Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XII. Divina Commedia

Mangel an Ernst

Am Ende unserer Betrachtungen über das Problem des Einbruchs des Geistes gelang es uns, zwei zunächst unvereinbare Erkenntnisse in verständlichsten Zusammenhang zu bringen: nämlich dass einerseits das Bild Ur-Ausdruck des Geistes ist, dass aber andererseits von Mut und Glauben gleiches gilt. Jetzt liegt uns ob, eine dritte Ansicht des Geistesprozesses zu gewinnen und mit den früher gewonnenen zu vereinen. Wir betrachteten das Bild zunächst nur als ein statisch Daseiendes, und bei Mut und Glauben sahen wir von aller Erscheinungsform ab. Doch das Bild bewegt und wandelt sich andererseits von innen heraus, und Mut und Glauben stellen sich andererseits äußerlich dar. Wie sollen wir nun die Sonderaktivität des Geists von der Erde her bestimmen? Ihr Wesen ist Spiel.

In der Tat: was den Geist, von der Erde her beurteilt, an erster Stelle kennzeichnet, ist sein Unbindbares, sein Un-verlässliches; ihm fehlt jedes Gewicht, jede Schwere, jede Inertie. Insofern gilt, immer von der Erde her geurteilt, der Satz: dem Geist fehlt der Ernst. Von ihm aus ist nichts schwer und er nimmt nichts schwer. Der Begriff der Mühsal nicht allein, sondern sogar des Leidens findet an ihm keinen Gegenstand. Mühsal gibt es nur von der Gana her geurteilt, und Schmerz und Leid kennt der Mensch nur als empfindendes und emotionales Wesen; von der Seele erkannten wir ja, dass sie nichtgeistiger Natur ist. So muss der Geistige auf den Erdhaften in erster Linie un-ernst wirken. Schon vom Mutigen gilt dies: er setzt ja sein Leben aufs Spiel. Vollends unseriös muss der Glaubende dem Erdschweren vorkommen. Der Glaubende setzt bewusst auf das erkenntnismäßig Ungewisse; er vertraut höchst leichtfertig, trotz schwerster Bedenken und gewichtigster Einwände, die sich entgegenstellen. Zumal der Christ, welcher an Gottes Gnade glaubt, spielt stündlich va-banque. Verkleidet dieser sein Bekenntnis zum Ungewissen in eine Theorie, nach welcher das Ungewisse andererseits vorherbestimmt wäre, oder in die Kausalkette credo quia absurdum, oder in unbedingtes Vertrauen auf die Liebe Gottes. So hält solche List der Vernunft schon der Kritik des Insektenweibchens nicht stand, das für seine Brut sorgt. Vom Standpunkt der Erdschwere beweist alles Glauben an Unerwiesenes und alles Vertrauen auf Ungewisses an erster und letzter Stelle Mangel an Ernst. Hierzu tritt ein weiteres gravierendes Moment: der Geist ist an sich unbindbar, so dass dem Glaubenden jede Sicherheits-Grundlage fehlt. Dem scheint nun zu widerstreiten, dass es erwiesenermaßen Formeln gibt, welche Geist objektiv festhalten. Doch der Schein trügt; am deutlichsten wird dies gerade am Extremausdruck möglicher Geist-Bindung, nämlich der Beschwörung eines richtiggehenden Geistes durch ein Zauberwort. Man nenne mir ein einziges Märchen, in dem die bloße Existenz der richtigen Formel den Geist bannte: dieser muss beschworen, das heißt er muss verführt werden, sich der Bindung hinzugeben, und dies vermag eben nur der Zauberer, welcher seinerseits Geist ist, welcher fortgehen oder sterben mag. Wir können von hier aus den Mythos Im Anfang war das Wort genauer verstehen, als bisher geschah: er besagt zunächst, dass Gott die Technik der Zauberei beherrschte; die Welt wurde so, wie sie wurde, nur weil Gott ganz bestimmte Worte aussprach; hätte er sich anders ausgedrückt, dann wäre sie anders geworden. Dann aber besagt der Mythos, dass Gott eben Gott war. Es wiederhole ein anderer als Gott die Schöpfungsurworte noch so gewissenhaft — nichts Bemerkenswertes wird deshalb erfolgen. So kann immer nur der Zauberer mittels Zauberformeln beschwören. So helfen Gleichungen und Formeln zu Meisterung der Naturkräfte nur dem, der sie zu handhaben weiß. So gelten juristische Gesetze nur, sofern sie anerkannt werden. So verhilft der vollkommenst-denkbare Ausdruck zur Einsicht dem allein, welcher von sich aus sieht. Dummheit und Stumpfheit stellen undurchdringliche Panzer dar gegen jeden Geist. Vollends deutlich werden die Verhältnisse durch die folgende Überlegung. Überall, wo Bindung des Geists in Frage steht, ist Objektivierung nur unter dem Begriff des Sollens möglich. Nun, was man soll, das muss man eben nicht. Daher die Groteske, dass Geistverwirklichung auf Erden nur durch das Allerungeistigste, nämlich durch Gewalt, im Großen durchzusetzen ist; seitdem es Geist gibt, gibt es auch die Idee der Polizei.

