Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IX. Die emotionale Ordnung

Exklusivität

Wir haben jetzt genug von den Untergründen eingesehen, um uns mit vertieftem Verständnis den bekannten Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens zuzuwenden. Die Urform des Menschendaseins ist die Gruppe. Keine Einzelheit, wie die der meisten Tiere, die auch durch den Sexus nur augenblicksweise oder periodisch gefunden werden; nicht das Paar, denn dadurch, dass der Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern nicht wie bei den paarweise lebenden Tieren abreißt, sind grundsätzlich mehr denn zwei vorhanden. Aber auch keine Kollektivität wie die der Ameisen und Bienen, deren Voraussetzung ist, dass sie so etwas wie ein kollektives Ich haben, von Herdentieren zu schweigen. Die Gruppe nun tritt von Hause aus in die zwei Unterarten der Sippen und Freundschaften gegliedert in Erscheinung. Auch die Sippe stellt kein Blutsband dar, denn das Blut als solches fühlt nicht. Was hier in Wahrheit vorliegt und bestimmt, ist psychische Kompatibilität auf der Grundlage physischer, und diese doppelte Fundierung erklärt die Stärke echter Familiengefühle. Nicht weniger ursprünglich bindend ist aber die nicht blutbedingte Freundschaft. Schon lange haben Ethnologen das selbständige Nebeneinanderbestehen von Verwandtschafts- und Freundschaftseinheiten festgestellt. Stellen letztere sich gewöhnlich als mehr typisch denn persönlich bedingt dar, also als Altersklassen oder Männerbünde oder Vereinigungen im Rahmen eines besonderen exklusiven aber unpersönlichen Korpsgeists, so beruht dies auf der Undifferenziertheit des Individuums, auf Grund welcher eben das Allgemeingültige zugleich das Persönlichste ist. Doch schon auf frühester Stufe finden wir persönliche Freundschaften; ja solche bedeuten, wo vorhanden, am meisten gerade da, wo im allgemeinen Gruppengefühl bestimmt. Denn ist einmal alle Aufmerksamkeit auf Gefühlsbande gerichtet, dann schärft sich das Auge für alle Nuancen. Den Sinn der in archaischen Zeiten so bedeutsamen Blutsbrüderschaft begriff ich am Beispiel, eines argentinischen Gegenbildes: dort bestanden innerhalb einer einheitlichen, nach außen zu geschlossen zusammenhaltenden Familie Freundschaften und Feindschaften. In der genauen Umkehrung des gleichen Sinnes suchten frühe Zeiten ihre Freundschaftsgefühle überdies im Blute zu begründen.

Was nun emotionale Ordnung von jeder rationalen grundsätzlich unterscheidet, ist ihre Exklusivität. Die schon betrachteten Ursachen dessen können wir jetzt in die Formel zuspitzen, dass für das Gefühl ein Qualitätsunterschied, ähnlich stark wie der zwischen chemischen Elementen, zwischen dem Geliebten und Zugehörigen und dem Fremden besteht. Die Exklusivität geht im Falle Primitiver so weit, dass der einer bestimmten emotionalen Ordnung Zugehörige außer ihr Stehende ungern als Menschen gelten lässt. Wir erleben gleiches in Zeiten der Primitivierung durch Krieg und Klassenkampf, wo der nicht Zugehörige gleichfalls als vogelfrei gilt. Aber ursprünglich war und ist es überall so. Wie Alexander von Humboldt gewissen Amazonas-Indianern klar zu machen versuchte, dass es nicht schön sei, dass sie Menschen fräßen, erwiderten diese zuerst mit echt südamerikanischer Delicadeza:

Der Herr hat vollkommen recht; fuhren dann aber befremdet fort. Wir verstehen nicht ganz: die, welche wir essen, sind doch keine Verwandte…

Nicht viel anders standen noch die Griechen zu den Barbaren. Fremden Menschen gegenüber gibt es im Urzustand ebensowenig moralische Bindung, wie gegenüber Tieren, die man verzehrt oder ausnutzt. In der alten Welt trifft man diese Gesinnung heute noch bei den Kaukasierstämmen. Eine andere Ausdrucksform des gleichen ist das Urphänomen der Korruption. Sie nämlich und nicht die Ehrlichkeit im deutschen Sinn ist das Primäre. Ihre Urgründe sind weder rational noch moralisch noch utilitarisch, sondern emotional. Nicht auf der Bestechlichkeit und Veruntreuung liegt der Ur-Akzent, sondern auf der Nächstenliebe. Denn sie und nichts anderes bedeutet ursprünglich Nepotismus.

