Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Der Weg zur Zukunftskultur

Werden oder Vergehen

Es ist also ganz klar zu erweisen, nicht allein dass alle alte Kultur auf Erden zugrunde geht, sondern auch, warum dies so sein muss. Aber mit gleicher grundsätzlicher Gewissheit ist vorauszusagen, welches Zuständliche an die Stelle des Alten treten wird. Aus dem Indentitätsverhältnis von Werden und Vergehen ergibt sich zunächst, dass das Ende des Alten schon die Geburt des Neuen ist. Dies ist nur dort nicht der Fall, wo ein absolutes Ende erreicht ward, und hiervon kann heute, wie wir schon sahen, nicht die Rede sein; selten erschien das Menschengeschlecht, gleich jung. Eine neue Kultur im alten Sinn braucht freilich nicht zu erstehen, aber es bedeutet ein Vorurteil, diesen möglichen Umstand sofort als Niedergang zu deuten. Kulturzustände bedeuten die Höhepunkte möglicher Menschheitszustände; sie geben dem Streben wohl erst ihren letzten Sinn, doch um des Endziels willen darf man den Weg nicht verleugnen. — Nun, die Grundzüge der Neubelebung lassen sich aus den Motiven des Untergangs des Alten mit völliger Gewissheit ableiten.

Die alten Kulturen sterben allesamt daran, dass in der neuen psychologischen Verfassung des Menschen­geschlechts das übertragbare gegenüber dem Unübertragbaren dominiert. Folglich muss sich das neuentstehende Positive vom früheren vor allem dadurch unterscheiden, dass auf dem, was allen Menschen gemeinsam ist, gegenüber dem Ausschließlichen der Nachdruck ruht. Der Nachdruck: darauf kommt alles an. Die Auffassung ist völlig missverständlich, als träte je ein toto genere Neues an die Stelle des Alten. Die Psyche ist wesentlich ein Sinneszusammenhang; die Bedeutung schafft, erhält und verändert sich selbst entsprechend den Tatbestand. Mögen deshalb die Bestandteile einer Psyche als solche die gleichen bleiben, ihr Gewichtsverhältnis entscheidet über das resultierende Bild, nicht viel anders, äußerlich betrachtet, wie bei chemischen Körpern hinsichtlich der Elemente. Gewiss ist auch dort die quantitative Zusammensetzung von Bedeutung; im heutigen Menschen ist die Intellektseite nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ höher entwickelt als bei früheren. Aber dort ist das quantitative Wachstum Folge der Bedeutungsverschiebung. — Nun, dass das allgemein Menschliche gegenüber allem Partikularistischen — denn das heißt grundsätzlich das übertragbare gegenüber dem Unübertragbaren — schon heute unvergleichlich mehr bedeutet als je vorher, beweisen alle Tatsachen, sobald man sie nur versteht. Woher der Siegeszug der universalistischen Theorien, von den imperialen des Angelsachsentums, des Islams und der katholischen Kirche über die sozialistische Ideologie bis zum gewaltigen Weltimpuls des Bolschewismus? Er rührt von nichts anderem her, als dass in ihnen allen auf dem Gemeinsamen, gegenüber dem Partikularen, der lebendige Nachdruck ruht. Die Dinge liegen nicht so, als seien erst, von abstrakten Intellekten ausgeheckt, universalistische Ideologien dagewesen, die nun die widerstrebende Wirklichkeit zu erobern trachten, sondern umgekehrt: die neue universalistische Wirklichkeit ist der Realgrund der Werbekraft universalistischer Theorien. Sonst könnten nicht alle universalistischen Weltanschauungen zugleich eine Hochkonjunktur erleben und auch die wesentlich partikularistischen sich (wie das Luthertum zur Weltkirche) universalisieren wollen. Wieder einmal sehen wir, wie missverständlich es ist, den Erfolg einer Weltanschauung auf ihren genauen Inhalt zurückzuführen. Nichts liegt heute der Welt im großen ferner, als sich in den Schoß der katholischen Kirche heimholen zu lassen, aber die traditionelle Kirche profitiert mit von der allgemeinen Zeittendenz. Nur Juden, auf Grund einzigartigen Erlebens seid Sanheribs Zeiten, besitzen wirklich kommunistisches Lebensgefühl, aber der Kommunismus spielt eine ungeheure historische Rolle, insofern er ein Träger unter anderen des universalistischen Gedankens ist. So erscheint denn völlig gewiss, dass wir am Eingang eines universalistischen Zeitalters stehen.

