Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Der Sinn des ökumenischen Zustands

Produktive Gemeinschaft

Es gibt also ein Fatum als unentrinnbare Basis jeder Freiheitsbetätigung. Und dessen Begriff umfasst eine weitere Wirklichkeit, als die meisten wahrhaben wollen; die Rezeptionsmöglichkeit bestimmter Geisteseinflüsse gehört mit dazu. Volkscharaktere, Religions- und Gesellschaftstypen müssten ohne weiteres verwandelbar sein, was sie nicht sind, wenn die gleichen geistigen Initiativen überall gleiches bewirken können sollten. Dies zeigte sich vor unserer Epoche im großen zuletzt im Fall der Reformation, welche unmittelbar nur auf bestimmten wahlverwandten Gebieten Siegerin blieb; dies zeigt sich heute sehr deutlich am Grad der Werbekraft des Bolschewismus: so wie er ist, fasst er allein in Russland Fuß; seine Eroberung Asiens erfolgt in Form von Metamorphosen. Seine ökonomische Idee indessen beweist allein unter patriarchalischen Völkern Werbekraft, zu denen auch die Deutschen gehören. Solche kennen, modern gesprochen, ursprünglich nicht Besitz, sondern nur Einkommen. Bei den Matriarchalen hingegen geht der Urinstinkt gerade auf Besitz, weshalb ein Übergreifen der ökonomischen Idee Russlands in noch so veränderter Gestalt auf Frankreich und England ausgeschlossen erscheint. Dieses Fatum der Uranlage erfährt nun, so unerwartet dies klinge, im Prozess des Fortschritts der Bewusstheit keine Schwächung, sondern eine Machtsteigerung. Wo das Bewusstsein schläft, dort spielt das eigene Wesen keine bestimmende Rolle; dort kann es deshalb unterdrückt werden, und geschieht dies lange und zielsicher genug, so verändert es sich, wie alles Leben sich der Übermacht kosmischer Einflüsse anpasst. Deshalb gelangen vormals Entnationalisierungen, Bekehrungen, ja Veränderungen der psychischen Grundanlage überall, wo Sieger und Herrscher sie weise und konsequent betrieben. Heute nun fehlen die psychischen Vorbedingungen zur möglichen Unterdrückung des Eigenen, denn nirgends mehr ist das Wesen der verschiedenen Völker, Religions- und Gesellschaftstypen seiner selbst so unbewusst, dass es sich nicht mit aller Macht der Vergewaltigung widersetzte. Daher, trotz des universalistischen Zeitgeistes, die allgemeine Forderung der Selbstbestimmung der Völker und der Kulturautonomie. Daher umgekehrt das Bild inquisitorisch harter Unterdrückungsmethoden überall, wo diesem Zeitgeist nicht Rechnung getragen wird. So gelangen wir denn zu einer höchst bedeutsamen Korrektur des allgemeinen Bildes, welches das erste Kapitel entwarf. Mit der Bewusstheit wächst nicht allein die Veränderlichkeit, sondern zugleich die Wucht des Unabänderlichen. Dies ist die Ursache dessen, warum die neuentstehende Welt trotz ihres Universalismus andererseits eine solche des extremen Nationalismus und Partikularismus ist. Schafft das Bedeutungs-Übergewicht des Übertragbaren ungeheure Zusammenfassungen und Angleichungen, so wird sich der ausschließliche, der irrationale Teil der Seele kompensatorisch stärker seiner selbst bewusst und potenziert sich angesichts der Gefahr der Unterdrückung. Dieser Prozess kann im Gang der Universalisierung einerseits an Intensität nur zunehmen; immer ausgesprochener muss sich das Unabänderliche als solches manifestieren. Gewiss werden auch in Zukunft Völker zugrunde gehen und neue entstehen. Wenn man bedenkt, dass die biologische Grundlage des Menschen­geschlechts aus wenigen, wenn nicht gar einer Wurzel stammt und trotzdem Völker auf Völker, Kulturen auf Kulturen einander abgelöst haben, so liegt die Erwartung nahe, dass dies bis zum Weltende grundsätzlich nicht anders werden wird, schon deshalb, weil — mag sich der psychische Faktor noch so sehr verändern — die Faktoren der kosmischen Einflüsse und der Vererbung als Mächte unabhängig fortbestehen werden; Rassenveränderungen aber gehen gewisslich mehr auf sie zurück als auf geistige Einflüsse. Immerhin: die Wucht des Unabänderlichen muss, grundsätzlich betrachtet, nicht ab- sondern zunehmen. Es werden in den kommenden Jahrtausenden im ganzen mehr Völker fortleben, als in den vergangenen geschah. Doch jetzt gelangen wir zu dem zurück, was die neuentstehende Welt von allen bisherigen unterscheidet.

Innerhalb des neuen Zustands kann das Unabänderliche nicht mehr gleich viel bedeuten. Die Verschiebung des Bedeutsamkeitsakzents in der Seele, von dem das erste Kapitel handelte, gibt dem an sich Unabänderlichen einen anderen Sinn. Auf den Bedeutungsakzent kommt aber alles an. In primitiven Kulturen eignet magischen Beziehungen gegenüber allen nur möglichen die größere Bedeutung; keine rationale Erwägung, keine Macht der Tatsachen fällt jenen gegenüber ins Gewicht. In religiösen Zeitaltern entscheiden religiöse Bindungen Letztinstanzlich. Nationen im heutigen Sinne gibt es erst seit der französischen Revolution, denn erst damals erwachte der Machtwille der Völker als solcher. Die Nation ist nämlich nicht das Volk überhaupt, sondern das Volk als Machtorganisation. Am letzteren Beispiele ist nun besonders klarzumachen, inwiefern eine Verschiebung des Bedeutungsakzents die Wirklichkeit verändert; deshalb sei einen Augenblick bei ihm verweilt. Ist die Nation wesentlich das Volk als Machtorganisation, dann ist sie anders wie in Gegensatzstellung zu anderen ebensowenig zu bestimmen, wie ein einzelner Ehegemahl oder ein einzelner Freund1. Wer, den also Nationalitätenkriege aus irgendeinem Grunde unmöglich, so werden auch die Nationen als Bedeutsamkeiten zu bestehen aufhören, genau wie es Völker im mittelalterlichen oder im antiken Polis-Sinn, oder Sippen und Stämme als Bedeutsamkeiten im modernen Westen nicht mehr gibt. Dieses eine Beispiel dürfte genügen, hin, sichtlich aller Einzelmomente klarzumachen, wie die Veränderung der Bewusstseinslage und des psychischen Allgemeinzustands, den das erste Kapitel schilderte, dem, was ich hier Fatum nannte, trotz seiner relativen Verstärkung eine andere und sekundärere Rolle zuweist, als es früher spielte. Der Nachdruck im psychischen Allgemeinzustande ruht auf dem übertragbaren, dem Universalen. So äußert sich alles Ausschließliche und Partikulare von vornherein innerhalb des universalen Zusammenhangs. Mögen also Nationalismus und Partikularismus an sich die größtdenkbare Steigerung erfahren — mehr können sie in Zukunft nicht bewirken, als Spannung innerhalb des universalen Zustands; sie werden nur mehr interne Bedeutung haben. Anders gesagt: Der Deutsche und Franzose der Zukunft wird ein solcher nicht mehr letztinstanzlich, sondern ein ökumenischer Mensch deutscher oder französischer Nation sein. Von hier aus wird denn klar, warum gerade die universalistischen Bolschewisten den Partikularismus aller Völker ermutigt und daraus keine Sprengung, sondern gerade eine unerhörte Verstärkung ihrer Macht gewonnen haben. Von hier aus wird weiter klar, warum der universalistisch gedachte Völkerbund sich zunächst auf Grund der Selbstbestimmung der Völker konstituierte. Von hier aus leuchtet endlich ein, warum die Internationale mit dem Anbruch der universalistischen Ära nicht gesiegt, sondern historisch ausgespielt hat. Gerade international ist die dem Zeitgeist entsprechende Neuzusammenfassung nicht: sie ist übernational, doch auf Grund extrem bejahter Völkerindividualitäten. Immerhin werden die Nationen als solche, wie gesagt, in Zukunft keine entscheidende Rolle mehr spielen, und ebensowenig die Staaten. Neue Vergesellschaftungsformen gewinnen unaufhaltsam die Oberhand. Eine unter den vielen möglichen hat an der heutigen Sowjet-Union ihr futuristisches Vorbild; die in ihr zum erstenmal verwirklichte Form freien Völkerzusammenschlusses ist die Erbin der traditionellen Eroberung. Eine andere der möglichen neuen Vergesellschaftsformen entspricht dem Bild jener wirtschaftsbestimmten Welt, deren große Umrisse ich in Politik, Wirtschaft, Weisheit hingezeichnet habe. Das konsolidierte Endbild der Neuzusammenfassung ist für keinen Kulturkreis vorauszusehen. Doch soviel ist gewiss, und dieser Umstand kann nicht scharf genug betont werden: der ökumenische Zustand ist nicht ein Zustand des Ausgleichs, sondern der extremen Spannung, welche Tatsache allein beweist, dass es sich bei ihm um ein eminent Positives handelt; er ist ganz wesentlich kein Zustand der Ausgeglichenheit. Gewisse Nivellierungen finden im Laufe seines Wachstums natur, notwendig statt, denn wenn bei allen Menschen das Übertragbare im gleichen Sinn die Oberhand gewinnt, so muss dies viele traditionelle Unterschiede aufheben. Vielleicht die meisten aus der Vergangenheit überlieferten Partikularismen werden vergehen. Aber nur, damit sich auf der Basis des Gemeinsamen, des Menschheitlichen neue bilden. Wer an endgültige Nivellierung glaubt, vergisst das Fatum des Menschen. Wohl hat es wieder und wieder Zustände endgültiger Ausgeglichenheit gegeben, aber das waren dann solche des Todes oder des Sterbens. In unserer Zeit verjüngt und erneuert sich das Leben. Unsere Zeit ist eine Zeit der Jugend durch und durch. Da es nun schöpferisches Leben allein auf Grund von Spannung gibt, und die Spannungen des ökumenischen Zustands größere und vielfältigere sind als die irgendeines früheren, so beweist diese eine Erwägung allein, dass nichts der heutigen Menschheit ferner liegt als dauernder Ausgleich. Die Spannungen des ökumenischen Zustands sind, in der Tat, viel größere, stärkere und vielfältigere, als die irgendeines früheren. Dem Universalistischen hält von innen her extremer Nationalismus die Waage, und an einen Ausgleich beider Tendenzen ist nicht zu denken; auf Jahrhunderte hinaus werden sie in polarem Spannungsverhältnis stehen, was daraus allein erhellt, dass sie von verschiedenen Volksteilen vertreten werden, die sich nie verständigen können2. Die verschiedenen Formen ökumenischer Zusammenfassung, die europäische, die russische, die islamische, die angelsächsische werden sich ihrerseits desto mehr als Gegensätze empfinden, als sie grundsätzlich eines Geistes Kinder sind; denn tiefe Gegensätzlichkeiten gibt es nur unter Brüdern. Und innerhalb der einzelnen großen Gebilde wird die Gemeinschaft sich wiederum in Form extremer Spannung äußern. Äußerste Gespanntheit wird die Beziehung zwischen der materialistischen Majorität und den metaphysisch und religiös orientierten Minderheiten kennzeichnen, höchste Spannung zwischen Führern und Geführten herrschen. Es ist eines der blindesten Vorurteile dieser Zeit, dass Gemeinschaft die Distanz aufheben müsse: diese Voraussetzung gilt unter Europäern nur für Juden, die ebendeshalb nicht allein nie ein Herrenvolk waren noch sein können, sondern überhaupt als Volk nie viel geleistet haben, weil molekuläre Kohäsion — die spezifische Form ihres Zusammenhangs — sich in freie Bewegung nicht umsetzen kann. Produktive Gemeinschaft setzt Distanzeinhaltung voraus, unter Eheleuten wie überall. So sehe ich, um auf das Politische zurückzukommen, das Zentrum der künftigen europäischen Einheit geradezu in der deutsch-französischen Spannung, und nicht im deutsch-französischen Ausgleich, der ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und in der Tat: alle großen Zeiten Europas waren solche germano-romanischer Spannung, ob diese am Verhältnis von Kaiser und Papst ihr Sinnbild hatten, oder am deutsch-französischen Hass, oder an deutsch-französischer Liebe. Auch Hass ist eine Form der Gemeinschaft, nur Gleichgültigkeit ist keine. So wird der jahrhundertelange deutsch-französische Hass meiner Überzeugung nach noch einmal in der glücklichsten historischen Ehe aller Zeiten ausklingen, wenn beide Völker nur die Spannung als bestehend anerkennen und auf jeden Ausgleich verzichten.

1 Vgl. hierzu Walter Sulzbachs Begriff und Wesen der Nation in Dioskuren, Bd. II, München, Meyer & Jessen.
2 Genau ausgeführt steht dieser Gedanke im Aufsatz Eine Vision der kommenden Weltordnung im 10. Heft meines Wegs zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Der Sinn des ökumenischen Zustands
© 1998- Schule des Rades
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