Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der erdbeherrschende Geist

Angst vor der Verantwortung

Wir müssen in das Jenseits des Geists hinabtauchen, sagten wir: in Wahrheit müssen wir ins Jenseits des Bewusstseins, und damit ins Jenseits des eigentlich Menschlichen hinabtauchen. Und damit gelangen wir über die bisherigen Bestimmungen hinaus zum Begriff des Schöpferischen, auseinandergelegt in die Prinzipien des Befruchtenden und des Empfangenden. Hier sei noch einmal auf Scheler zurückgegriffen. Ich sage auch hier nichts gegen die Theorie der Machtlosigkeit des Geists. Der Zeugungsakt, der das Wunderbarste zur Folge hat, ist keine Machtentfaltung. Mir scheint der Begriff der Potenz, in der Tat, einem ähnlichen Missverständnis zu entspringen, wie der von der göttlichen Allmacht. Aber wesentlicher als alle entsprechende Theorie ist, dass es so etwas wie ein Schöpferisches und ein Empfangendes gibt. Mit diesen Begriffen hat bisher ausdrücklich nur China operiert: sehr verständlicherweise, denn nur China ging grundsätzlich primär von der Fragestellung des Zusammenhangs von Mensch und Erde aus. Aber letztlich entspricht der chinesische Begriff durchaus dem, was unseren eigentlichen Naturbegriff macht. Erst dem späten Intellektmenschen ist die Natur ein Unlebendiges geworden. Dem unbefangenen Auge früherer Zeiten erschien sie als ein Lebendiges, bald als göttlich, bald als dämonisch empfunden und gedeutet. Und unter allen Umständen entspricht dieser Begriff allein der Wirklichkeit, der Wirklichkeit, die unser Mittelalter als natura naturans im Unterschied von der natura naturata bestimmte. Hier dachte das 19. Jahrhundert vollendet oberflächlich. Wie konnte es nur in der Entwicklung ein Letztes sehen? Diese ist doch nur eine ablaufende Erscheinungsfolge, keine gestaltende Macht. In bezug auf den wahren Sachverhalt verwendete Johannes Reinke einmal mit Recht den Vergleich, das erste Kapitel einer Erzählung schaffe doch nicht die folgenden, sondern der Erzähler schaffe sie.

Fern sei von mir nun, alles Wirkliche als lebendig zu proklamieren. Auf der Ebene der Erscheinung, nach menschlichen Begriffen bestimmt, ist die Materie als solche zweifellos unlebendig. Aber wir verstehen unter Natur ursprünglich eben den Zusammenhang von Leben und Leblosem. Und da der Tod immer nur Ende, unmöglich Anfang und Ursprung sein kann, so können wir eine Synthese von Lebendigem und Unlebendigem unmöglich anders als lebendig denken. Kein Lebendiges ist je aus Totem abzuleiten, ebensowenig wie Sinn aus Un-Sinn.

