Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Einleitung

Catonentum

Im Jahre 1909 schrieb ich, am Schluss meiner Warnungsflugschrift Entwicklungshemmungen1, das Folgende:

An einem Wendepunkte der Geschichte, nicht minder bedeutsam, als es der heutige ist, ragen zwei große Gestalten, deren Gegensatz für alle Zeiten symbolisch bleiben wird: Cato und Julius Cäsar. Cato verkörperte das alte, nun sterbende Rom. Er erkannte die Baufälligkeit des alten Gefüges, er sah den Verderb der Gegenwart, ihm lebte die Größe der Vergangenheit, und sein edles Herz schmachtete nach einer größeren Zukunft. Allein sein starrer Verstand wusste keine andere Größe zu denken, als die von einst. Auch Cäsar liebte sein Vaterland, auch Cäsar begriff die Fäulnis seiner Zeit; auch er war erfüllt von der Glorie vergangener Tage und sehnte sich nach ihrer Wiederkehr. Aber Cäsar begriff etwas, was Cato entging: er begriff, dass Roms Größe nicht an vergängliche Formen gekettet war. Roms Geist war ihm ewig, nicht aber die römische Republik. Cäsar er: kannte, dass der Weltgeist neuen Verkörperungen zustrebte, dass das Alte, noch so Ehrwürdige, nicht mehr lebensfähig war. Er hatte den Mut, über Gräber fortzuschreiten, über den Tod hinaus dem ewigen Leben voran. Cato ist gestorben mit seiner Zeit, als ihre letzte und ausgeprägteste Inkarnation, ehrwürdig als Überzeugter, aber schließlich doch nur ein Römer des letzten Jahrhunderts vor Christo, eine zeitliche Erscheinung, späteren Epochen eine Antiquität, für das Leben belanglos. Cäsar ward zum Heiland der neuen Weltära. Cäsar war mehr als ein Römer, mehr als ein Kind seiner Zeit, ja mehr als seine eigene Person. Sein Geist ward zum Geiste ungeborener Völker, sein Schicksal schwoll zu dem Europas an. Cäsar lebt und wird fortleben, solange die Welt nicht stille steht. —

Der symbolische Gegensatz von Cato und Julius Cäsar beherrscht heute das Geschichtsbild des gesamten Westens. Er wirkt aber erschütternder denn je vorher, weil die meisten Catonen es in dieser schnellebigen Zeit persönlich erleben müssen, dass ihr bestes Wollen hauptsächlich, ja beinahe ausschließlich Schaden stiftet. Die Geschichte ist grausam. Was ihrem Geist jeweilig nicht entspricht, das verwirft sie ohne Ansehen seiner sonstigen Tugend. In diesem Zusammenhange hat Calvin die Welt am tiefsten verstanden: wer auserwählt sei, wer nicht, ist an seinem Eigenwerte nicht zu erkennen.