Zunächst muss es aus den bereits angeführten Gründen ein Massenzeitalter werden — je mehr das Übertragbare gegenüber dem Unübertragbaren bedeutet, desto mehr bedeutet die Zahl —; andererseits beginnt mit ihm erst (wie ich im historischen Zyklus der Schöpferischen Erkenntnis zeigte) die eigentliche Menschheitsgeschichte, die es nicht eher geben konnte, als bis das Übertragbare gegenüber dem Unübertragbaren so weit den Vorrang gewann, dass die Rasse- und Völkereinheiten gegenüber der anerkannten realen Menschheitseinheit im Bewusstsein den Vorrang verloren. Dies äußert sich zunächst, wie der Gedanke der Tat überall vorangeht, im Siegeszug der universalistischen Weltanschauungen. Aber es äußert sich auch schon als politische Wirklichkeit. Wir stehen im Zeichen der größten Zusammenfassungen aller Zeiten. Und zwar der Zusammenfassung nicht auf Grund äußerer Gewalt, wie bei den Imperien der Vorkriegszeit, welche heute überall ihren Todeskampf kämpfen, sondern auf Grund von Gesinnungseinheit, was die Richtigkeit unserer Voraussetzungen unmittelbar erweist. Das erste Beispiel dieser Zusammenfassungen war die Entente; die Gesinnungseinheit der Westmächte gegenüber einem Fremden allein hielt sie zusammen. Natürlich musste sie, da sie ein ad hoc geschaffener Zweckverband war und manche fremde Elemente einschloss, nach Kriegsende zerfallen. Doch nur, damit Gleichsinniges, aber den Dauerverhältnissen besser Entsprechendes entstände. Seit Versailles erwachsen auf dem ganzen Erdenrund unter noch unbestimmten und unverstandenen, weil nie dagewesenen Formen Verbände unerhörten Ausmaßes. Deren ausgereiftester ist die angelsächsische Welt als Ganzes, nicht auf ein Zentrum, sondern zwei Brennpunkte, ellipsenartig, bezogen: London und New York. Deren zweiter ist die panislamische Welt, noch sehr undeutlich, weil staatlich allzu zerrissen, äußerlich noch schwach, allein schon heute von ungeheurer Spannung. Deren dritter und wichtigster ist der, welcher die russische Sowjetunion zum Mittelpunkte hat. Dieser schließt heute virtuell schon beinahe ganz Asien ein, und ein Zerfall seines Körpers ist ausgeschlossen, bevor Asiens Befreiung und Neubildung nicht vollendete Tatsache ward. Die geistigen Faktoren und Komponenten dieser Einheit lassen sich genau bestimmen.

Der Sowjetgedanke vertritt vier wichtigste Tendenzen auf einmal: die Emanzipation des Ostens vom imperialistischen Westen; die der bisher unterdrückten Völker und Klassen; die Idee der Technisierung ohne Ausbeutung; viertens und vor allem die Rezeption seitens des Ostens dessen, was ihm bisher fehlte, der westlichen Weltgewaltigkeit, die bei uns meist einseitig als Materialismus verstanden wird. Und er tut dies mit unwiderstehlicher Werbekraft, weil er durchweg mit Gedankengängen arbeitet, die intellektuell gerade erst erwachten Massen einleuchten müssen; dies gilt nicht zuletzt von den marxistischen, denn deren Materialismus entspricht den ersten Bedürfnissen aller materiell Unterdrückten sowohl an sich wie in der historischen Akzentlegung; eben deshalb macht er so viele ehedem Stumpfe geistig produktiv. Die beiden ersten Momente der bolschewistischen Werbekraft brauche ich nicht näher zu erläutern, denn ihr Sinn ist klar. Aber das dritte und vierte sei etwas genauer betrachtet. Soll Technisierung, die heute alle Völker des Ostens wünschen, ohne Ausbeutung erfolgen, so geht dies theoretisch (von der praktischen Durchführbarkeit der Idee sehe ich ab, denn für die Werbekraft kommt sie nicht in Betracht) unter den heute gültigen Voraussetzungen tatsächlich allein auf bolschewistische Methode, denn sie allein gibt dem Privatkapital kein Recht auf Macht. Zum vierten Moment aber: der Sieg des Materialismus bedeutet vom psychologischen Standpunkt im Osten das Gegenteil dessen, was er bei uns bedeutet: nämlich recht eigentlich das Äquivalent der Übernahme des Christus-Impulses durch die heidnische Mittelmeerwelt. Der Westen war zu aller Zeit weltzugekehrt. Also tat ihm zur Erweiterung und Vertiefung ein Impuls aus der spirituellen Sphäre not. Der Osten hingegen war immer spirituell; was ihm fehlte, war gerade die Entwicklung des Weltzugekehrten. Also kann Materialismus ihm, zumal wo er sich ins Satanische übersteigert, recht eigentlich ein Evangelium bedeuten.

