Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der Mensch aus kosmischer Schau

Sinnerfüllung

Über das Leben. Dies hat meines Wissens bisher nur einer verstanden: Georg Simmel in den letzten Wochen seines Erdendaseins, da er mit dem Tode rang, den er so bewusst erwartete und durchlebte, wie kein mir bekannter Mensch und mit dem ich während der letzten Wochen seines Erdendaseins in dauerndem Kontakt stand. Ich nenne ihn allein, denn hier handelt es sich um Wirklichkeitserleben, um Erkenntnis im Sinne des Buddha, nicht um die bloße erkenntniskritische Distinktion, die heute viele Denker, so oder anders, vertreten. Nicht nur die Klages’sche, noch die Schelersche Scheidung liegt diesseits dessen, was Simmel damals meinte. Er meinte etwas, was nur einer, dessen Bewusstsein über die Erdengrenze schon hinaus ist, wissen kann. Das tiefste Erlebnis des Tiefen führt in der Tat über das Leben hinaus. Leben ist unmöglich anders als erdgebunden zu verstehen; was immer man sonst darüber aussagen mag, beruht auf wesenloser Verstandeskonstruktion. Allein nicht nur der seltene ganz tief verinnerlichte Geist, schon die Sprache, jener ursprünglichste und unmittelbarste Sinnesausdruck, den wir besitzen, weiß die Wahrheit. Sie sagt: man hat, man lässt sein Leben. Und schon die frühesten und unreflektiertesten Menschen lebten, so sie echt waren, die Wahrheit: das Leben ist der Güter höchstes nicht. Alle geistigen Werte sind in der Tat für den seiner tiefsten Wirklichkeit Bewussten ein Realeres und Wesenhafteres als das Leben. Gewiss handelt es sich da nicht um die Sachen an sich, die man Werte heißt und die meist kläglich missverstanden und in den Dienst niedrigster Interessen herabgewürdigt werden; so berechtigt die erkenntniskritische Unterscheidung zwischen Persönlichem und der Sonder-Wesensart des Geistigen sei, so sehr dieser insofern Unpersönlichkeit zukommt (dies hat jüngst besonders scharf Ortega y Gasset vertreten) — bei dem, worauf es hier ankommt, handelt es sich um die ratio essendi, die Wurzel des Seins, keine ratio cognoscendi, und nur die ist von wissenschaftlicher Einstellung her allenfalls erfassbar. Aber man meint diese Sachen auch gar nicht. Man stammelt nur von ihnen, weil man’s nicht besser zu sagen weiß. Doch stammeln wenigstens muss man, weil man das eben ist, was man eigentlich nicht versteht.

Der Sinn alles Werte-Glaubens ist der, dass man, indem man sein Leben opfert, am meisten seine Persönlichkeit bejaht. Das dies nicht Theorie oder Aberglauben ist, erhellt unmittelbar aus der Wirkung: entweder am inneren Wachstum des Betreffenden oder aber an der historischen Wirkung. Hier ist der Ort, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es keinen anderen Wirklichkeits- sowohl als Wesenhaftigkeitsbeweis gibt als eben den der Wirkung; der logische Beweis ist völlig unzulänglich, denn dieser erhärtet nie mehr als Denkgemäßheit, und diese beweist Wirklichkeit nur auf beschränktem Gebiet. Jeder Bedeutende oder Tiefe hat gewirkt. Sonst wüßten wir nichts von ihm. Tat er’s erst nach seinem Tode, so liegt das an jedesmal erklärbaren besonderen Umständen, die in oder außer ihm lagen, je nachdem. Deshalb bedeutet die fanatische Ableugnung der Beweiskraft der Wirkung, die einem so oft begegnet, nie anderes, als Ressentiment­heldentum und Ohnmachts­demonstration und die Wirkungsfeindlichkeit gewisser Stiller im Lande, die sich hinter dem Satz verschanzen, Wirkung habe mit Wahrheit nichts zu tun, nie Besseres als Hinterhältigkeit: gerade die Mitweltsverächter spekulieren am stärksten auf die Nachwelt. Doch genug hiervon. Wir leben nachweislich, ob wir’s verstehen oder nicht — und tatsächlich ist es zu verstehen ganz unmöglich — aus einem Jenseits des Lebens heraus. Und eben dieser Umstand ermöglicht die kosmische Schau. Wahrscheinlich ist die Unsterblichkeit, absolut genommen, ein Unbegriff. Jedenfalls ist das allermeiste am Menschen, das allermeiste gerade des Seelischen, auf dessen Fortdauer er hofft, ganz gewiss rein irdisch und insofern vergänglich. Was allein wahrscheinlicherweise auf Unsterblichkeit Anspruch erheben kann, habe ich auf S. 261 von Wiedergeburt gezeigt.

Dass wir nun unseren Grund tatsächlich in einem Jenseits dessen haben, was allein man als vergänglich begreifen kann, also insofern einem Jenseits des Lebens, erweist abschließend, wie mir scheint, die folgende Erwägung. Das Leben ist wesentlich zeitlich. Jeder Wert, der dem Leben allererst seinen Sinn gibt, jede Geistesschöpfung gehört demgegenüber, als Inhalt, — denken Sie wieder an Schelers Gegenstandsbegriff — dem Bereich des Zeitlosen an. Das tiefste Selbst des Menschen ist zeitlos. Man wird wesentlich nicht älter mit den Jahren, man wird jünger, sofern der Geist in einem dominiert. Was Jesus von sich sagte: ehe denn Abraham war, bin ich, gibt evidentes Erleben jedes überhaupt Geistbewussten wieder. Das Leben ist wesentlich nicht Ablauf, sondern Sinnerfüllung. Dies allein erklärt die Permanenz des Ichbewusstseins durch allen Zustandswechsel hindurch. So sind wir letzten Grundes als Sein und Wesen unabhängig nicht allein vom Gehirn, das allein freilich begreifen kann, sondern auch vom Leben. Was die Begriffe des Sollens, der Werte betreffen, ist schon kein Leben mehr. Es ist ein über-Biologisches. Und damit ein Überirdisches. So sind wir als Urgrund ohne jeden Zweifel über den irdischen Flutungen erhaben.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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