Für den emotional Zentrierten hört eben die Menschenwelt mit denen, welche zu ihm gehören, auf. Um so ungehemmter tut er allen Freunden und unter diesen sich selber wohl. Staat, Regierung, Amt usf. sind alles intellektgeborene Begriffe und Institutionen, die das naive Gefühl nur insofern anerkennt, als sie sich zum besten der Geliebten ausbeuten lassen. Deswegen mündet jede südamerikanische Revolution, welche aus Anlass der Korruption der bestehenden Regierung auflodert, in einem mit dem vorhergehenden identischen Zustand ein, in welchem jetzt nur andere Kreise und Einzelne bestimmen. Und wohl die allermeisten Südamerikaner finden, dass so alles in Ordnung geht. Überhaupt ist die emotionale Ordnung vollkommen und wesentlich amoralisch, wenn sie auch andererseits der Mutterschoß aller Moralität ist. Dies erklärt unter anderem, wieso frühe Zeiten in der Versklavung keinen Ausdruck grausamer, sondern menschlicher Gesinnung sehen konnten. Die Griechen und Römer fühlten sich recht eigentlich gut, wenn sie Besiegte in die Sklaverei schleppten, denn das Normale wäre gewesen, sie allesamt zu töten. Aristoteles fundierte diese Anschauung weltanschaulich, indem er den Zustand der Sklaverei als Naturgewolltes erklärte — nicht anders wie die meisten Herren und Unternehmer vor Weltkrieg und Weltrevolution die dürftige Lebenshaltung der Arbeiter mit gutem Gewissen als gottgewollt ansahen —, woraus wohl folgt, dass sein Lehrer Plato, welcher selbst einmal in die Sklaverei verkauft ward, kaum anders dachte. Im modern-intellektualisierten Zustand äußert sich dieses Urtümliche am häufigsten in dem Mutter-Typus, welchen man die mère-tigresse heißt; für die Kinder ist kein Opfer zu groß; dem Außenstehenden gegenüber aber sollte alles erlaubt sein.

Aus dem Ausgeführten folgt aber noch ein anderes: dass Empedokles mit seiner Lehre, dass der Krieg aller gegen alle der Vater aller Dinge sei, in gewisser, von ihm freilich nicht gemeinter Beziehung recht hat. Das Aufhören-können der Gebundenheit ist tatsächlich die Voraussetzung historischen Wandels. Ursprünglich fehlt alle zielsetzende Vorstellung; das Blinde aber wandelt seine Seinsart nur, wenn es innerlich muss. Woraus weiter folgt, dass äußere Motive in Urzuständen eine sehr geringe Rolle spielen; eine desto geringere, als Primitive sich selten aus ihrem angeborenen Lebensraum herausbegeben. So konnte Geschichte wirklich erst beginnen, nachdem, um in der Sprache des Mythos zu reden, Kain Abel erschlug, und damit der Streit zur dauernd bewegenden Kraft ward. Im Paradies des Urstandes nun leben die verschiedensten Menschen normalerweise nicht zwar durchaus friedlich, aber doch in solchem Rhythmus von Krieg und Frieden nebeneinander, dass das Gesamtbild dem Spruch Pack schlägt sich, Pack verträgt sich entspricht. Eben deshalb sind Kriege unter Primitiven beinahe niemals Ausrottungskriege und wollen es auch nicht sein. Da leben die Menschen, die sich lieben und die, welche sich nicht lieben, in ähnlicher letzter Harmonie nebeneinander, wie unter Tieren die Fleisch- und Pflanzenfresser. Dies erklärt unter anderem die ungeheure Kompliziertheit gerade primitiver Sozialordnungen, wie sie am eindrucksvollsten die Bestimmungen über erlaubte und nicht erlaubte Gattenwahl bei den Australnegern verkörpern. Diese Kompliziertheit hat ihre Ursache nicht in höherer Intelligenz, sondern im Primat emotionaler Ordnung. Diese vermag aus sich heraus nicht minder differenzierte, die Bewunderung des Verstandes weckende Gestaltungen zu schaffen, wie dies der Körper auf seiner Ebene tut.

