiegen; er wurde aus den Annalen gestrichen. Nie fiel ein hartes Wort. Genau so schweigen heutige Südamerikaner überall, wo Europäer die Stimme erheben oder schelten würden. Lieber als scharfe Worte zu gebrauchen, töten sie.

All diese Feinfühligkeit beruht auf dem Primat der Empfindung. Und wie sehr wohl es möglich ist, von dieser Wurzel her zu Höchstem aufzusteigen, beweist die Gesinnung vieler großer Geister. San Francesco de Assisi sagte einmal.

Sappi, frate carissimo, que la cortesia é una delle proprietá de Dio, il quale da il sole suo e la piova ai giusti ed agli ingiusti — per cortesia. Ed é la cortesia sirochia della caritá, la quale spegne l’odio e conserva l’amore.

Konfuzius erkannte den allein als tief an, dessen Weisheit bis zur Anmut sublimiert war, und niemand hielt mehr auf die Riten als er. Endlich ist Goethes Wertung der Ehrfurcht als höchster Tugend bekannt — Ehrfurcht aber ist undenkbar ohne unmittelbares Qualitätsempfinden. Doch wir wollen diese Gedankengänge hier nicht weiter verfolgen. An dieser Stelle liegt uns vielmehr ob, unsere Aufmerksamkeit dem negativen Korrelat des südamerikanischen Feinsinns zuzuwenden. Da dieser von geistgeborenen Motiven frei ist, kann jede Empfindung ungehemmt in ihr direktes Gegenteil umschlagen. Wird südamerikanische Empfindlichkeit verletzt, dann erfolgt ebenso differenziert-empfindliche Gegen-Reaktion, die wegen der Passivität und Zähigkeit des bestimmenden Gana-Lebens häufiger die Form des Ressentiment annimmt, als der schnellen Vergeltung. Und da das Schmerzliche in diesem Leben überwiegt, so bleibt es, trotz alles in den letzten Betrachtungen Gesagten, im großen und ganzen dabei, dass Südamerika der Kontinent der Verletzbarkeit und nicht der Rücksicht ist. Eine Rücksichtskultur, wie in Japan, gibt es drüben nicht, weil die Vorstellungskraft und geistige Initiative fehlt, die solche schaffen könnte; es gibt nur raffinierte Natur. So entspricht der südamerikanischen Süßigkeit als ihr Gegenpol ebenso zartfühlende Grausamkeit. Grausamkeit ist Feingefühl im Leiden-Lassen: deswegen kennzeichnet sie ursprünglich die Frau und nicht den Mann. Die Indianer waren von je von exquisiter Grausamkeit. Der Gemahl der süßen Göttin der Wüste von Santiago del Estero war ein vampirartiges Wesen, das zu den scheußlichsten Verkörperungen des Bösen gehört, die ich gesehen. So gleichen viele Göttergestalten des amerikanischen Altertums schreckhaften Traumgebilden, wie sie Psychoanalytiker täglich zu deuten haben — es sind Verkörperungen des Verfolgtseins, der Angst vor dem grausig Erscheinenden, des ohnmächtigen Rachewunsches. Eben dies macht Südamerikaner häßlicher Seele so besonders widerlich: das Gegenbild des schlechthin Wohltuenden ist das schlechthin Abstoßende.