Denn noch einmal: nicht auf die bolschewistische Theorie, auch nicht die russische Wirklichkeit als solche kommt es an, sondern darauf, welchen realen Lebenskräften sie zu orientierendem Sinnbild dient. Kommunistisch wird weder Russland bleiben noch der ferne Osten werden; genau wie das Christentum wird auch der Sowjetimpuls die verschiedensten Verkörperungen erleben, in jedem Kulturkreis andere, und die ursprüngliche wird, genau ebenso wie die spanische Inquisition von der späteren katholischen Kirche, sogar nach Möglichkeit totgeschwiegen werden, denn dass der Geist der Tscheka der schlimmste Geist des Teufels ist, der je auf Erden herrschte, darüber besteht kein Zweifel. Nicht auf die Wirklichkeit, sondern das Sinnbild kommt alles an. In diesem Sinn aber zweifle ich nicht daran, dass der Osten noch nach Jahrhunderten verballhornte russische Worte im selben psychologischen Verstand im Munde führen wird, wie wir hebräische. Moskau ist nun einmal das Sinnbild der möglichen Wiedergeburt des gesamten Ostens in die moderne Welt hinein. Wenn dem nun also ist — wie sollten die dem sowjetischen Kulturkreis angehörigen Völker nicht das Gemeinsame als bedeutsamer empfinden wie alles, was sie trennt? Sie tun dies so sehr, dass es dem Machtbereich des Sowjetgedankens zuerst gelungen ist, die verschiedensten Völker ohne Eroberung zu einem Staatähnlichen zusammenzuschweißen, und das will heißen: das Nationale und das Übernationale zu höherer Einheit zusammenzufassen.

Damit wären wir denn zur vierten und uns am nächsten angehenden Neuzusammenfassung, der europäischen, gelangt. Wie und in welcher Form diese zustande kommen wird, und ob je explizite, entzieht sich der Voraussicht. Ich persönlich kann mir nicht denken, dass ein so wesentlich vielfältiges Gebilde, wie Europa, sich je so sehr vereinheitlichen wird, wie Amerika oder das russische Weltreich, es sei denn, es werde auch geistig-seelisch vollkommen ruiniert. Am ehesten könnte hier der Fascismus, falls seine Idee über Italien hinausgreift, eine übernationale Einheit schaffen, denn diese ist letztlich gleichsinnig mit der bolschewistischen, d. h. sie verkörpert mit umgekehrten Vorzeichen ein gleiches neues Prinzip und so könnte es kommen, dass das Gemeinsamkeitsgefühl, das sie aus sich heraus schafft, sich gegenüber den Nationalgefühlen einmal als die stärkere Macht erwiese. Aber dass diese je ganz Europa eroberte, erscheint mir unwahrscheinlich; dazu sind die Gegenkräfte zu stark. Hier geht die äußerliche Entwicklung, die nun einmal auf Grund des Versailler Vertrags erfolgt, im großen ganzen betrachtet, weit eher in der Richtung eines gesteigerten Partikularismus. Aber dieser wird andererseits immer weniger bedeuten. Die politische Selbständigkeit der neugeschaffenen Staaten bedeutet schon heute nur einen eleganten Ausdruck für vollkommene Unselbständigkeit. Wirtschaftlich betrachtet, ist sogar die Selbständigkeit der bisherigen europäischen Großmächte, mit der einen Ausnahme Englands, nur ein eleganter Ausdruck für die Schuldknechtschaft gegenüber Amerika oder anonymen Finanzkonzernen. Diese Bindungen könnten, theoretisch betrachtet, abzuschütteln sein, praktisch sind sie es wegen der Übermüdung der europäischen Völker kaum, die sie auf Jahrzehnte hinaus jeder gewaltsamen Anstrengung unfähig erscheinen lassen dürften. Und gleichzeitig entsteht oberhalb aller Partikularismen überall ein neues europäisches Gemeinschaftsgefühl sehr anderer Art, als es der Fascismus je aus sich hervorbringen könnte. Dieses speist sich vornehmlich aus drei Quellen. Erstens dem gemeinsamen und einsinnigen Kriegserlebnis aller Jungen; zweitens deren einsinniger Oppositionsstellung gegenüber der früheren Generation, die alles so elend schlecht gemacht hat1; drittens dem immer stärker werdenden instinktiven Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Schicksalsgemeinschaft der Völker eines geschlagenen Erdteils gegenüber den immer übermächtiger werdenden Gebilden des außereuropäischen Ostens und Westens. — Oberhalb der betrachteten Zusammenfassungen aber besteht, wir sahen es, schon heute eine noch weitere und größere Einheit, deren Dasein endgültig erweist, dass die neuentstehende Welt ein unerhört einheitliches Ganzes ist. In der ganzen Welt bestimmt innerhalb der Massen der Chauffeur-Typus.

