Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XI. Der Einbruch des Geistes

Ausstrahlender und schauender Geist

Die Tatsache, dass das geistige Leben von Einfall zu Einfall verläuft, bedingt, dass verschiedene Belichtungen und Beleuchtungen unvermittelt aufeinander folgen, deren Zusammenbang sich erst nachträglich durch Reflexion erweist. So kamen mir meine Gedanken über den Geist als Bild ohne direkte Beziehung auf die anderen, dass seine Ur-Ausdrücke Glaube und Mut sind; außer dass beide durch die Anschauung der Ur-Blindheit des Lebens, die mir in Südamerika zuteil ward, angeregt worden waren. Tatsächlich empfand ich selbst eine Weile als Widerspruch, was nun in der vorhergehenden Meditation und in dieser Gestalt gewonnen hat. Seither hat der Widerspruch sich für mich aufgelöst: er ist die natürliche Folge der Verschiedenheit der Ansichten. Die Sonne schaut selbst nicht, sondern sie scheint. Von außen her kann das Lebendige ihr Licht nur schauend realisieren. Das Bild der Sonne entspricht dem Wesen des Geistes nun auch darin, dass der Geist nur für die Schau Licht und Bild ist. Sonst ist er Strahlung, und es gehen viele Arten von Strahlen von ihm aus, die in verschiedenen Medien Verschiedenes bewirken. Sobald man nun vom ausstrahlenden und nicht vom schauenden Geiste ausgeht, stellen alle Probleme sich um. Und dann ergeben sich für das Denken Unvereinbarkeiten. Dementsprechend ist, seitdem es bewusste Spiritualität gibt, zwischen kontemplativem und aktivem Leben, die sich in actu ausschlössen, unterschieden worden. Was wir in unserer Meditation über die Traurigkeit der Kreatur zum Geistproblem zu sagen hatten, bezog, sich ausschließlich auf den aktiven Aspekt des Geistes; also sein Ausstrahlendes, nicht sein Geschaut-Werden. Halten wir nun aber am Worte Ausstrahlen fest und versenken wir uns in dessen ganzen Sinn, dann finden wir gerade auf Grund unserer Gedankengänge über das Bildhafte des Geistes, dass Mut und Glaube seine Ur-Ausdrücke sein müssen. Wenn etwas metaphorisch als von innen heraus ausstrahlend bezeichnet werden darf, dann sind es deren Qualitäten. Mut und Glaube setzen von sich aus Wirklichkeit, sie nehmen nicht hin noch passen sie sich an. Und dieses ihr Setzen liegt diesseits aller Differenzierung und Qualifizierung. Der blinde Mut ist dem Strahlendruck vergleichbar. Mit dem Glauben nun überschichtet eine eigene Welt die vorgegebene genau im gleichen Sinn, wie das Licht das Dunkel verwandelt. Nie bedeutet Belichtung bloßes Hellwerden: die Welt wird anders als sie vorher war. So bezeichnete Goethe die Farben mit Recht als Taten des Lichts. So beweist die verschiedene Rolle, welche Tag und Nacht im Regenerations-, im Wachstums- und Genesungsprozesse spielen, dass es sich hier und dort um qualitativ Besonderes handelt. Im einfachsten Falle färbt der Glaube die Wirklichkeit sich selbst gemäß. Im Höchstfall projiziert er seine eigene Wirklichkeit so ganz auf die vorherbestehende, dass für ihn nur die seine allein übrig bleibt. Doch wir können dem inneren Zusammenhang von Kontemplation und Aktion noch näherkommen. In einem Sonderfall verschmelzen beide: es ist dies der des geistig Schöpferischen, welchem Geistiges persönlich einfällt. Auch er steht hinnehmend zum Geist; seine Einfälle kommen ihm, er hat keine Macht über sie. Doch sie wirken andererseits durch sein Persönlichstes hindurch. Und so tut er zugleich persönlich, was er andererseits schaut. Es ist nun für den Produktiven charakteristisch, dass er nie weiß noch wissen kann, was er tut, bevor er es getan hat. Jeder Schöpfer wird durch seine Einfälle überrascht. Bis sie fertig vorliegen, ahnt er nur, dass sie bevorstehen, und mehr vermag er nicht, als solche Bedingungen zu schaffen und sich solchen Einflüssen auszusetzen, welche das Einfallen fördern. Was anders gilt nun für die Wesensart des Mutigen? Dieser setzt sich dem aus, von dem er nicht weiß, wie es ausgehen wird, in der Zuversicht, dass er sich überraschender Situation gewachsen erweisen wird. Und von jeher bewahrheitet sich das Römer-Wort fortes fortuna adjuvat. Gerade seine Blindheit weist dem Täter den rechten Weg. So sagte Oliver Cromwell einmal:

der Mensch schreitet niemals so sicher voran,
als wenn er nicht weiß, wohin er geht.

Der geistige Einfall ist im genau gleichen Sinne Kind der Blindheit. Unter diesen Umständen ist der genetische Zusammenhang offenbar so, wie ihn unsere letzte Meditation beschrieb. Lange bevor Geist in seinem Bild-Aspekt bestimmend ward, wirkte er schon von innen heraus als actus purus.