Schlägt nun die Empfindlichkeit in ihr direktes Gegenteil um, so wie dies jede Lebensäußerung vermag, so wird sie zu absoluter Empfindungslosigkeit. Dies ergibt völlige Undurchlässigkeit für fremdes Leiden, absoluten Mangel an Sympathie, eine Imporosität ohnegleichen. Sie ist ohnegleichen, weil dem nur-Gana-Bestimmten jedes Vorstellungsvermögen fehlt. Dies erklärt das eigentümliche Zusammenbestehen, bei den indianischen Kultur-Völkern, von raffinierter Grausamkeit und Apathie. Von Südamerika aus habe ich erst den besonderen Gesichtsausdruck der Chinesen und Japaner verstanden. Sobald ein Strahl negativer Empfindung deren meist so vollkommen beherrschtes Antlitz durchleuchtet, erscheinen sie abstoßend häßlich und böse. Dies liegt daran, dass sie (vielleicht aus Rassegründen? Die südamerikanischen Indianer wirken als nahezu reine Mongolen) Empfindungsmenschen sind und insofern die Grundpopularität Süßigkeit-Grausamkeit verkörpern. Nur ist diese Natur bei den Ostvölkern geistbeherrscht und -durchdrungen, woraus sich Tugenden ergeben, die der Kontinent des dritten Schöpfungstages noch nicht kennt. Doch auch dem fernen Osten fehlt die Sympathie, welche Phantasie des Herzens ist. Das Grundmotiv ist auch dort die Delicadeza. Mich dünkt: von hier aus können wir auch jene eigentümliche Mischung von Härte und Raffiniertheit begreifen, welche den meisten Mythen- und Märchengestalten eignet und deren Art den Kindern so viel besser einleuchtet als die erwachsener Menschen. Die Härte und Kälte ergibt sich aus dem Mangel an Phantasie, des Geistes sowohl als des Herzens.

Das Sterben der anderen ist gleichbedeutend mit Vergessen-Werden. Die Rachsucht aber ist Ausdruck nicht des Vorstellungsvermögens, sondern des Gedächtnisses, jener Ureigenschaft aller Materie. Das Gedächtnis ist desto besser, je zäher und schwerer beweglich eine Menschenart. Daher die indianische Rachsucht. Südamerikaner europäischen Bluts sind bei gleicher Empfindlichkeit weniger rachsüchtig proportional ihrer größeren Beweglichkeit; sie können vergessen. Die Chinesen und Japaner nun verkörpern Delicadeza-Zentriertheit im Rahmen hoher Kultur. Die japanische ist eine der nahezu reinen Empfindung; daher ihr Schmelz, daher andererseits ihre Kälte; auch Japaner haben etwas Schlangenhaftes. In China sind die Postulate der Delicadeza zu Pfeilern einer großartigen Weltanschauung geworden. Daher die Gebote der Wahrung des Gesichts, des Nicht-Reagierens; daher die Theorie, dass das Weiche stärker sei als das Harte. Alle Empfindlichkeit ist passiv. So ist es logisch, wenn die Philosophie eines Empfindungsvolkes behauptet, dass der von einem König misshandelte Bettler, sofern er sich nur nichts merken lässt und sinnvoll duldet, ganz von selbst später zum Könige aufrücken müsse. So ist es tief sinnvoll, dass die Lösung der meisten Lebensprobleme in China so gesucht und gefunden wird, dass die Empfindlichkeit durch Transponierung des Problems auf irgendeine Irrealisierungsfläche neutralisiert wird. Das einzige unbedingt Verpönte ist direktes Reagieren. Denn das geht nicht ohne Verletzung der Empfindlichkeit.

Die normale Verderbniserscheinung aller Feinempfindlichkeit ist die Perversion. Zumal den Indianern des Tropengürtels waren, da die Europäer kamen, jede sexuelle Perversion und jedes Laster wohlbekannt und es hat symbolische Bedeutung, wenn die Lustseuche von der neuen Welt auf die alte übergriff. Dementsprechend ist die Sinnlichkeit des heutigen Südamerikaners von großer Raffiniertheit; von keiner Mannesart habe ich Frauen, gewöhnt an Männerliebe, so schwärmen hören wie von Brasilianern, und es ist wiederum symptomatisch, dass auch der Chinese in ähnlichem Sinn für die, welche ihn nah genug kennen, unwiderstehlich sein soll. Doch diese so empfindsame Welt ist andererseits kalt. Die Empfindungssphäre ist nicht die Herzenssphäre. Losgelöste Sinnlichkeit ist kalt. Grausamkeit ist kalt. Die Rache ist süß, aber andererseits kalt. Alle reine Empfindlichkeit ist kalt. So bedeutet die südamerikanische Süßigkeit und Rücksichtsfülle nicht Wärme: was da warm erscheint, ist in Wahrheit Wärmebedürfnis, wie das der Eidechse, welche die Sonne sucht. Daher die typische Kälte der Frauen, welche die Männer am meisten aufregen.

1 Vgl. hierzu die Ausführungen in Wiedergeburt, S. 437.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VIII. Delicadeza
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