Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Der Sinn des ökumenischen Zustands

Bekenntnis zum Schicksal

Wenn ein Schüler mir seine Problematik erstmalig vorlegt, so sehe ich mich häufig, veranlasst, die Frage zu stellen, was an seinem Schicksal er nicht ändern kann. Meist bezeichnet dies neunzig Prozent dessen, was ihn als Aufgabe beschäftigt. Und dann erkläre ich ihm, dass nur das lösbare Problem dem bloßen Begriff nach überhaupt Problem sein kann. Wenn es Wünschbares an sich gäbe, dann hätte längst die ganze Menschheit Selbstmord geübt, denn so, wie er’s in abstracto wünschen möchte, ist keiner je dagestanden. Tatsächlich stellt jeder, welcher sich selbst nicht missversteht, seine Forderungen an das Schicksal von nicht allein gegebener, sondern auch von innerlich anerkannter Basis aus, denn was er wesentlich will, ist immer nur aufsteigen oder weiterkommen an sich; welche Gestalt dies Streben in concreto annimmt, hängt vom jeweiligen Zustand ab. Wenn beispielsweise der Arme reich werden möchte, so zieht’s den Krösus aus den gleichen Motiven leicht ins Kloster. Und mir ist noch kein Fall begegnet, in dem die Erkenntnis dieses Zusammenhangs die Energie nicht auf ein erreichbares Ziel gelenkt und damit beschwingt, die falsche Problematik nicht in hohem Grad erledigt und damit Glücksgefühl ausgelöst hätte. — Nun, genau so muss das Völker- und Menschheitsschicksal betrachtet werden, will man richtig beurteilen, was jeweils werden kann. Das Gewicht des Unabänderlichen ist hier allemal von gewaltiger Schwere, rühre es vom Fatum oder vom Karma her.

Über das in diesem Zusammenhang Selbstverständliche will ich mich nicht verbreiten. Aber macht man sich nur vom Zwang ein unverfälschtes Bild, den die fixierte Kombination von kosmischem Einfluss und Vererbung in jedem Land von einigermaßen stetiger Geschichte ausübt, so erkennt man klar, wie eng das Bereich möglicher Wandlung im Völkerleben ist. Nur einige schlaglichtartige Beispiele. In Italien erscheint der Geist der Erde so stark, dass er den Menschen je und je, trotz aller Kultur, als primitiv geboren werden lässt. Und ebenso naturhaft gebunden erscheinen die Urformen seines Lebens. Man versenke sich in den Geist eines etruskischen Grabes, sodann in den eines altrömischen Patrizierhauses und endlich in den einer modernen italienischen Casa von Tradition: es ist der gleiche. Es ist die gleiche Abgeschlossenheit des Hauses, durch molekuläre Kohäsion zusammengehalten, demzufolge ungeheuer stabil; aber die fixierte Energie ist äußerst schwer in freie umzusetzen. Dies ist das ewige Italien. Dieses Ewige äußert sich nun in der Zeit als dem Grade nach unerhörte Bindung durch urgeschichtliche Gewohnheit; so zahlt kein Mensch bereitwilliger Steuern als der Italiener, denn dies ist das eine, was er von Römerzeiten her als Normalausdruck des Regiertwerdens kennt. Er revoltiert ebendeshalb nicht gegen eine vom Standpunkt moderner Agrartheorie verwerflichste Latifundienwirtschaft, woraus erhellt, wie wenig Revolutionen mit tatsächlichen Missständen zu tun haben; wäre es anders, der Bolschewismus wäre nicht in Russland, sondern in Italien geboren worden; dessen wahre Gründe sind rein psychologischer Natur. Wie kann nun diese Masse in Bewegung geraten? Allein durch den Despotismus einer andersgearteten, kompensatorisch beweglichen Minderheit. So hat es als Kontrapunkt zur Kontinuität italienischen Urlebens von jeher den Herrschertypus — Mussolini gegeben, ob dieser nun ein besonderer Stamm war wie der der alten Römer oder, wie dies die Regel bezeichnet, der einzelne Cäsar oder Condottiere. Eine Änderung des hier skizzierten Rhythmus ist für Italien, solang es Italiener von der bisherigen Struktur gibt, schwer abzusehen. — Oder Russland: Was der Bolschewismus heute darstellt, ist identisch mit dem russischen Zustand von um 1500, welcher Zustand ungefähr dem des heutigen russischen Bauern entspricht. Sein Anspruch auf alles Land datiert aus jener Zeit, wo der Adel es nur als Entlohnung für Staatsdienst zum Nutznieß erhielt. Andererseits gab es im russischen Staat von damals, ganz wie im heutigen Sowjetsystem, überhaupt kein Leben, das nicht als Dienst verstanden wurde. Man diente als Krämer oder Friseur, wenn man sich also in Moskau betätigte. Deshalb hat der Bolschewismus, bis ein modernerer Gesamtzustand erreicht ist, alle Zukunft für sich. — Oder zur Religion: Im Reisetagebuch habe ich ausführlich gezeigt, wie schwer die Verpflanzung oder Verdrängung fest eingewurzelter Glaubensformen gelingt. — Oder zur Regierungsform: Weder der französische Zentralismus noch auch der englische Parlamentarismus hat sich in Deutschland bewährt. Warum?