Geist als solcher vermag ebensowenig zu binden, wie er zu binden ist. Binden kann allein die Gana. Macht ausüben kann Geist nur, wo er anerkannt, geglaubt, verwirklicht, dargestellt wird, d. h. wo die Erdkräfte, welche binden können, in seinen Dienst treten. Ohne Entgegenkommen des Irdischen vermag er auf Erden nichts. Daher die Gebote, an Gott zu glauben und Gott zu lieben und Gottes Willen zu tun, auf dass Er sich offenbare. Nicht umsonst donnerten alle Magier aller Zeiten gegen die Zweifler. Nicht umsonst steht alles Gute noch heute, genau wie unmittelbar nach der Vertreibung aus dem Paradies, unter dem Zeichen des Sollens. Nicht umsonst muss alle Selbstüberwindung, die Voraussetzung aller Geistesherrschaft, noch heute geboten werden. All dieses Sollen betrifft die Erdkräfte. Werden diese nicht gezähmt, so kann der Geist nicht wirken. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es sich beim Einbruch des Geists um den Versuch einer Einbildung in schon bestehende und festgefügte Ordnung handelt. Hier wird ferner endgültig deutlich, dass es nicht angeht, das Irdische im Menschen als unwesentlich zu ignorieren: muss sich der Mensch Gott öffnen, damit dieser in ihm wirken kann, so liegt offenbar beim Irdischen im Menschen die Entscheidung. Fassen wir unsere bisherigen Erkenntnisse nun zusammen. Das Bild ist die ursprüngliche Erscheinungsform des Geists; er ist nichts Fassbares, nichts Schweres, nichts Widerstehendes. Er ist weder zu binden, noch kann er selber binden. Der Eigen-Aktivität des Geistes fehlt alles Ernsthafte, so wie es die Erde versteht; von deren Standpunkt ist sie wesentlich Spiel. Aber dieses Spiel geht von Schau aus und ist selber Schaustellung. Unter diesen Umständen trifft nicht nur zu, dass Schauspielerei der früheste Ausdruck geistmitbestimmten Lebens sei: die Ur-Form oder das Prototyp geistigen Lebens überhaupt ist das Schau-Spiel.

Der Schluss, zu dem uns Reflexion führte, wird durch alle Erfahrung bestätigt. Das Menschenkind beginnt sein tätiges Dasein spielend; es weiß dabei, dass es spielt, doch die Welt des Spiels erlebt es als seine eigenste, während es die Außenwelt als fremd und lästig empfindet. Nicht anders erleben kindliche Völker von Imagination. Unter diesen verstehe ich nicht die Primitiven von heute, von denen die meisten hohes Alter in Form früher Zuständlichkeit darstellen, sondern solche, welche das, was uns als Versteinerung begegnet, ebenso spontan erfinden, wie Kinder ihre Spiele erfinden, auch wo sie dabei gelernten Regeln folgen. Deren Leben ist eine einzige Mythe. Und Mythe zwar im Sinn der alten Griechen, welchen Mythisieren Dichten bedeutete, nur von archaischem Zustand aus; bekanntlich unterschieden die Hellenen die Dichtung ihrer Tragiker sehr wohl von dem, was wir Mythos heißen. Kindliche Völker leben rein von innen heraus. Von der Erde her beurteilt, erscheinen sie allesamt ver-rückt. Es ist nicht Zufall, sondern Sinn und Absicht liegt darin, dass solche Völker kaum ein Naturereignis, das sie oft trefflich beobachten, richtig erklären; ob sie Geburt und Zeugung nicht als Zusammenhang erkennen oder den Tod des erlegten Wildes vom exakt ausgeführten Zeremonial und nicht von der Waffe, welche es niederstreckte, abhängig denken, oder was der Verknüpfungen mehr sind, von denen noch heute so viele in den Aberglauben der verstandesklarsten Völker fortleben: es bedeutet Widerstand des freien Geistes gegen Naturfesseln. Und gleiches bedeuten die unwirklichen selbstgesetzten Ordnungen, aus denen heraus sie leben. Der moderne Naturalismus hat von seinem Standpunkt recht, wenn er auch die Voraussetzungen der christlichen Kirche dem Aberglauben zurechnet, denn unzweifelhaft ist von Natur aus keine besondere Lebensform heilig oder geweiht. Solange geistbegabte Menschen irgend können, spielen sie. So behandeln die zwei tiefsten unter den sozial begabten und gesinnten Völkern, welche heute leben, gerade das Ernsteste grundsätzlich in Form des Spiels. Unter Engländern gilt es als bad form, auf deutsche Art auf dem Ernst einer Sache zu insistieren: Humor hat sie auf eine Ebene hinaufzuheben, welche sie irrealisiert. Gleichsinnig wird Krieg als sport und vor allem Politik als game aufgefasst; der englische Parlamentarismus steht und fällt mit der Fiktion, dass die Wirklichkeit nach Spielregeln sinngemäß gehandhabt und gelenkt werden kann. Und so war bis vor kurzem das soziale Leben der Chinesen eine einzige Erfüllung von Ritual; dank dem wurde die de facto bestehende dauernde Reibung zwischen zu vielen und zu schlecht nebeneinander wohnenden Menschen zu einem objektivierten Spiel, an dessen Eigen-Sinn man Freude hatte, wie immer das Leben einen behandelte. Der Erkenntnis der Notwendigkeit solcher Irrealisierung entspricht es, wenn der Chinese keinen Glücksbegriff kennt: wo der Europäer ich bin glücklich sagen würde, sagt er ich freue mich.