Die Zelle der emotionalen Ordnung ist überall der kleinste Kreis. Daher die Entwicklungsreihe von Familien und Freundschaften über Stämme zu kleinen, schließlich großen Völkern. Doch je enger der Kreis, desto fester hängt er zusammen. Daher der feste Zusammenhang der Bewohner Südamerikas. Was drüben tatsächlich bestimmt, sind nicht die offiziellen Staaten, sondern gefühlsverbundene Gemeinschaften. In den Staaten als solchen geht es meist drunter und drüber zu. Doch die Familien- und Freundschaftsverbände werden durch diese Unruhen kaum berührt; im Gegenteil, sie leben von ihnen. Das Zentrum des Staates aber ist allemal ein lebendiger Mensch. Der südamerikanische Personalismus hängt unmittelbar mit dem Primat der emotionalen Ordnung zusammen. Eine im Gefühl zentrierte Welt kann nur lebendige Menschen zum Mittel- oder Brennpunkt haben. Abstrakte Erwägungen bedeuten einer solchen nichts, denn Gedanken sind ihr kein Primäres, sondern ein Sekundäres. Abstrakte Begriffe wie Republik und Monarchie bedeuten ihr auch nichts: bekennen sie sich jeweils zu dieser oder jener, so meinen sie diesen oder jenen Führer, im Fall der Bewegung größerer Massen diese oder jene Schicht; was die also bejahten denken oder tun, wird ohne Kritik als richtig hingenommen.

Das hier Geschilderte gilt allgemein als charakteristisch für die Frau. Bei ihr steht die rationale Sphäre so sehr im Dienst der emotionalen, dass sie, wo sie liebt, in den Geliebten selbstverständlich alles Gute hineinsieht und überhaupt nicht begreifen kann, dass andere ihn anders sehen. In Wahrheit gilt gleiches von jedem emotional Zentrierten, und sei er noch so männlich. Und da die emotionale Ordnung die menschliche Urordnung ist, so muss alle Überlieferung und alle Aussage früher Menschen so beurteilt werden, wie das Bild, das ein Weib von Freund oder Feind entwirft. Doch zuunterst lebt die emotionale Ur-Ordnung in allen, selbst den intellektualistischsten Völkern fort. Sehr bedeutsamer Weise wird gerade bei nachweislich unpersönlicher Beziehung die emotionale Bindung als letztentscheidend empfunden. Von jedem Feldherrn wird im Krieg, wenn die besondere Ordnung, die sich in diesem auswirkt, in seinen Teilnehmern entsprechende Einstellung ausgelöst hat, gänzlich irrational vorausgesetzt, dass er auch den unbekannten Soldaten wie ein Vater liebe. Den wahrlich unmenschlichen Napoleon vergötterten seine Krieger wie eine Geliebte, und deshalb starben sie für ihn. In friedlich-dauerhafter und abgedämpfter Form lebt die emotionale Urordnung in den alten europäischen Monarchien fort. Den König soll man lieben; er wiederum liebt jeden seiner Untertanen wie sein eigen Kind. Vor allem: seine Laune, sein bon plaisir, sonach sein Irrationales soll letztlich entscheiden, so wie der klardenkende Financier, der eine Schauspielerin aushält, will, dass diese kapriziös sei. In modern-konstitutionellen Monarchien haben Könige faktisch kaum etwas zu sagen. Doch desto intensiver wird das Irrationale ihrer Seinsart kultiviert. Sie sollen so leben, als entscheide Persönliches letztlich. So glauben Fürstlichkeiten vielfach heute noch, und bis zu einem gewissen Grade glauben es ihre Untertanen auch, dass Fürstenverwandtschaft Völkerfreundschaft schüfe. So leben sie als letzte unter modernen Menschen in der Urform engster Familienbeziehung fort, über die hinauszusehen sie physiologisch unfähig erscheinen. Beinahe darf man sagen: ekelt einen Königssohn aus altregierendem Geschlecht nicht die bloße Vorstellung, eine Unebenbürtige zu ehelichen, an, so ist er wohl entartet. Das ist durchaus nicht Standeshochmut: es ist nichts als der letzte Ausdruck primordialer Gesinnung; nicht anders schließt sich bei Negritos Sippe gegen Sippe ab. Und dieses Primordiale allein bindet unauflöslich. Jeder angestammte König hat, wo die entsprechende Vorstellung im Volk noch einigermaßen lebendig ist, mehr Prestige und Einfluss, als der verdienstvollste Präsident. Und so gibt die emotionale Urordnung auch aller christlichen Vorstellung vom Himmel die Signatur. Es herrscht der Vater, es vermittelt der Sohn, die Mutter Gottes schafft das Band der Innigkeit. Die Seligen aber sind nichts anderes als die Freunde im argentinischen Verstand, die in Herzens-Harmonie von Ewigkeit zu Ewigkeit miteinander leben.

