Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IX. Die emotionale Ordnung

Kompatibilität und Inkompatibilität

Hiermit gelange ich zu einem Problem, auf das ich erst in Südamerika aufmerksam geworden bin. Und ich glaube, auch eine Lösung desselben gefunden zu haben, die in der Hauptsache der Kritik standhalten dürfte. Der übliche Erkenntnisbegriff ist nicht länger haltbar. Nicht nur Empfindung und Intuition, deren Gesetze nicht die der Logik sind, vermitteln Erkenntnis. Auch das Gefühl tut es. Und zwar ist dies nicht so zu deuten, wie C. G. Jung es tut, der das Gefühl eine rationale Funktion heißt: Gefühl ist wesentlich irrational. Worauf es ankommt, ist, dass Erkenntnis nicht notwendig und nicht wesentlich ein rationaler Vorgang ist. Jede vital richtige Reaktion ist ein mit dem, was wir Erkenntnis heißen, wesensgleicher Vorgang. Ja, man könnte sagen, dass das wissenschaftliche Erkennen ein so viel unvollkommeneres Erkennen ist, als manches andere Reagieren, dass sich das Leben keine halbe Stunde auf Erden erhalten hätte, wenn es kein besseres gäbe als jenes. Jeder organische Anpassungs- und Assimilationsprozess enthält die Elemente der exakten Feststellung des Tatbestandes, der richtigen Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, der Stellung des Problems auf bestimmte und die Lösung desselben auf vom Standpunkt des Fragenden richtige Art. Verstandeseinsicht, Begriffsbestimmung und Beweisführung verlieren durch diese neue Definition nichts von ihrem bewährten Erkenntniswert, doch aus ihr heraus wird klar, dass dieser Norm ist nur für eine besondere Art von Erkenntnis, nicht für Erkenntnis überhaupt. Soll überhaupt ein Sonderphänomen die ideale Norm abgeben, dann täte man besser, den Instinkt als den Verstand dazu zu wählen; denn die vollkommene Sicherheit des Verstehens einer Situation, welche die lebenswichtigsten Instinkt-Handlungen der Tiere auszeichnet, ward noch von keiner Reflexion erreicht. Die einzige nicht falsche Allgemeinbestimmung der Erkenntnis scheint mir die folgende zu sein: sie ist rechte Gleichung zwischen einem erlebenden Subjekt und einem Objekt; das Erkennen ist dem Erleben unterzuordnen. Das Lebendige behauptet sich gegenüber den abertausend Reizen, die auf es eindringen und auf die es mit Empfindlichkeit antwortet, indem es standhält oder assimiliert. Auf dass beides gelänge, ist noch so unbewusstes, noch so ungeistiges Verstehen der Situation Voraussetzung — und Verstehen ist die letzte und höchste Instanz aller Erkenntnis. Verstehen soll man hier sagen, nicht Anpassung, denn diese ist ohne die Hilfskonstruktion noch viel unwahrscheinlicherer Postulate, als es das eines organischen und unbewussten Verstehens ist, als letzte Instanz überhaupt nicht denkbar. Stimmt die Gleichung zwischen Subjekt und Objekt, dann entspricht sie dem Eigen-Sinn des Lebens und wird zugleich dem der Objektwelt soweit gerecht, wie überhaupt möglich ist; dann handelt es sich um Erkenntnis, gleichviel ob Körper, Seelen, Geister, Empfindungen, Gefühle oder Ideen im Spiele sind. Die Subjektivität oder persönliche Gleichung als solche ist niemals auszuschalten; werden noch so viele subjektive Elemente aus den Eindrücken ausgeschaltet, wie dies in bisher äußerstem Grad die Relativitätstheorie geleistet, so bleibt doch das Menschengemäße überhaupt. Aber nur in bezug auf den Menschen hat unser Begriff der Erkenntnis überhaupt Sinn. So ist die persönliche Gleichung letztlich nicht Hindernis, sondern Voraussetzung von Erkenntnis überhaupt. Vom Standpunkt jedes Lebendigen ist die Welt seine besondere Berührtheit, und im Falle jedes Typus handelt es sich um eine besondere, einzige Welt, welche weiter zurückzuführen oder abzuleiten unmöglich ist.

