Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der sich wandelnde Planet als Einheit

Zeitgeisteinheit

Der gleiche unbedingte Zusammenhang des planetarischen Daseins, der für den Raum besteht, besteht auch in der Zeit. Wieder beginne ich hier mit meinem persönlichen Erleben, denn nur dessen Vorhandensein gibt mir das Recht zum Reden. Den Weltkrieg spürte ich lange vorher kommen, ganz unabhängig von den äußeren Ereignissen, die ich gar nicht genau verfolgte; er lag einfach in der psychischen Luft; das Unbewusste aller Völker trieb dieser Krise zu. Während des Krieges konnte ich nichts Geistiges tun, denn es erschien mir sinnlos. Kaum aber begann die neue Zeit, da wusste ich, was ich nun zu tun hatte. Und gerade an dieses hatte ich nie vorher gedacht. Und das, was so spontan mir einfiel, fiel gleichzeitig allen begabten und der Zukunft zugewandten Zeitgenossen in irgendeinem Sinn, in irgendeiner Variante ein. Alle Zeitgenossen hängen eben innerlich zusammen, ob sie es wissen oder nicht. Jeder versteht ja auch allein den anderen, der das ausspricht, was er schon unbewusst weiß. Weil der führende Geist den anderen um eine kurze Wegstrecke voraus ist, deshalb allein kommt die Nachwelt mehr als die Gegenwart für ihn in Frage. Gleichsinnige neue Probleme stellen sich gleichzeitig jedermann. So sind Fascisten, Kemalisten, Bolschewisten eines Geistes Kinder. Der Weltkrieg war recht eigentlich ein Kampf der Zeitgeister. In ihm fiel recht eigentlich der verjährte. Nur siegte ein ganz neuer, den Kämpfenden vorher gar nicht bewusster; zumal die siegreichen Völker befanden sich in der Lage von Glucken, die Enten ausgebrütet hatten. So ist das Grundgesetz alles historischen Lebens der Kairós. Jetzt oder nie. Nur einmal war die historische Wirkung eines Christus möglich, nur einmal die Reformation. In unseren Tagen hat die Psychoanalyse ihre nie wiederkehrende Weltenstunde. Dementsprechend weiß jeder Große und Tiefe, ob seine Stunde gekommen ist oder nicht, und richtet sein Wirken danach. Nur der Oberflächliche verkennt um des Ewigkeitswertes willen das Weltgesetz des Kairós.

Doch da, wie wir vorhin sahen, die Raumeinheit, der Topos, ein ebenso Wesentliches darstellt wie der Kairos, so ist die Geschichte einmalig in jedem Sinn. Jedes Ereignis ist durch einmalige Raum-Zeit-Koordinaten zugleich zu bestimmen. Und das Gesetz des Topos wird seinem Sinne nach von dem von Hause aus einleuchtenden des Kairós seinerseits verständlich. Nur an bestimmten Orten kann zu bestimmter Zeit Bestimmtes werden. Nur in Palästina konnte die christliche Ära beginnen, nur in Deutschland und Russland die neue. Chinesen und Inder rechnen mit einer Menschengeschichte von Jahrmillionen, wo die Mittelmeervölker nur an Jahrtausende denken. Wahrscheinlich haben beide recht. Das Menschengeschlecht kann an den Rändern des alten Gondwana-Kontinents gewiss auf längere Zeiträume zurückblicken als um Europa herum. Und dementsprechend müssen die ältesten Überlieferungen anderes künden. Der Mensch nimmt eben am Planetenwerden in seiner sich wandelnden Ganzheit teil und kann sich von ihm, als historisches Wesen, nicht loslösen.

Das Jetzt und Hier ist also Gesetz des ganzen Erdenwerdens, nicht allein des Lebens. Dieses lebt ja einerseits aus eigenem Recht. Aber der Rhythmus seines Daseins hängt seinerseits überall von planetarischen und kosmischen Rhythmen ab. Ich begann mit dem, was wir moderne Menschen als Gesamtsituationen erleben können, denn nur von dort her ist konkretes Erleben möglich. Dabei aber setzte ich beim Psychischen an. Warum? Weil alles Erleben zunächst psychisch ist; jede Einbildung ist als solche ein Erwieseneres als jeder noch so sicher festgestellte materielle Tatbestand an sich. Dann aber, weil der unauflösliche Zusammenhang alles planetarischen Daseins vom Psychischen her am besten einleuchtet. Jeder scheint wohl denken und wollen zu können, was er mag. In Wahrheit will aber jeder, der nicht seinen eigenen Untergang anstrebt, das Orts- und Zeitgemäße, einfach weil er leben will und es kein Erdenleben gibt außer in Funktion des Jetzt und Hier. Hierzu bietet der deutsche Dollarglaube zur Inflationszeit das klassische Beispiel. Wie sich andere Völker nach dem Auf- und Untergang der Sonne richten, so lebten damals alle Deutschen instinktiv auf den steigenden oder fallenden Dollar hin. Primitive Triebe beherrschen letztlich eben auch den Menschen, weil sie allein ihn in der Erde verwurzeln. Das Gesetz des Jetzt und Hier erklärt, warum der Emigrant nie angepasst ist, und deshalb immer von der Geschichte widerlegt wird, so absolut recht er habe, wo der am Ort Verbliebene sich trotz aller geistigen Überzeugung selbstverständlich dem Zeitgemäßen anpasst. So hörte ich jüngst von einer vornehmen Russin, die Emigranten schrieb, sie müsse doch auch einmal herauskommen: sonst vergäße sie am Ende ganz, dass ein anderer wie der sowjetrussische Zustand möglich ist. Mit dem Gesetz des Topos und Kairós hängt auch zusammen, warum nur der repräsentative Geist historisch hochkommt. Bei der Zeitgeisteinheit handelt es sich um ein so unbedingt Bestimmendes, dass die Archäologie von je von Formgleichheit auf Gleichzeitigkeit rückschließt, entweder im buchstäblichen oder im Spenglerschen Sinn.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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