Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der sich wandelnde Planet als Einheit

Erdgeschichte

Damit gelangen wir denn zur Geologie, zur Betrachtung der Faunen und Floren der Vorzeit. Die Folge der geologischen Epochen ist in der Tat völlig eines Sinnes mit der der historischen Zeitgeister. Genau wie hier erscheinen die Zeiten auch dort durch die Sonderart der bestimmenden Typen charakterisiert. Auch die Formationen sind, von außen her beurteilt, Raum-Zeit-Einheiten und an sich Stileinheiten. Auch hier ist es die Abhängigkeit des Lebens von allgemeinen Verhältnissen, die bedingt, dass das Zeitgemäße dominiert. Das Nichtzeitgemäße ist zunächst noch da, aber spielt keine Rolle, so wie es heute noch Menschen des Mittelalters, der Reformation, der Wilhelminischen Ära gibt, die aber nicht mehr zählen; allmählich stirbt es aus, weil es immer seltener neu entsteht. Die Gründe dieses Aussterbens sind, da es sich bei jedem Sonderzustand um den Sonderausdruck einer total-planetarischen Situation handelt, immer hundertfältig. Einerseits bestimmen innere Gründe: zu irgendeiner Zeit erscheint die Lebensfrist ganzer Arten, so wie es jeder von Familien her kennt, erschöpft. Was aber die äußeren Gründe betrifft, so entscheiden wohl die einfachsten. Die Vorweltriesen starben vor allem wohl deshalb aus, weil ihr Unterhalt auf die Dauer zu teuer zu stehen kam, so wie die Mono- die Polygamie allein deswegen überall mehr und mehr ersetzt, weil es den meisten zu teuer ist, so gern sie möchten, mehrere Frauen zu erhalten. So lässt sich die Erdgeschichte in einige Grundzeitalter aufteilen. Es sind die des bestimmenden Knorpelfisches, des Amphibiums, des Reptils, des Beuteltiers, zuletzt des Säugetiers. Wahrscheinlich lebten alle Typen zusammen zu aller Zeit — bei der großen Zufälligkeit des Erhaltenseins von Überresten ist hier Entscheidung unmöglich — doch es bestimmte immer das Zeitgemäße. Und zeitgemäß war jeweils das dem sich wandelnden Gesamtzustande des Planeten Entsprechende. Um wie große Unterschiede es sich hier handelt, kann der heute nacherleben, der sich mit ganzer Seele in das Dasein einer Pflanze oder auch eines Seehundes, dieses dem Menschen einerseits so nahen Geschöpfes, das aber im Wasser lebt, wie wir in der Luft, hineinversetzt.

In der dampf- und kohlensäuregesättigten und daher lichtarmen Treibhausluft der Steinkohlenzeit konnten nur Pflanzen und Amphibien eine andere als klägliche Rolle spielen. Jede Fauna und Flora erfordert zu ihrem Gedeihen ein bestimmtes Allgemeinmilieu. Von diesem hängt sie physisch absolut ab. Deshalb gehen die ganz großen Veränderungen auf Erden gewiss auf planetarische und kosmische, nicht in der Eigengesetzlichkeit des Lebens wurzelnde Einflüsse zurück. Wie beschaffen die Zeiten waren, da die Riesenvorweltgeschöpfe entstanden und gediehen, kann man heute noch in Nordamerika nachfühlen. Dort wachsen noch Bäume von phantastischer Größe (die Sequoia gigantea), dort beherrscht das Quantitative sogar das Geistesleben; dort fällt einem schwer rein Geistiges ein. Aber auch Amerika entspricht jenen Zeiten nur noch vom Standpunkt des Topos, nicht mehr des Kairós. Die Sequoias wachsen im berühmten Sequoiahaine nicht mehr wieder. Nur als auf normales Maß reduzierte Wellingtonia kommt ihr Same anderwärts hoch. Die Vitalität der Luft bewirkt nur Betriebsamkeit, nicht wirkliche Kraft. Der Amerikaner ist sexuell und erotisch schwach. Wie die tellurisch-kosmischen Veränderungen wandelnd auf das Leben wirken, dazu bietet die moderne Hormonlehre den ersten, wenn auch zunächst nicht mehr als die erste Tür des Vorhofs öffnenden Schlüssel zum Verständnis: es ist eine Frage der inneren Sekretion, ob Riesen oder Zwerge entstehen. Und von den Stoffen, welche die betreffenden Drüsen ausscheiden, zu chemischen Einflüssen im allgemeinen führt stetiger Übergang; sonst könnten nicht Hormonpräparate wirken.

Soweit das Leben chemisch erklärbar ist, sind die Umwelteinflüsse jedenfalls die wichtigsten. Und sehr vieles an den Lebenserscheinungen ist chemisch erklärbar: der Ochse ist unter anderem ein chemisch anderes als das Schaf. Der veränderte Chemismus des Milieus wirkt auf die Larven niederer Tiere wandelnd ein. Bei einigen können Salze geradezu das männliche Prinzip ersetzen. Männliche Daphniden verwandeln sich zu weiblichen und umgekehrt, je nach den Ernährungsverhältnissen. Je aktiver nun der Erdeinfluss, desto mehr musste er vermögen. Noch heute wohnt vulkanischen Gebieten besondere Tugend inne. Ich zweifle nicht daran, dass der Gesamtkörper der Erde in ältester Zeit ganz andere Kräfte ausstrahlte als heute. Hier kann ich eine Wegstrecke lang mit Dacqué gehen, der aus den ältesten Sagen das unmittelbare Erleben einer heute nur wenig mehr spürbaren Naturdämonie erschließt. Jedenfalls: wer heute noch wirklich die Atmosphäre des Urwalds, der Wüste, des Weltmeers erlebt, der kann ermessen, was kosmische Einflüsse einstmals bedeutet haben mögen. Wenn Medikamente wirken, wenn Bäder vitalisieren, dann mögen die großen Katastrophen reine Wunder ausgelöst haben. Heute gibt es einen kosmischen Einfluss, dessen bildende Kraft jeder nachprüfen kann. Das ist der der Großstadt. Sie verändert den Zugezogenen in kürzester Frist. Die Kinder werden ganz anders, als sie auf dem Lande aufgewachsen geworden wären. Und offenbar gehört die Großstadt, als äußerer Einfluss betrachtet, in die Reihe der kosmischen, obgleich der Mensch sie schuf. Aus jedem veränderten oder zerstörten Gleichgewicht geht nun früh oder spät ein neuer Gleichgewichtszustand hervor, in dem die Gesetze des Topos und des Kairós einen neuen einheitlichen Gesamtzustand regieren. Bis dieser erreicht ist, regiert das Gesetz der Katastrophe. Von hier aus begreifen wir denn, was der Krieg, planetarisch beurteilt, bedeutet. Wo die Selbstregulierung der Natur in Form von Seuchen, Hungersnot, natürlichem Geburtenrückgang u. ä. versagt, muss freier Wille eingreifen. Das übermächtig- oder überzahlreich-Werden bestimmter Völker ist da genau so zu beurteilen wie Maikäfer- und Heuschreckenjahre.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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