Insofern nun stellt das irdische Werden in der Tat einen fortwährenden lebendigen Schöpfungsvorgang dar, ein Wirken von der Gottheit lebendigem Kleid. Erinnern Sie sich der Folge der Faunen und Floren, auf die der zweite Tagungsvortrag hinwies: Sinn liegt allem Lebendigen zugrunde. Und auch Initiative liegt ihm zugrunde, denn der organische Bildungs- und Vererbungsfaktor ist gegenüber den Einflüssen der Außenwelt autonom. Und ist nicht alle lebendige Form tief sinnvoll, so sinnvoll, wie es nur je ein erhabenstes Kunstwerk war? Liegt nicht tiefster Sinn jedem Heilungs-, jedem Höherentwicklungsvorgang zugrunde? Vom Standpunkt der Erde können wir nicht umhin zu behaupten, dass auch hier Geist am Werke sei. Gewiss ist es nicht Geist in dem besonderen Sinn, wie wir ihn, wenn wir von reinem Geist reden, intendieren. Hier erscheint der Geist durchaus in den Naturmächten inkarniert. Er drückt sich unmittelbar körperlich aus. Doch es gilt zu verstehen, dass in, dass trotz dieser Bindung das Eigentliche des Geists sich im Schöpferischen der Natur auf alle Fälle reiner ausdrückt als in allen nur möglichen Begriffsschematismen der Gelehrten. Diese Art Geist ist das eigentlich Schöpferische auch in uns, als irdischen Lebewesen. Und auch bei uns wirkt er vorzugsweise im Unbewussten oder durch dieses hindurch. Das meditativ Vorgestellte wird von selber wirklich, das Ersehnte, Erbetete realisiert sich irgendwie von selbst, das Opfer macht irgendwie tiefere Kräfte frei, als irgendeine Absicht vermöchte. Wenn etwas geistig ist, dann ist es solches Schöpferische, denn es ist allemal ein Jenseits der natura naturata, die allein dem modernen Naturbegriff entspricht. Ich sprach es schon häufig aus, dass des Lebens eigentliches Wesen Magie sei. Jetzt werden Sie das besser verstehen. Und Sie werden jetzt auch verstehen, warum alle Mythe von Zaubern in erster Linie redet, und nicht von natürlichem Tun in unserem Sinn. In der Tat ist Zaubern vom Standpunkt des ursprünglichen Lebens das eigentlich Natürliche. In Wahrheit liegt das Wunderbare nicht darin, dass wir zaubern können, sondern dass wir nicht oder nur in sehr geringem Grade zaubern können. Hier muss ich mich wieder an die Seite Edgar Dacqués stellen: auch ich bin überzeugt, dass der Mensch als Zauberer begonnen hat. Es ist ja gleichsam ein Zufall, dass wir uns nicht auch heute in erster Linie als Zauberer empfinden: nur eines ganz geringen Zusatzes von Bewusstsein, ja nur von Traumbewusstsein bedürfte es, damit der normale Naturprozess, soweit wir an ihm aktiv beteiligt sind, als reine Zauberei erschiene. Man male sich nur aus, was wir wohl fühlen würden, wenn das Bewusstsein auch nur im geringsten Grad dabei beteiligt wäre, dass aus Same und Ei ein Mensch würde! dass sich Heilung, Regenerierung, Mutation vollzögen! hier handelt es sich in Wahrheit um eine genau so unverständliche Zauberei wie bei der Weltschöpfung. — Aber aus diesen letzten Betrachtungen folgt nun wiederum nicht, dass wir gefallen wären, weil wir nicht mehr zaubern können; und dass Geist in menschlichem Verstand ein Unwesentliches wäre. Jede Theorie von einem Fall in absolutem Verstand, sei es in kirchlich christlichem Verstand oder in dem moderner Chthoniker-Romantik, beweist nie Besseres als Angst vor der Verantwortung, welche die Sonderstellung des Menschen diesem auferlegt. Es folgt einfach, dass eben das ursprünglich-Natürliche geistig ist. Nur eben nicht Geist in unserem Sinn, welcher Sinn ein spezifisch Menschliches darstellt vom Standpunkt der Erde. Hier liegen die Dinge genau so wie bei der Freiheit: alles Leben, als grundsätzlich von innen heraus bestimmtes Naturgeschehen, trägt den Keim der Freiheit in sich. Aber deswegen ist nicht alles Leben frei.

Dies alles gilt es genau und klar zu verstehen. Dann erst ist ein gegenständlicher Begriff von der Gegensätzlichkeit zwischen Natur und Geist zu gewinnen. Aber da gelangen wir an erster Stelle wieder zur Erkenntnis nicht der Richtigkeit, sondern der Falschheit der üblichen Begriffe. Sobald man nämlich die Scheidung bis auf die Ebene zieht, wo Geist reine Initiative und Natur natura naturata bedeutet, da erscheint alles ein für allemal Gestaltete, zur Trägheit, zur Routine Gewordene als Natur; in deren Bereich gehören dann alle festen Dogmen, alle festen Moral- und Rechtsbegriffe, alle Gewohnheiten, alle Mechanismen mit hinein, auch die der Logik des Gelehrten. Und an diesem bestimmten Punkte, in diesem genauen Verstand hat Klages allerdings recht, wenn er Geist als ein Außerhalb des Lebens, ja ein Lebensfeindliches bestimmt. Denn wo immer Mechanik herrscht, gibt es keine Schöpfung, kein Von-Selbst-Geschehen mehr, kein Geborgensein im natürlichen Werden. Aber Klages verurteilt den Geist überhaupt. Dies kann er nur deshalb tun, weil er verkennt, dass das Leben an sich ein metaphysisches Prinzip ist, dass alle Schöpfung reine Zauberei nach dem Vorbilde dessen ist, dass die an sich machtlose Vorstellung trotzdem Wirklichkeit schafft, und dass die natura naturans als chthonisches Phänomen genau so unbegreiflich ist, wie der reinste Geist. Klages hat also nur an der Oberfläche recht1. Im tiefsten ist alles Leben Geist, weil Sinn. Dennoch haben wir ein absolutes Recht, zwischen Natur und Geist zu scheiden. Und hier nun bin ich in der glücklichen Lage, anstatt mich selbst zu bemühen, durchaus auf die so klaren Ausführungen Max Schelers hinweisen zu können. Im Menschen wird der Geist nicht allein in seiner Naturverquickung, dank welcher der Materie und der erdbedingten Psyche das Übergewicht bleibt, sondern in seinem Für-sich-Sein bewusst und wirksam. In einer seiner Schriften hat Scheler das Wesentliche, was die Sonderstellung des Menschen macht, prägnanter noch bestimmt als in seinem Tagungsvortrag; deshalb erlaube ich mir, den betreffenden Satz zu zitieren:

Die Scheidung zwischen Mensch und Natur besteht nicht in der zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen Lebewesen und Geistwesen, zwischen Organismus und Person.