Überall unterscheidet sich die jüngere Generation im gleichen Sinne von der älteren; der jüngste Engländer (man lese Galsworthys Forsyte Saga) sieht dem Bolschewisten ähnlicher als seinem victorianischen Großvater. Überall entspricht ein gleicher Rhythmus dem Geist der Zeit. Das moderne Tanzen belehrt einen, in der Tat, über den Charakter dieses mehr als jede soziologische Untersuchung. Warum finden heute alle im negerartig Primitiven die angemessenste Form für ihr persönliches Ausleben? Weil der psychische Zustand sich gegenüber dem früheren so sehr verändert hat, dass die überkommenen Formen nichts mehr bedeuten können. Da nun neue durchgeistigte und durchseelte Lebensformen noch nicht erwachsen sind, so kann zunächst nur das Primordiale echt sein und wirken. So steht das Verhältnis der Geschlechter im Zeichen der Rückgängigmachung des Sündenfalls; unschuldig wie Tiere toben Männlein und Weiblein miteinander. Die Jugend von heute ist aber wiederum anders als Naturvölker insofern, als in ihrer Psyche das Übertragbare gegenüber dem Unübertragbaren dominiert. Insofern hat ihr Treiben ihr Sinnbild nicht am Urmenschen, sondern am Kraftwagen. Sie ist durch und durch mechanistisch. Ihr Innenleben ist, trotz überraschend häufiger hoher Begabung, arm, wie seit der Völkerwanderung vielleicht keiner Generation vorher. Sie kennt kaum Liebe, kaum Gefühle im traditionellen Sinne überhaupt; wenn sie Gefühle unmodern findet, so tut sie’s, weil sie keine hat. Bei allen höheren Gefühlen handelt es sich eben um geistgeborene Schöpfungen; die Natur weiß von ihnen nichts. So lebt sich die Vitalität der heutigen Jugend normal nur im Sportsmäßigen aus. Dieses bedeutet denn ganz folgerichtig den Heutigen mehr als irgendeiner Menschenart seit den Massen der Spätantike. Gewiss gibt es Kreise, auf welche die gegebene Beschreibung nicht zutrifft, aber in einem Massenzeitalter zählen nicht führende Minoritäten für die allgemeine Charakteristik nicht. Alles Repräsentative an allgemeinen Lebenserscheinungen entspricht unserer Schilderung. Und alles Repräsentative ist weiter auf dem ganzen Erdball dermaßen gleich dem Geiste nach, dass über das Heranbrechen einer universalistischen Ära überhaupt kein Zweifel besteht.