Wenn nun lange genug wütender Krieg oder Revolution die Unterwelt zum Ausbruch gebracht hat, dann erfolgt eine Restauration des Urtümlichen auch an der Oberwelt. Das höllenmäßig Unterweltliche zieht sich wohl bald zurück; es hat sich ja genügend ausgetobt und Gana-Melodien sind nicht nur endlich, sondern auch kurzlebig. Anders steht es mit Gefühlen. Der rationale Wider- und After-Sinn des Kriegs bedingt von Hause aus Akzentlegung auf sie; sonst wäre er nicht durchzuführen, nicht durchzuhalten. Sind sie nun aber in kriegsgemäßer Form erwacht, dann bleiben sie bestimmend, nachdem ihr Anlass längst vorüberging. Vor dem Weltkriege lächelten viele über den Begriff notwendiger Freundschaft zwischen den Völkern: solche sei von der Entwicklung längst überholt; Interesse allein entscheide. Seit Weltkrieg und Versailles können alle es besser wissen. Die Kriegspropaganda mit ihren Verleumdungen war im ganzen eine ehrliche Übersetzung wirklicher Gefühle in die Sprache des Intellekts. Und das Friedensdiktat von Versailles ist eine sinngerechte Ausgeburt des reinen Geists des Hasses. Was der Feind vom Feinde behauptete und glaubte und ihm folglich anzutun für berechtigt hielt, hatte genau den gleichen Sinn, wie die Idealisierung des geliebten Mannes durch die Frau. Alle sachlichen und rationalen Behauptungen und Urteile der späteren Kriegs- wie der ersten Friedenszeit waren gefühlsbedingt. Und das beruhte nicht auf Vorurteil: es handelte sich überhaupt nicht um Urteil, sondern um übertragene emotionale Wirklichkeit. Was nun vom Kriegsende bis zur Zeit, da ich dies schreibe, besser geworden ist, beruht einzig- und allein auf dem Abklingen der Gefühle des Weltkriegs. Wird Europa einmal wirklich befriedet, so wird dies einzig dem zu danken sein, dass jene Gefühle verstarben. So bleibt die alte Lehre von der notwendigen Freundschaft zwischen Völkern für alle Zeit im Recht, denn sie behauptet nichts anderes, als das Primat der emotionalen Ordnung. Jederzeit können die Kräfte der Tiefe neu hervorbrechen, in unveränderter Ur-Gestalt.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IX. Die emotionale Ordnung
© 1998- Schule des Rades
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