Damit Zentralismus Gutes bedeuten könne, muss ein Volk so gesinnt sein, dass es im Kopf den Repräsentanten des ganzen Körpers sieht und ihn als solchen anerkennt. Dies gilt vom französischen. Jeder irgendwie Hervorragende wird von jedem Franzosen als repräsentativ gefeiert, ganz gleich, wie er persönlich zum Gefeierten stehe; dieser gelangt selbstverständlich nach Paris und so oder anders zur Macht. Kein Deutscher erkennt den andern als repräsentativ an, wenn er nicht bis ins kleinste seiner Ansicht ist. Deshalb kann Zentralismus in Deutschland nur als äußerliche Zusammenfassung gelingen, und solche veräußerlicht, macht schließlich innerlich ohnmächtig, da keine lebendige Überzeugung hinter der Einheit steht. Des Wilhelminischen Deutschlands Schicksal hat dies nur zu deutlich bewiesen. — Der Parlamentarismus nun scheitert in Deutschland aus analogen Gründen. Er war in England fruchtbar, weil jeder dort seinen Gegner als zu sich gehörig erkennt, demnach die nationale Einheit oberhalb aller Gegensätze voraussetzt. Symbol dessen ist, dass bei feierlichen Akten der Premier und der Führer der Opposition nebeneinander herschreiten und es für ungebildet gilt, einem politischen Gegner deshalb persönlich übelzuwollen. Welcher Deutsche erkennt je seinen Gegner als zu sich gehörig an? — Es ist psychologisch unmöglich, dass das englische System sich unter Deutschen bewährte. Die Deutschen sind ein Kastenvolk, hierin den Indern ähnlich; dies liegt an ihrer angeborenen Einstellung. Und hier hielten wir denn am Wesentlichen dessen, was ein Volk vom anderen organisch unterscheidet; von hier aus können wir begreifen, inwiefern es allem in abstracto Wünschbaren gegenüber als Fatum wirkt: Jedes Volk verkörpert eine spezifische Einstellung. Das psychische Material ist bei allen annähernd gleich, auch — mit Ausnahme der wenigen wirklich minderwertigen Rassen — hinsichtlich der Begabung, denn jedes bringt hochbegabte Einzelne hervor. Was ein Volk vor andern auszeichnet, ist die Zentrierung des grundsätzlich Gleichen, also der Mittelpunkt, auf den der Sinneszusammenhang jeweils bezogen erscheint; nur weil dem also ist, können Fremdrassige in neuen Volkheiten aufgehen1, können die Norden in, Frankreich Franzosen, in England Engländer, in Deutschland Deutsche sein. Wieweit die gegebene Einstellung kosmische Einflüsse, inwieweit Blut, inwieweit psychische Vererbung zur Ursache hat, ist ein für allemal nicht zu bestimmen; das Verhältnis wechselt von Fall zu Fall. Milieueinflüsse herrschen zweifelsohne in Nordamerika vor, paideumatische wohl im Falle aller echten Kulturen.

