Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

II. Die Ur-Angst

Fluch des Goldes

Im Anfang war nicht der Mann, sondern das Weib; das Weib verewigt als differenzierte Gestaltung die Ur-Eigenschaften tierhaften Lebens. Diese eine Erwägung erklärt, warum das Weib und nicht der Mann ursprünglich Besitz will: das Weib und nicht der Mann will an erster Stelle Sicherung. Daher das Weibliche der sozialistischen Sicherheitsideologie mit ihrem Ideal, dem reinen Wohlfahrtsstaat. Daher die Tatsache, dass in aller Geschichte die Matriarchalen und nicht die Patriarchalen die Besitz-Völker waren. Letztere wollen ursprünglich Nutznieß oder Einkommen, nicht Eigentum; dies ist der Sinn der Feudalordnung der Germanen und des sogenannten Kommunismus der Russen. Von hier aus finden wir denn den ersten Zugang zum Verständnis der Erdgründe des Ur-Männlichen. Auf der gleichen Ebene wie das Weibliche differenziert die Ur-Angst vertritt, vertritt das Männliche differenziert den Ur-Hunger. Hunger an sich nun kennt keine Grenze, außer derjenigen der Selbstvernichtung. Daher riskiert Hunger von vornherein und steht damit im Gegensatz zu jedem Sicherheitsstreben. Damit erweist sich der Hunger freilich als das ursprünglich-entsprechende Verkörperungsmittel der geistigen Freiheit, welche bewusster Wille zum Risiko, und der geistigen Eroberung, welche Verstehen und schließlich Durchgeistigung ist. Aber in der Unterwelt gibt es keine Freiheit. So steht hier dem reinen Sicherungsbedürfnis der reine Hunger gegenüber.

So findet sich der spätere Kampf der Geschlechter dort schon vorgebildet, wo es noch keine Geschlechter gibt. Schon in der Unterwelt tobt immerwährender Kampf zwischen Hunger und Angst; ein dauerndes und harmonisches Gleichgewichtsverhältnis zwischen beiden ist undenkbar. Wo nun noch so dämmerndes Bewusstsein und noch so geringe geistige Initiative dieses Urwalten spiegelt und richtet, da übersteigert es sich. Sicherung fordert Zusammenhalten; übersteigert wird dieses zu Geiz, dessen Grenze Selbsterstickung ist. Insgleichen muss Leben immer wieder Hunger spüren, um fortzuwachsen, und damit setzt es nimmer rastendes Mehr-Haben-Wollen. Doch übersteigert wird dieses zur alles verschlingen-wollenden Habsucht, deren Grenze die Selbstverschlingung ist. Dementsprechend ist die menschliche Urgeschichte, wie sie auch alle Mythen übereinstimmend schildern, in ihren untersten Motiven ein Krieg zwischen Habsucht und Geiz. Und alle Sage weiß davon zu berichten, dass nicht der Mann ursprünglich besaß: er war der Ur-Eroberer; Ur-Besitzrecht eignete dem Drachen oder dem Zwerg. Folgerichtig ward dieser allemal erschlagen, denn damit erst ward der Mann zum Herrn der Schöpfung. Aber andererseits wusste auch schon die Ur-Sage vom Fluche der Habsucht. Das geraubte Gold rächt sich am neuen Besitzer, wie das unterlegene Weib am Manne, indem es ihn in Fesseln schlägt.

Diesen Ur-Zusammenhang verdeutlicht klarer als alle Mythe ein Ereignis naher Geschichte: der Verlauf der Conquista Südamerikas. Und den genauen und notwendigen Kontrapunkt zu ihr verkörpert die Entwicklung der Vereinigten Staaten Nordamerikas. — Die Spanier des heroischen Zeitalters waren Männer in einzig dastehender Übertriebenheit. Sie waren keine Patriarchalen, als welche sie auch Ordnung und damit Sicherheit hätten vertreten müssen, sondern so extreme Männer, wie sie nur dort gedeihen, wo die Frau in ihrem Kreise souverän nach dem Rechten sieht: Abenteurer, Spieler, Eroberer, zuchtlos, tollkühn, phantastisch, verschwenderisch, unverantwortlich und unersättlich. Ihnen fehlte jedes Sicherungsbedürfnis. Dafür beseelte sie nie dagewesene Habsucht. Schon der edle Cid war in seiner Beutegier schamlos wie ein kleines Kind. Um sein Fähnlein, welches später Ungeheuerliches an Heldenmut und zähem Durchhalten leistete, zum Zug nach Peru zu bewegen, rief Pizarro:

Vor euch liegt Peru und der Reichtum, hinter euch Panama und die Armut: was ein rechter Castilier ist, der weiß, was ihm besser frommt!