Und nun können wir die letzten Zusammenhänge aufdecken. Dieses Wirken war von Hause aus eines Sinnes mit allem, was wir seither Geistes-Wirken heißen. Auch das Ausstrahlen, so blind es für sich sei, ist nichts anderes als Sinnesverwirklichung. Wir bedachten das primär Bedeutende der Träume, den primären Tiefsinn der Sprache: nicht minder ursprünglich bedeutend ist die Selbst-Setzung des Menschen durch die Tat. Immer kann man den Geist eines Menschen an seinen Taten erkennen, und zwar an seinen bewusst nicht gewollten und insofern blind vollbrachten besser noch als den beabsichtigten: auf das Wissen ums Tun kommt es beim Tun nicht wesentlich an. Und so hat auch die Kontinuität des Bildes und der Schau ihre Entsprechung auf dem Gebiet aktiven Lebens. Unser Meditieren führte wieder und wieder zum Ergebnis, dass alle Kontinuität im Erleben vom Geiste herstammt. Das Gana-Leben ist wesentlich unstetig; es ist ein Gefüge und Gewebe ausschließlicher und endlicher Melodien, die für sich nicht zusammenhängen; vom Geiste her beurteilt, ist es Sinn-, Ziel- und Treu-los. Wie nun der kontemplative Geist alles, was er vorstellt, als zusammenhängende Einheit erlebt, so setzt der aktive von sich aus Zusammenhang und Sinn. Mir wurde an der Anschauung südamerikanischer Lebensmodalität, wie ich sie besonders in Gana geschildert habe, klar, welches die untersten Grenzen bestimmenden Geistes sind. Die unterste Grenze nach unten zu verkörpert der esprit de suite im weitesten Wort-Verstand: erst wo Zusammenhang, von sich aus bestimmt, ist die Gana nicht letzte Instanz. Dann erst gibt es Zusammenschau, dann erst Konsequenz, dann erst mögliche Voraussicht, mögliches Zielen und Planen; dann erst gibt es mögliches Versprechen, mögliche innere Verpflichtetheit und mögliche Treue in anderem Verstand als dem der Trägheit; dann erst gibt es mögliche Selbstüberwindung und damit möglichen Fortschritt. Nach oben zu aber bezeichnet die unterste Grenze geistbestimmten Lebens das Supremat anerkannter Werte. Alle Einheit und Einheitlichkeit im psychischen Leben, die wir Durchgeistigte selbstverständlich fordern, setzt zu ihrer Möglichkeit bestimmenden Geist voraus.

Von hier aus wird denn der Sinn aller Einheitsforderung klar. Unabhängig vom Geist ist sie abwegig oder sinnlos. Doch in der Dimension der Innerlichkeit, welche die Daseins-Dimension des Geistes ist, hängt alles intensiv (im Gegensatz zu extensiv) zusammen. Zunächst ist da das Ganze vor allen Teilen da. Aber dieses Ganze ist kein Umfassendes, es ist schaffender und herrschender Mittelpunkt. Insofern bedeutet Vergeistigung Konzentrierung. Und dies gilt nach allen Richtungen und auf allen Ebenen möglicher Vergeistigung. Führt Denken Millionen von Einzelfällen auf eine Formel zurück, deren Kenntnis fortan genügt, um alles vorauszuwissen, vorwegzunehmen und zu beherrschen, so bedeutet dies Konzentrierung der extensiven Vielfalt in eine intensive Einfalt. Doch genau ebenso bedeutet Persönlichkeitsbildung Integration der Vielfalt besonderer Triebe und Strebungen; dieser eine Satz erweist, dass es nur geistige Persönlichkeit gibt und geben kann. Im gleichen Sinne steht und fällt alle Wertbestimmtheit mit der Herrschaft intensiver Einheit über die Vielfalt. Geist ist immer einheitlich. Daher das Vorurteil eines ursprünglich einheitlichen Ich: nur als Einheit vermag Geist den Zusammenhang, des Individuums zu verstehen. Hypostasiert man nun den Geist, dann gelangt man notwendig zu einem monistischen Weltbild irgendwelcher Art. Entsteht Persönlichkeit durch Konzentration ursprünglicher Vielfalt, so mag weitere Konzentration zur Vergottung führen. So schlossen die Inder. Über die Theorien, ob das tiefste Selbst mit der Weltseele oder Gott zusammenfalle, ist zu streiten müßig, denn beide transzendieren mögliche Einsicht und mögliches Verstehen. Aber eins hat Indien in der Tat als wahr und wirklichkeitsgemäß erwiesen, dass im Fortschritt der Konzentration eine Integration und damit Vergeistigung, möglich ist, die den Menschen in ungeheurem Grad verwandelt und ihn, nach dem Maßstab seines eigenen intimsten Wertbewusstseins gemessen, zu einem höheren Wesen macht.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XI. Der Einbruch des Geistes
© 1998- Schule des Rades
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