Die Beispiele des Engländers und des Chinesen nun führen uns vom naiven Spielen der Kinder, denen Spiel das wahre Leben ist, zur Einsicht in den Zustand, wo die Wirklichkeit der Erde miterlebt wird und das Spielen Erlösung bedeutet. Dies ist überall dort der Fall, wo Ur-Angst und Ur-Hunger ins vorstellende Bewusstsein eingedrungen sind, wo die unentrinnbare Gebundenheit als Schicksal erlebt wird und damit die Traurigkeit der Kreatur die Seele überschwemmt. Da wird das Leben selber nicht als Spiel erlebt, sondern das Spiel wird als Höchstes gewertet, weil es von dessen Schwere befreit. So ist niemandem das Spielen mehr Bedürfnis als Eingekerkerten. Auf dem imaginationsarmen Kontinent der Traurigkeit bedingt der gleiche Trieb ein Leben aus Wunschbildern heraus, das aber nicht ein Leben als Dichtung und Spiel ist, sondern als vorgespiegelte Realität, mithin als empirische Lüge. Diese Menschen in ihrem heutigen Zustand versuchen gar nicht, ihr Vorbild zu verwirklichen, sei es im Leben oder als Spiel: sie geben mit dem Ernst des Verzweifelten vor, das zu sein, von dem sie wissen, dass sie es nicht sind, und verlangen vor allem, dass andere sie ihrem Wunschbild entsprechend sähen. So steigern sie sich in Wortübertreibung, anstatt real zu wachsen oder ihr Leben als Kunstwerk zu gestalten; Titel und sonstige Ornamente ersetzen Leistung, Idealismus und Romantik in Worten und Gefühlen verwirklichten Wert. Schulden werden als Kapital gedeutet — bin ich einer Bank eine Million schuldig, so bin ich eben so viel wert! — äußerer Glanz ersetzt solides Vermögen, Versprechen Erfüllung. So war es im Anfang aller Geistbestimmtheit bei erdzugekehrten und erdverhafteten Völkern. Da vermochte Phantasie selten mehr, als auf Grund von Wunschbildern eine subjektive Welt zu schaffen und so durch Scheinen über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Die Ur-Beziehung des Erd-Menschen, der aber schon am Geiste teilhat, zum Tatsächlichen ist eine wesentlich verlogene.

Doch Fälle so großer Erdverhaftung sind selten. Die Norm des über-kindlichen Zustands stellt eine Einstellung dar, von welcher aus das Spiel als Erlösung empfunden wird; daher das Primat und die unvergleichliche Bedeutung der Kunst in frühen Zuständen. Hier nun aber wandelt sich die Bedeutung des Gleichen proportional der Tiefe des Geist-Erlebnisses. Ist der Grundzustand derjenige der Traurigkeit der Kreatur, dann bedeutet Kunst Kompensation überhaupt; in einer Welt des Leichten und Flüchtigen und letztlich nicht Realen wird die harte und schwere Wirklichkeit zu vergessen versucht. Die unvergleichliche Tiefe der griechischen Tragödie rührt daher, dass sich in ihr in klassischer Vorbildlichkeit reales tragisches Lebensgefühl erlöste. Letzteres kennzeichnet das erste Erwachen des Menschen zu seiner integralen Wirklichkeit, die sowohl erd- als geisthaft ist. Und so konnte das gläubig erlebte christliche Mysterienspiel der Einbildungskraft real-Überirdisches erlebbar machen. Immerhin aber bedeutet das größte Tiefen-Erlebnis im Schauspiel ein Abreagieren. Insofern dieses Erlebnis das Irdische entwirklicht, entwirklicht es zugleich den Geist; denn dieser muss sich ent-äußern, um sich in einer von außen her vorgegebenen Vorstellungswelt auszuleben. Wahrhaftiges Leben aus dem Geist beginnt erst dort, wo lebendiger Geist sich zentral durch die Person als Schauspiel auslebt. d. h. wo sich, christlich ausgedrückt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen beginnt. Damit erfährt alles Erleben eine Umlagerung. Es ist nicht mehr die Imagination an sich, ohne Zusammenhang mit dem Selbst, welche sich spielerisch auslebt. Es ist auch keine Übertragung von Erd-Erleben in die Sphäre des Ab-Bildes. Es handelt sich auch nicht mehr um Vor-Bilder, welche als ein Fremdes durch das Bewusstsein wirken: die Person selbst wird zum Ausdrucksmittel des Geists. Damit erscheint das Leben in eine neue Dimension ver-rückt.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XII. Divina Commedia
© 1998- Schule des Rades
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