Diese Gier war gänzlich unökonomisch; sie war einfach Urwille zum Raub. Doch insofern sie Wille zum Raub des als Wert erkannten war, beseelte den Ur-Hunger ein geistiges Motiv. Hieraus folgt, dass das spanische Eroberertum zwei Wurzeln entspross: zuunterst dem blinden und unersättlichen Ur-Hunger, zuoberst der schöpferischen Phantasie, welche Werte erkennt und schafft. Naiver Phantasie muss widersinnig erscheinen, dass ihr vorgestelltes Ziel nicht mit der Vorstellung selbst schon erreicht sei. So wählt sie den kürzesten, der Zauberei am nächsten stehenden, das heißt die geltenden Gesetze durchkreuzenden Weg zu ihm: den Weg der Gewalt. Nichts verabscheut sie so sehr, wie das Rechnen mit jenen Gesetzen, das man Arbeit heißt.

Wo Ur-Hunger allein waltet, da spricht man vom gemeinen Dieb. Herrscht indessen Einbildungskraft souverän, dann ersteht die sublime Gestalt des edlen Räubers, welcher deshalb das Ur-Ideal aller unverbildeten Jugend ist. Die Conquistadores nun waren weder gemeine Diebe noch auch edle Räuber: sie waren eine Synthese schöpferischsten Dichtertums, welches durch Geist alle Tatsachen bewältigt, und erdnächster Habsucht. Diese Spannung wirkte sich in ihrem Schicksal aus. Die Conquistadores vollbrachten schier übernatürliche Wundertaten. Doch alle endeten elend — nicht bloß arm, wie die meisten echten Soldaten, deren Sinnspruch wie gewonnen, so zerronnen ist. Und Spanien verarmte mit ebenso übernatürlicher Geschwindigkeit am eingeführten Gold. Doch dieses schlechte Ende war nicht die Endlösung: vom Alberich-Fluch — ein drittes Wunder — blieb nichts am spanischen Menschentum haften. Trotz aller Greuel der Eroberer und Besiedler ist in Südamerika keine Drachensaat des Hasses aufgegangen, und Spanien vertritt heute die edelste Menschlichkeit, die in Europa lebt. Nun aber kommt der vollends wunderbare Kontrapunkt die ersten Besiedler Nordamerikas waren keine Räuber, sondern fromme Männer, welche ein Gottes-Reich auf Erden gründen wollten. Seither aber entmenscht sich diese Menschheit unaufhaltsam zu einem Fafner, der da grunzt: ich liege und besitze.

Wie hängt das alles zusammen?
Hier reichen die Wurzeln von Ur-Angst und Ur-Hunger unmittelbar ins Mineralische hinab. Hier leuchtet andererseits, von der dunklen Erde her gesehen, zum erstenmal der Sinn des Lichts des Geistigen auf.

Insofern die Conquistadores zuunterst einseitige Verkörperungen unersättlichen Ur-Hungers waren und kein Besitz-Instinkt als Wille zur Sicherung ihn begrenzte, mussten sie sich schließlich selbst verschlingen. Doch was sie letztlich wollten, war nicht beliebige Beute, sondern Gold. Das Gold nun ist das Ur-Sinnbild des Werts; und aller Wert ist geistig. Ohne Zweifel haben die Altertumsforscher recht, die diese Übertragung auf die Urvorstellung zurückführen, dass Gold flüssige Sonne sei — die Sonne aber ist Urbild des göttlich und damit geistig Schöpferischen; eben deshalb das typische Suchen danach im Westen. Rein beseelte diese Vorstellung den Kult des Goldes der Inkas, denen es wirtschaftlich nichts bedeutete. Aber auch in den Spaniern, einem gleichfalls uralten Volk, wirkte die Urvorstellung entscheidend mit; die Inkas konnten sich ihr ekstatisches Verhalten vor dem materiellen Gold nur so erklären, dass das Gold ihr Gott sei. Doch zu der Urvorstellung, dass Gold flüssige Sonne sei, tritt überall, wo es überhaupt in praktischem Zusammenhang Bedeutung gewinnt, alsbald ein zweites Motiv hinzu, welches die Sonderstellung des Goldes-Werts befestigt. Es ist ein schlechthinniges, von den Ur-Trieben her überhaupt nicht verständliches Wunder, dass mit Gold andere Werte einzuhandeln sind, zumal lebendige Menschen; ungläubig staunten die Inkas, als sie diese Möglichkeit bei den Spaniern zuerst verwirklicht sahen. So symbolisiert das Gold nächst der lebenspendenden Sonne, dem Urbilde des Überirdischen und damit des transzendent Geistigen, richtige Zaubermacht — und es bedeutet eine Wiedergeburt dieses Primordialen, wenn Millionenbesitz in Nordamerika einen gewöhnlichen Menschen in einen großen Mann verwandelt.