Im Menschen tritt das Geistige, in der Tat, nicht mehr in natürlicher Verkörperung in Erscheinung, sondern als ein Selbständiges, und eben deshalb personal. (Von welcher Erkenntnis her wir allerdings eine standpunktbedingte und insofern nicht absolut richtige These von Schelers Vortrag würden ergänzen müssen: nicht im Sachlichen liegt das eigene Wesen des Geists — der lebendige Geist ist vielmehr wesentlich persönlich — sondern als sachliche Wirklichkeit im Unterschied von der lebendigen erscheint er nur dem Erkenntniskritiker).

Wie ich in meinen Schriften immer wieder betont und nachgewiesen habe, ist die Dimension des Geistes die Einzigkeit und sie allein. Daher denn das Pathologische, das seit dem Sündenfall in immer steigendem Maß für den Menschen als Menschen charakteristisch ist. Der Mensch fühlt sich grundsätzlich zwei Welten angehörig; und da alle Macht bei der Natur ist und aller erkannte, ob auch nicht aller anerkannte Wert im Geist wurzelt, so ergibt dies eine große geistige und moralische Unsicherheit, und auf der physischen Ebene Krankheit. Kein Mensch ist so instinktsicher wie das Tier. Aber auch nur der seltene Ausnahmemensch verkörpert vollbewusst das Eigengesetz, die Eigen-Ordnung des reinen Geists. Denn um dieses zu vermögen, muss er ja durchaus durchgeistigt sein, nicht nur in seiner erdbedingten Psyche, sondern auch als Körperlichkeit. So ist er wesentlich unmoralisch, was von keinem Tiere gilt. Er verkennt grundsätzlich das wahre Verhältnis von Natur und Geist. Liegt der Schwerpunkt bei ihm in jener, so überbetont er sie, die Triebe leben ein zuchtloses Eigenleben, er wird Materialist, was wiederum von keinem Tiere gilt. Ist er geistig, so überschätzt er typischerweise die Welt des rein Gedanklichen; er sieht dann das Abstrakte als das Realere an. Immerhin weiß jeder Mensch in seinem tiefsten Innern, und das unterscheidet ihn von allen anderen Wesen, dass sein Urgrund im reinen Geist liegt; nur deshalb hat jeder nicht verbildete Mensch in irgendeinem Sinn Religion. Er weiß, dass sein Ursprung metaphysisch ist. Deshalb fühlt sich der Mensch von jeher, seit er sein mythenbildendes Stadium überwand, in erster Linie nicht von natürlichen, sondern von geistigen Bindungen bedingt. Seinen wahren Grund findet er nicht in der Natur, sondern in dem, was er Gott heißt. Und damit spaltet sich für ihn die Schöpfungs-Einheit, die noch der Urmensch als solche erlebt. Die Natur dünkt ihn geistfeindlich. Nun klafft ein Abgrund zwischen Dämonie und Göttlichkeit. Und dieser erscheint desto breiter und tiefer, je toter die Natur empfunden wird. Nun stehen die ethischen Gebote, die jeder in seinem Herzen wirksam fühlt, in schroffer Gegensatzstellung zu allen Naturwünschen. Nun herrscht ein Widerstreit zwischen ästhetischem Ideal und gegebener Wirklichkeit. Nun heißt es: hie Triebverfallenheit, hie Erlösungssehnsucht. Und da der Mensch seinen wahren Ursprung im Geiste fühlen muss und zugleich nicht leicht erkennt, dass es nur Sache seiner Freiheit ist, Natur und Geist zu versöhnen, indem dieser von jener ganz Besitz ergreift, so fühlt er sich auf Grund dieses Erlebens — denn überall beim Menschen entscheidet das Psychische letzthin — wirklich abgelöst von der Natur. In seinem heutigen Stadium bedarf er gar der Psychoanalyse, um sich seiner Triebgrundlagen bewusst zu werden. Aus der Einseitigkeit der Ethos-Betonung des Zeitalter vorherrschender Intellektualität sucht der Mensch sich dadurch zu retten, dass er nun ebenso einseitig das chthonische Pathos betont. Da ging ein Klages-Schüler, in der Verzweiflung seines geistigen Nihilismus, einmal sogar so weit, nur noch den Geist der Irren für echt zu erklären. Und darin ist Klages recht zu geben: findet der Mensch keinen bewussten Kontakt mit seinem lebendigen Geist, verharrt er in der Sphäre des Intellekts auf Kosten des Lebens, dann ist er wirklich vom Leben abgeschnürt. Da verdirbt aller Logos zu dürrer Intellektualität. Da führt alles Ethos zum Bösen.

1 Vgl. die endgültige Widerlegung der Klagesschen Irrtümer im Aufsatz Max Schelers in diesem Band und den beiden vorletzten Kapiteln meiner Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
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