Von hier aus gelingt es ohne Mühe, geistige und emotionale und sonstige vitale Problemlösung vom gleichen Gesichtspunkte her zu begreifen. Von hier aus gelingt es einzusehen, inwiefern überall Verstehen die Lösung ist und zugleich das Unterschiedliche seinem Sinn nach richtig zu bestimmen. Dazu wollen wir nur vorerst die weitläufige Bestimmung rechte Gleichung zwischen Subjekt und Objekt durch das eine Wort Entsprechung, das jetzt kaum mehr Missverständnisse wecken dürfte, ersetzen. In keinem Falle handelt es sich bei einer Problemlösung in erster Linie um Logisches, sondern umgekehrt: die Normen logischer Gültigkeit sind ein Sonderfall möglicher Entsprechung überhaupt. Alle Entsprechung nun kann Verstand auf ein Prinzip zurückführen. Wo abstrakte Erkenntnis im Sinn der Wissenschaft Ziel ist, dort ist Grundvoraussetzung möglichen Verstehens die Allgemeingültigkeit einer Gleichung, welche richtigen Ansatz erfordert. Handelt es sich nun um emotionales Verstehen, dann ist gleichfalls Entsprechung Voraussetzung und auch hier ist richtiges Ansetzen der Gleichung erforderlich. Nur ist das Grundprinzip emotionalen Verstehens nicht die Allgemeingültigkeit, sondern etwas völlig anderes: die spezifische Kompatibilität. Und zwar ist das Grundprinzip hier, der Natur des Zusammenhangs gemäß, nicht bloß eine ratio cognoscendi, sondern eine ratio essendi. Es sei mir gestattet, das, was ich hier zu sagen habe, in Form einer kurzweilig klingenden, doch ernstgemeinten Abwandlung des Schöpfungsmythos auszudrücken. War es wirklich die Schlange, dank deren Einflüsterung das Böse in die Welt kam? Zu letzterem Ende genügte vollauf, dass Adam und Eva inkompatibel waren; trifft meine Voraussetzung zu, dann war die Schlange überflüssig. Denn auf dem Gebiet der Gefühle ist die Kompatibilität mit ihrem Gegenpol, der Inkompatibilität, an sich die primäre Ursache aller Gestaltung. Dies ist am Urtypus des Menschen, dem Weibe, auch in differenziertesten Zuständen klar wie am ersten Tage der Menschwerdung zu erkennen. Frauen sind selten von Hause aus festgelegte Wesen.

Sie wandeln sich, ja sie entstehen wieder und wieder neu durch Polarisierung. Zuerst entstehen sie durch Polarisierung mit den Eltern, dem Hause; alsdann mit dem Gatten — es hat tiefen Sinn, dass sie von Gatte zu Gatte den Gattungsnamen wechseln. Im einzelnen entstehen sie immer wieder neu durch Polarisierung mit der weiteren Umwelt; daher die tiefe Bedeutung der Mode. Gehören sie nun zum Typus der amoureuse, dann waltet oft ein besonderes Gesetz der Abwechslung. Die, welche zuerst in einem Krieger ihre Erfüllung fand, mag gleich darauf, ohne Übergang, einem Künstler verfallen, oder einem Denker und unmittelbar darauf einem Faustkämpfer — weil sie sich selbst eben so in ständiger Verjüngung erlebt. Je nach der Kompatibilität und Inkompatibilität nun erscheint die jeweilige polarisationsgeborene Gestaltung positiv oder negativ, gut oder böse. An mit ihnen inkompatible Männer gefesselte Frauen werden fast immer schlecht, und zwar real schlecht (es sei denn, das Geistige spiele in ihnen eine solche Rolle, dass ein Prinzip sie retten und Selbstüberwindung Böses zum Guten wenden kann); die Behauptung Kants, es gäbe nichts wirklich Gutes in der Welt, außer dem guten Willen, lässt sich dahin ergänzen, dass auch der gute Wille in bösen umschlagen kann, so dass als Urphänomen nur die Ambivalenz aller Gefühlsenergien bleibt, die sich allesamt sowohl positiv als negativ darstellen und auswirken können. In Delicadeza handelten wir davon, dass das Böse vielfach Natur-Folge der Verletztheit ist. Und früher erkannten wir ein objektiv Böses, die Brut der Schöpfungsnacht, als Urschoß alles irdisch Daseienden an. Die Festlegung wird, in der Tat, von Stufe zu Stufe der sich weiter und höher ausbildenden Psyche geringer. So ist es ganz im Ernste möglich, dass alles Übel in der Menschenwelt ursprünglich daher rührt, dass Adam und Eva inkompatibel waren; dafür spricht schon allein die offenkundige Komplexbehaftetheit von Kain. Und eben auf dieser Wandelbarkeit der Gefühle beruht alle Besserungs- und Erlösungsmöglichkeit. Eingangs handelten wir davon, wie widersinnig es sei, bei Gefühlen von Sollen zu reden, denn Gefühle ließen sich nicht kommandieren. Zu kommandieren sind sie freilich nicht, aber dank ihrer Wandelbarkeit lassen sie sich beeinflussen; und leben sie lange genug in bestimmter Form, dann fixieren sie sich in dieser. Deswegen allein ist Erziehung überhaupt möglich und zugleich notwendig. Insofern ist Tugend tatsächlich lehrbar, so wie dies Sokrates meinte. Deswegen kommt auf die Kinderstube so viel mehr an als auf die Schule — die Heimatatmosphäre in erster Linie fixiert das Gefühl. Hier wurzelt auch die ganze Wahrheit des Behaviorismus. Es sollte nur nicht der habit, die Gewohnheit dessen letzte Denkinstanz sein (in der Praxis hat er recht), sondern das zu weckende Gefühl. Das Problem ist überall identisch mit dem der Frau, die an einen ihr entsprechenden Mann gekettet, gut, anderenfalls schlecht wird. Von dieser Erkenntnis her können wir das, was wir in Blut über das Streben nach Wärme, nach Heimatlichkeit ausführten, vertiefen. Das Zusammenschließen erfolgt im Streben nach dem Kompatiblen, weil so allein dort, wo geistige Motive und Bindungen noch wenig bedeuten, ein Ausleben im Positiven möglich ist.