Bisher handelten wir nur von den Mehrheiten. Aber da Geführte und Führer immer in Korrespondenzverhältnis stehen — nur der seinerseits Repräsentative und deshalb Anerkannte kann führen —, so ist a priori gewiss, dass alles bisher Ausgesagte, mutatis mutandis, auf diese übertragen werden kann. Ist der Chauffeur der bestimmende Massentypus dieser Zeit, dann vermag der allein heute zu herrschen, den jener im selben Sinn als über sich stehend anerkennt, wie seinerzeit der Reisige den Ritter. In ihm muss das Übertragbare im höchsten Grade dominieren, er muss noch schneller, noch energischer sein. Und wirklich gehören alle im Großen erfolgreichen Führer seit dem Weltkrieg einem gleichen Typus an. Sie sind suprem intelligent, schnell, intuitiv, psychologisch, d. h. fähig, dem primitivierten Charakter der Massen Rechnung tragend, diese zu beeinflussen. Hier stehen die Bolschewistenführer an aller Spitze. Sie haben gar keine Ähnlichkeit mit traditionellen Führern, aber allen ohne Ausnahme erscheinen sie heute absolut überlegen. Die Fascistenhäuptlinge gehören dem grundsätzlich gleichen Typus an, und in Westeuropa die bestimmenden Wirtschaftsführer. Dieser Typus allein kann heute Erfolge im Großen erzielen. Wo er noch fehlt oder nicht an der Macht ist, dort herrscht entweder Chaos oder Stagnation. Die alten Typen können nicht mehr suggestiv wirken, ihr Prestige ist hin. — Ebenso nun, wie alle Massen sich heute, auf Grund grundsätzlich gleicher Struktur, auf unerhörte Weise untereinander verstehen, so verstehen sich auch die Führer, ob sie im übrigen zusammenarbeiten oder einander bekämpfen. Nie könnte die Vereinheitlichung Asiens so schnell erfolgen, wenn sich die neuen Führer gegenüber allem Alten nicht instinktiv solidarisch fühlten. Dass innerhalb der Führeroligarchien, die tatsächlich, nicht nominell, Westeuropa und Amerika beherrschen, das gleiche gilt, ist klar. Damit wäre denn die Herrschaft eines neuen universalistischen Zeitgeists auf Grund eines allgemeinen neuen Seelenzustands, der auf der Verschiebung des Bewusstseins vom Unübertragbaren auf das Übertragbare beruht, auch in bezug auf sein repräsentatives Führertum erwiesen. Die letzte Lücke im Gesamtbild füllt die lebendige Opposition. Woher kommt es, dass heute Missionare aus Indien, Persien und China bei uns Gehör finden, dass alles Christentum katholisch (im wörtlichen Verstand des Wortes) wird, dass der Rahmen der theosophischen Bewegung in ihrem weitesten Begriff immer weitere Kreise ergreift? Nicht von eklektischer Übernahme des einen durch das andere, sondern daher, dass die lebendigen Probleme neuer Sinn-Gebung des Lebens sich überall gleichsinnig stellen; es verstehen sich die Vertreter noch so verschiedener Konfessionen und Weltanschauungen unmittelbar, weil auf den Gemeinsamen der vitale Nachdruck ruht. Durch die Verschiebung in der psychologischen Struktur ist das Leben überall im gleichen Verstande sinnlos geworden, denn überall erscheint seine metaphysische Wurzel verschüttet. Dazu tritt die gemeinsame Bedrohung aller durch den antimetaphysischen Massengeist. Ich zeigte bereits, dass die Verstandesentwicklung der Massen zunächst den Sieg materialistischer Weltanschauung herbeiführen muss. Insofern stehen wir vor der unreligiösesten, ja antireligiösesten Epoche aller Zeiten. Sie mag in Europa nicht ausgesprochen in die Erscheinung treten — gegenüber den in Bewegung geratenen Massen der übrigen Erde, zumal des Ostens, bedeutet dies wenig oder nichts, denn nur die ganz großen Zahlen sind für den heutigen Zeitgeist bestimmend. Dies fühlen nun alle metaphysisch und religiös Bewussten instinktiv. So schließen sie sich ihrerseits mehr und mehr zusammen, wenn nicht äußerlich, dann doch im Sinn lebendigen Zusammenhanggefühls, so vergessen sie ihrerseits immer mehr das Ausschließliche gegenüber dem Gemeinsamen. Fasst man also herrschende und oppositionelle Parteien mit einem Blick zusammen, so gewahrt man eine buchstäblich erdumspannende Zeitgeisteinheit. Diesem Neuen, Gewaltigen gegenüber hält nichts Partikuläres aus vergangenen Zeiten stand. Überall wird die Menschheit unaufhaltsam neu — oder sie verdirbt.

1 Besonders gut belehrt über die Gesinnung der neuen Generation die Broschüre des Prinzen Karl Anton Rohan Die Aufgabe unserer Generation (Köln, Verlag Bachem). Sie ist weiter interessant als Ausdruck dessen, wie der Impuls der Schule der Weisheit, die der Verfasser seit 1921 regelmäßig besucht, auf einen jungen selbständigen Geist des neuen Typus wirkt.
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Der Weg zur Zukunftskultur
© 1998- Schule des Rades
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