Doch nichtsdestoweniger ist Gold ein Mineral. Wo nun das Mineral als höchster Wert gilt, passt sich das Wertbewusstsein unwillkürlich, zwangsläufig, den Normen des Toten an. So findet eine Rückübertragung statt. Der Enderfolg ist der, dass die Verehrung des Goldes allen Wert vom Gold bestimmt werden lässt. Hieraus aber ergibt sich jener wahrhaft tragische Zirkel, den man den Fluch des Goldes heißt.

Denn nun bestimmt der Geist des Un- oder Vorlebendigen. Ur-Hunger ist unersättlich, jedoch er findet, ins Eigengesetz jeweiligen Lebens einbezogen, seine normale Grenze. Der Gold-Hunger hingegen ist wesentlich unersättlich. Das Fressen hat seine Grenze am Ekel, das Saufen an der Verblödung, Machthunger am Aufhören alles Widerstandes, sexuelle Unersättlichkeit an der Impotenz. Wie aber soll Goldhunger je aufhören? Da ist überhaupt keine Grenze abzusehen, denn Assimilierung ist unmöglich, und das Gewonnene zerrinnt als Gold, so oder anders, sobald es überhaupt verwandt wird. So wird die Gier zwangsläufig unendlich wie der Weltenraum. Und da hier auf Menge als solche alles ankommt, und zwar auf Menge des Un-Lebendigen, so übernimmt die Seele unaufhaltsam, unentrinnbar das Gesetz der toten Quantität. Sie entmenscht sich nicht allein, sie enttiert sich; es tritt Remineralisierung ein. Daher die kalte Grausamkeit der sonst so warmen Spanier zur Zeit ihres Goldrauschs. Daher das kalte Rechnen moderner Financiers. Kälte ist die Eigen-Wärme des Metalls.

Bleibt nun der Eigen-Geist des Ur-Hungers bestimmend, dann erfolgt, früher oder später, Selbstzerstörung, und damit nimmt die Herrschaft des Toten ein natürliches Ende. Dieser natürliche Prozess war Spaniens Glück. Spaniens Habsuchts-Karma hat sich ausgelöscht. Anders steht es, wo der Geist des Ur-Hungers in den der Ur-Angst umschlägt und einmündet und sich als solcher metallisiert. Dann schlägt Besitz in Besessenwerden um. Besessenwerden nun kennt kein natürliches Ende. Dann entsteht unaufhaltsam, dann verfestigt sich uneinnehmbar eine Welt völlig undurchlässiger Sicherung. Und erstarrt die Sicherung ihrerseits zu Geiz, dann verhärtet sich die ganze Seele zum Mineral. Dieses Schicksal ist der Weg der heutigen Vereinigten Staaten Nordamerikas. Denn bei ihnen bestimmt der Geist des sicherungsbrünstigen Weibes immer mehr, und immer weniger der Geist des abenteuernden Mannes.

Dieser Weg wird Nordamerikas Schicksal bleiben, bis dass dort Menschenwert wieder mehr gelten wird als Goldeswert. Das Gold, welches flüssige Sonne bedeutet und somit Geist versinnbildlicht, zieht als Tatsache verehrt den Menschen, welcher ihm verfällt, in die unterste Unterwelt zurück. Das ist das Urbeispiel der Verführung. Der Wille zur Sicherung verhärtet sich in seiner primordialsten Form, in der Form vollkommener Gefühllosigkeit. Der Ur-Hunger wird satt an vollendeter Selbstverschlingung. Und in der Ohnmacht des lebendigen Menschen vor dem Gold erlebt die Ur-Schwäche des Lebens eine schaurige Wiedergeburt.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
II. Die Ur-Angst
© 1998- Schule des Rades
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