Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages

Beziehung zur Unterwelt

In dieser ersten Meditation habe ich hauptsächlich Untergrundfarben aufgetragen und einiges leicht Erkennbare darüber gemalt. Kehren wir jetzt zu dem Punkte zurück, an dem ich sagte, dass ich mich an Südamerikas Erde mehr gebunden fühle, wie an meine eigene. Die Beziehung zur Erde ist immer Beziehung zur Unterwelt. Nur wissen die meisten nicht, was dieser Satz besagt, weil sie sich bluthaft an die Erde gebunden fühlen. Freilich mag die Pflanze Mensch von der Wurzel bis zur Krone mit ihrer Landschaft verwachsen sein, und das gilt von den meisten mit ihrer Heimatlandschaft. Doch die tiefste, die eigentliche Beziehung besteht vom Kaltblut her. Und nur von ihm her ist der Sinn der Erde und des Erdhaften richtig zu erfassen.

Die Offenbarung dieses Sinnes ist es, welche ich dem Kontakt mit Südamerika verdanke. Südamerika hat mir viel mehr gegeben, wie Indien und China. Der Chinese wie der Inder ist mir nahe verwandt, denn auch er lebt zutiefst aus dem Geist; so bedeutet mir seine Unterschiedlichkeit in spirituellem Zusammenhang nicht mehr, als in anderem die vom Franzosen oder Briten. Der Südamerikaner ist vollkommen Erdmensch. Er verkörpert den Gegenpol des geistbedingten, geistdurchstrahlten Menschen. So konnte ich ihm gegenüber mit meinen bisherigen Verstehensorganen nicht bestehen; es mussten sich neue bilden. Nicht ohne schmerzvolle Schwierigkeit gelang dies. Gleichwie die bolivianische Puna meinen Körper aufzuschließen drohte, so gefährdete das Mit-Schwingen im fremden Rhythmus Argentiniens lange Zeit mein seelisches Gleichgewicht. Seinen Ausdruck fand dies — da immer der Körper das Ziffernblatt der Lebensuhr ist — in langwierigen Anfällen von Arhythmia perpetua als Interferenz-Symptom unvereinbarer Melodien. Doch eben diese Gefährdung beschleunigte die Bildung neuer Organe. Wie diese nun erwuchsen, gewann ich eine neue Perspektive gegenüber der Wirklichkeit: die von der Erde her. Da sieht alles anders aus, als vom Geiste her gesehen. Und vieles ist nur so überhaupt zu sehen. Von dem mir Neuen, was mir seither in organischem Wachstumsprozess in den Gesichtskreis trat, werden die folgenden Meditationen handeln.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
I. Der Kontinent des dritten Schöpfungstages
© 1998- Schule des Rades
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