Die Catonen ziehen nun allemal, in wiederum symbolischer lnstinktsicherheit, auch weltanschaulich den Tod verändertem Leben vor; und dass sie damit im Einklang mit dem Weltsinn handeln, beweist die Tatsache, wie selten ihnen das Unheil, das sie herbeiführen, persönlich verübelt wird. Nur bedeutet dieser Einklang mit dem Weltsinn nicht, dass die Catonen nachahmenswürdige Beispiele darstellten, sondern dass der Wille zum Tod dem Verurteilten am besten frommt. Am Emigrantenprobleme wurde mir ganz deutlich, weshalb metaphysischer Instinkt den Selbstmörder unbedingt verurteilt: wer seine Entwicklung im Zusammenhange des Geschehens willkürlich abschneidet — die Willkür besteht auch im Fall erzwungener Auswanderung, wenn die Seele sich dem Schicksal entzieht, während Auswanderung an sich noch keine Emigration im hier gemeinten Sinne zu bedeuten braucht —, der verpasst den Anschluss an die Zukunft für alle Zeit. Wir gehören nun einmal dorthin, wohin wir gesetzt wurden: in unseren Körper, unser Land, unsere Zeit. Der Emigrant entzieht sich willkürlich den Einflüssen, die seine Seele zu einem schöpferischen Gliede neuer Zusammenhänge umgeschaffen hätten; also kann er dort nie mehr etwas bedeuten, wo die Menschen indessen fortgewachsen sind. Nur die Russen, welche den Bolschewismus wenigstens innerlich erlebt haben, sind zu Russlands Neuaufbau berufen, nur die Balten kommen für die Zukunft ihrer Heimat in Betracht, die sich im Einklang mit der neuen Lage erneuert haben; und wenn die deutschen Reaktionäre im Raum nicht ausgewandert sind, so sind sie’s doch in der Zeit, weshalb auch sie für ihr Land nie mehr viel bedeuten werden. Wo es Bestehendes zu vertreten gilt, wo Routine unter allen Umständen entscheidet, also bis zu mittleren Verwaltungsposten herauf, werden sie weiter gute Dienste leisten, nie mehr jedoch als Führer im Sinne von Wegweisern. Mögen Starrsinnige noch so ehrwürdig als überzeugte sein — historisch betrachtet gehören sie den Toten an. Sie mögen als Typen fortleben bis zu Kind und Kindeskind — das Völkerleben lässt sie hinter sich, wie die Schlange die abgestoßene alte Haut. Die Schlange nun, die sich häutet, ist deshalb nicht untreu gegen sich selbst, sie ist bloß lebendig und schöpferisch; wer keine Wandlung durchmachen kann, ohne charakterlos zu werden, ist entweder oberflächlich oder zur Leblosigkeit erstarrt. Diese Wahrheit begreifen Catonen nie. Ihnen muss unfasslich bleiben, wie der ehernste, diesem flüssigen Zeitgeist fremdeste, dem heroisch antiken nächste Charakter des heutigen Europas, Stefan George, sein Kriegsgedicht mit den Versen schließen konnte:

Der Kampf entschied sich schon auf Sternen: Sieger
Bleibt, wer das Schutzbild birgt in seinen Marken,
Und Herr der Zukunft, wer sich wandeln kann.

Wandlungsunfähigkeit beweist, noch einmal, wo kein Verstorbensein in Frage kommt, metaphysische Oberflächlichkeit; ihr bloßes Vorhandensein macht deshalb den Staatsmann als Staatsmann unmöglich, ihn, der es berufsmäßig mit der Dauer (nicht dem einmaligen Zustand) des Lebens zu tun hat. Jede Gestaltung ist wesentlich sterblich; was einmal lebendiges Ausdrucksmittel war, ist später tote Haut; was einmal den Fortschritt förderte, wirkt irgendeinmal fortschrittsfeindlich. Und dies gerade im Sinn der Erhaltung des Erhaltenswerten. Ernst Bertram sagt in seinem Nietzsche-Buch:

Alles Revolutionäre unterliegt und dient dem Gesetz, dass es dem bekämpften Dauernden in seinem besten Wesen gerade zu weiterer Dauer verhelfen muss. Revolution, vor allem geistige — aber jede Revolution ist zuletzt geistig —, ist das Jungbad des Dauernden. Catilina ist, mit Nietzsche, die Präexistenzform jedes Cäsar: alles groß Legitime hat das Stadium anrüchiger und verbrecherischer Illegitimität zu durchmessen; aber alles Cäsarische bedarf auch immer wieder der Taufe des Catilinarischen. Cäsar ist immer schon ein Erbe, der sich einer thronräuberischen Kraft in sich erinnern muss, um nicht in bloßer augustinscher Legitimität zu verdorren; aber Catilina ist auch schon Cäsars Ahnherr und in den Ablauf der Dinge noch in der Empörung bereits legitim eingeordnet. Immer sind die Bringer des frevelnd Neuesten und Unerhörtesten zugleich gerade die Wahrer und Wiederheraufführer des am längsten Gehörten.