Was das Blut betrifft, so wird die Rasse im weiten Verstand (Arier, Semiten usw.) in ihrer Bedeutung überschätzt und Rasse im engeren gewöhnlich unterschätzt. Innerhalb aller Grundrassen sind höchste Typen als Minoritäten möglich, keine jedoch verkörpert an sich einen geistigen Wert. Wohl scheinen bestimmte Grundeinstellungen, die bis zu einem gewissen Grad als Werteträger gelten können, schon mit der Urrasse gegeben. So hat Luigi Valli wahrscheinlich gemacht2, dass Problematik im europäischen Verstand eine rein arische Angelegenheit ist (obgleich hiergegen wiederum die Tatsache spricht, dass heute Juden die Hauptrepräsentanten europäischer Problematik sind und dass die deutschen Rassenforscher den Norden ursprüngliche Problematik absprechen). Aber andererseits können Vorzüge im Erfolg auch auf ursprüngliche Minderwertigkeit zurückgehen. Erstens im allgemeinen Adlerschen Verstand. Nur wer seinen Zustand irgendwie als unzulänglich empfindet, strebt3. Bei Völkern tritt diese allgemeine Wahrheit so in die Erscheinung, dass die als nationale Einheiten unvollkommensten typischerweise, als Kompensation, die größten Einzelnen hervorbringen. Hieraus leitet sich die unerreichte Größe der einzelnen Juden, Griechen und Deutschen her. Diese war und ist nie repräsentativ, sondern gegensatzgeboren. Aber das Unzulängliche kann auch in anderem Verstande produktiv werden. Hierzu ein paradoxales Beispiel: die germanischen Völker waren bisher die fortschrittlichsten wohl weniger wegen ihrer größeren Begabung als wegen ihrer Langsamkeit; bis sie einen geistigen Impuls ganz verstanden, hatte dieser Zeit gehabt, ihren ganzen psychischen Organismus zu durchdringen. Daher die erstaunliche Wandlung der Engländer von Krise zu Krise; auch das Weltkriegserlebnis hat bei ihnen bisher am schöpferischsten gewirkt; während die schnell verstehenden Romanen ebendeshalb die geringste Wandlungsfähigkeit beweisen. Womit denn der Übergang vom Blut- zum Geisteseinfluss vermittelt wäre.

Doch wie dem allem auch sei — in den vorhergehenden skizzenhaften Betrachtungen habe ich mehrfach mit Absicht übertrieben —: aus diesen oder jenen Gründen liegen bei allen Völkern fixierte Einstellungen vor, die jedem Vorstoß der Freiheit gegenüber ein Fatum bedeuten. Hier liegt der geistige Rechtsgrund aller nationalen, religiösen, sozialen und politischen Ausschließlichkeit. Wenn das Unbewusste in bestimmter Einstellung einmal fixiert ist, so kann jeder Versuch plötzlicher Änderung früh oder spät nur der Fremdartigkeit der Einflüsse proportionale Gegenbewegungen auslösen, wie Nationalismus, Rückbekehrung, politische Restauration. Aus eben dem Grunde verlieren analysierte Katholiken ihren Glauben selten, sie werden vielmehr katholischer, während Protestanten, die ihr Gleichgewicht verloren, da sie keine gleich fest fixierte Tradition im Blute tragen, in der Regel eine neue persönliche Synthese finden müssen. — Aus dem Betrachteten geht jedenfalls so viel eindeutig hervor, dass der Freiheit vernunftgemäß nichts übrig bleibt, als vom Bekenntnis zum unentrinnbaren Schicksal auszugehen. Wie übermächtig dieses Schicksal ist, lehrt alle Geschichte. Über alles Allzufremde hat das Überlieferte überall, solang es lebendig war, gesiegt, und sei dies auch nur im Sinn der Rückbeziehung des Neuen auf alte Wurzeln, wie dies die Germanisierung des Christentums im Norden, seine Paganisierung in Italien, die Brahmanisierung des Buddhismus in Indien und dessen Säkularisierung in Japan beweisen.

1 Vgl. die genauere Ausführung dieses Gedankenganges im Kapitel Weltanschauung und Lebensgestaltung der Wiedergeburt.
2 Vgl. Lo spirito filosofico delle grandi stirpi umane, Bologna 1921.
3 Vgl. die genaue Ausführung dieses Gedankens im Kapitel Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung in Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Der Sinn des ökumenischen Zustands
© 1998- Schule des Rades
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