Doch vor allem können wir nunmehr auf unser Bild der emotionalen Ordnung mehr Farbe auftragen. Kompatibilität und Inkompatibilität schaffen auf den Ebenen der Dauerempfindungen und -Gefühle einen dem Kraftfeld elektrischer Anziehung und Abstoßung real (nicht bloß metaphorisch) vergleichbaren Zusammenhang. Dies erklärt jene Fehden von Sippe zu Sippe und von Stamm zu Stamm, welche alle Urgeschichte ausfüllen. Je primitiver ein Mensch, desto weniger bedeutet ihm das Übertragbare und insofern vielen Gemeinsame; zunächst sieht er in jedem Fremden den Feind oder verächtlichen Barbaren. Wie einem Gaucho vom Weltkrieg erzählt und auf seine Frage erklärt ward, dass die Entente (auf deren Seite der Erzähler stand) aus Engländern, Franzosen und Italienern bestand, da schüttelte er betrübt das Haupt: und diese armseligsten (so gebe ich deutsch wohl am besten das los mas desgraciados wieder) aller Gringos wollen die Deutschen schlagen? Seinen Begriff von ihnen leitete er vom schlechten Reiten der ihm bekannten Vertreter dieser Nationen ab, und dieses eine Charakteristikum entschied für ihn. Die auf mehr oder weniger vorhandener Kompatibilität und daraus folgender mehr oder weniger vorliegender Sympathie beruhenden Kraftfelder, die sich gegenseitig anziehen oder abstoßen, Schaffen auf dem Gebiet des menschlichen Zusammenlebens eben das, was man im Himmelsraum mit der klassischen Gravitation zu erklären suchte. Die sogenannte Erbfeindschaft beruht auf real vorhandenem Gefühl. Und aus ihr entsteht Böses nach bestimmter Richtung. Die höchst seltsame doppelte Moral aller Primitiven, gemäß welcher man den Feind mit allen Mitteln verfolgen und töten darf, den Freund hingegen lieben und fördern soll, ist aus der Tatsache des Ur-Schöpferischen der Kompatibilität als des Urprinzips der emotionalen Ordnung allein verständlich zu deuten.

Diese emotionale Ordnung beherrscht nun den ganzen iberischen Kulturkreis. Ist sie in Spanien und Portugal geistüberschichtet, so tritt sie in Südamerika nahezu rein in die Erscheinung. Die Oberfläche seines Lebens beherrscht der Geist der Delicadeza. Was nicht verletzt, ist gut, was weh tut, böse. Seine Tiefe bestimmen ebenso elementare Emotionen. Der besondere Reiz und Schmelz nun dieser Welt beruht darauf, dass die Kälte des Geists des dritten Schöpfungstags der an sich warmen emotionalen Elementar-Ordnung einen Charakter der Sanftmut mitteilt, die sie sonst nirgends besitzt. Vom Hintergrunde Spaniens hebt sich dieser Sondercharakter besonders deutlich ab. Die südamerikanische amistad verhält sich ähnlich zur alt-iberischen, wie die südamerikanischen Landschaftsfarben zu den afrikanischen. Sie wirkt wie silbern im Vergleich zum tiefen spanischen Gold; ihre Strahlung gleicht der des Mondes, nicht der Sonne. Aber eben wegen des kalten Untergrunds beglückt die jeweils meist echohaft-reagierend erwachende Wärme besonders. Mir wenigstens hat keine je so wohlgetan, vielleicht weil ich das Mondlicht der sengenden Sonne vorziehe.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IX. Die emotionale Ordnung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME