Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Okkulte

Von der richtigen Einstellung zum Okkulten

Voreingenommenheit des Wissenschaftlers

Der Begriff des Okkulten beweist durch seinen bloßen Wortlaut, dass er, vom Standpunkt der Sache her betrachtet, eine vorläufige Fassung darstellt: Dunkles und Geheimes betrifft er insofern allein, als es sich, bei den fraglichen Erscheinungen, um unsicher oder undeutlich Festgestelltes, Unaufgeklärtes, Unverstandenes oder absichtlich Geheimgehaltenes handelt. Zum Wesen der okkulten Phänomene kann ihr Okkultes in keinem Fall gehören; es gibt sie entweder, oder es gibt sie nicht. Nun gehören sie, soweit ersteres gilt, zu einem erheblichen Teil allerdings einer Region an, welche bei greller Tagesbeleuchtung, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne, nicht zu betreten ist; sie erfordern zu ihrem Auftreten physisches Dunkel, oder aber die Möglichkeit ihres Erlebens ist an Bedingungen geknüpft, die nur der Myste von Natur aus gern befolgt. Doch hierin unterscheiden sie sich grundsätzlich in nichts von jedem Naturvorgang, deren jeder zu seinem Vorkommen bestimmter Bedingungen bedarf; weil das Mondlicht nur in der Nacht dem Auge merklich wird, bedeutet es, gegenüber dem der Sonne, noch kein Mysterium. Aus reiner Vernunft sind die Gesetze keines einzigen Naturphänomenes zu bestimmen, sie müssen sämtlich aus dem Gegebenen erforscht, erfahren werden. Deshalb hat kein apriorisches Bedenken gegen die erfahrungsmäßigen Bedingungen für das Eintreten bestimmter okkulter Erscheinungen auch nur das geringste Gewicht; da es sich, soweit es sie gibt, um vom Standpunkt der gesicherten Wissenschaft Neues handelt, so müssen auch die Bedingungen ihrer Erfahrung unbekannte sein; im voraus zu dekretieren, unter welchen allein die Natur sich produzieren darf, beweist geringe wissenschaftliche Einsicht.

So viel zur Voreingenommenheit des Wissenschaftlers gegenüber dem, was er nicht kennt oder noch nicht versteht. Die des Blindgläubigen ist der Erkenntnis insofern weniger verderblich, als sie Erfahrung nicht von vornherein verhindert. Dafür wehrt sich dieser in der Regel instinktiv gegen alle kritische Deutung, weil er befürchtet, dass solche ihm sein Erleben entwerten könnte — verkennend, dass vielmehr alles Wirkliche, wenn schon ein, mal von Ehrfurcht die Rede sein soll, die gleiche Ehrfurcht verdient, die er allein dem Ungewöhnlichen darbringt, weil letztlich alles im gleichen Sinn Mysterium ist. Auf solche Gläubige sind denn die Eingangssätze dieser Schrift gemünzt. Vom Standpunkt der Erkenntnis her betrachtet, stellt das Mysterium ein grundsätzlich zu Überwindendes dar, denn auch seine Eigenart und seine Notwendigkeit müssen jeweilig verstanden werden können. Die Stimmung des Geheimnisvollen, wo solche erforderlich, bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes wie eine besondere psychologische Vorbedingung zum Erleben; wird einmal die Frage gestellt, ob der Gottesbegriff einen gegenständlichen Inhalt hat und welchen, so ist diese genau so rein wissenschaftlich wie die nach dem Wesen von W u r z e l - 2 — alle Gefühle und Erlebnisse, welche zur Gottheit in Beziehung stehen, bleiben, solange von ihr aus gedacht wird, außer Betracht. So erscheinen die bisher häufigsten, wenn nicht allein üblichen Einstellungen zum Okkulten gleich ungeeignet, zu seiner vollgültigen Erkenntnis zu führen. Solche entsteht bekanntlich allein aus dem Zusammenwirken von Anschauung und Begriff. Die Einstellung des von Hause aus Gläubigen verhindert das Verstehen; die des von Hause aus Zweifelnden die Erfahrung. Dies ist die eigentliche Ursache dessen, weswegen wir vom Okkulten, obschon seit Menschheitsgedenken unaufhörlich und dabei auffallend gleichsinnig und gleichlautend von ihm gekündet wird, bisher fast gar nichts wissen.

Hermann Keyserling
Das Okkulte · 1923
Von der richtigen Einstellung zum Okkulten
© 1998- Schule des Rades
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