Insofern sind nicht die Cäsaren, nicht einmal die Catilinarier, die eigentlichen Feinde des Alten, sondern gerade die Catonen, denn in der Geschichte herrscht das Gesetz der Wiederverkörperung; alles Alte muss irgend einmal sterben, auf dass das wesentlich Gleiche weiterlebe.

Folglich müssen die Catonen bekämpft werden; sie müssen es deshalb, weil nur ihre endgültige Niederlage die Konsolidierung neuen Lebens gewährleistet. Zu überzeugen sind sie nicht, in abstracto haben sie sehr häufig recht: einen heute wiedererscheinenden besten Vertreter der Antike, des Mittelalters, der Renaissancezeit würde ich persönlich jedem Modernen vorziehen. Die Catonenart stellt einfach kein mögliches Verkörperungsmittel für den erneuten Geist des Lebens dar — hier liegt der springende Punkt. Deshalb mühte sie um ihre historische Bedeutungsmöglichkeit gebracht werden, selbst wenn der nächstfällige geistig-seelische Typus minderwertiger wäre. Oft war er dies; der kaiserliche Durchschnittsrömer stand unstreitig unter dem republikanischen, trotz dessen geistiger Beschränkung. Desgleichen kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der französische Aristokrat des 18. Jahrhunderts einem edleren Typus angehörte, als der seither das Land beherrschende Bourgeois, und dass die Umschichtung, welche Weltkrieg und Revolution in ganz Europa — und nicht allein Europa! — eingeleitet haben, zunächst dem Schlechten am meisten zugute kommt. Der Kampf ums Dasein verhilft ja von sich aus nicht dem Besten zum Sieg, sondern dem Angepasstesten, und dies sind unter widrigen Verhältnissen Parasiten, Eingeweidewürmer, Maden … Das Edle unterliegt dem Minderwertigen überall, wie die Kulturpflanze dem Unkraut, wo es durch Privilegien nicht geschützt wird. Insofern findet zweifelsohne seitdem 18. Jahrhundert eine allgemeine Niveauverschlechterung Europas statt. Aber dieser ist nicht dadurch abzuhelfen, dass man sie aufhält, sondern nur dadurch, dass man das Hochkommen neuer, zeitgemäßer Qualität fördert und beschleunigt; man soll nicht rückwärts streben, sondern der Zeit im Geist vorauseilen und von der als möglich erkannten besseren Zukunft her die Gegenwart beeinflussen. Dazu besitzen wir doch die Gabe der Phantasie, um vorweg zu nehmen und von uns aus zu realisieren, was von selbst, wenn überhaupt, viel später würde2. Bald kann nun ohne Frage ein Typus bestimmend werden, der allen bisherigen überlegen wäre; insofern ist die Lage viel günstiger, als je seit dem Ausbruch der französischen Revolution. Auch der historische Mensch gestaltet sich im Wechselverhältnis zu seiner Umwelt, nicht anders wie die Fauna jeweiliger geologischer Formation; es finden jedesmal solche Veränderungen im Organismus statt, die ein Fortleben unter den neuen Verhältnissen ermöglichen. Die heutige Weltkrisis nun kennzeichnet die für die Entwicklung überaus günstige Zwangslage, dass ein geistiger Fortschritt stattfinden muss, wenn die abendländische Menschheit sie überleben soll. Das Führerniveau ist allenthalben viel zu niedrig für die Aufgaben der Zeit, nirgends die Einsicht diesen auch nur einigermaßen gewachsen. Auf allen praktischen Gebieten gilt das Gleiche, was ich in meinen Schriften und Vorträgen, die in den Rahmen der Schule der Weisheit hineingehören, für den Führer in eine bessere geistig-seelische Zukunft als unerlässlich hinstelle: es muss eine neue Tiefenregion im menschlichen Inneren, die in der Fähigkeit, den Sinn unabhängig vom Buchstaben zu erfassen, ihren Könnensausdruck hat, bestimmend werden, sonst geht es einfach nicht weiter. Nur ein solches Konsortium wird Europa ökonomisch sanieren, indem mindestens das Niveau eines Hoover bestimmt, nur das Land neue Dauerwerte schaffen, in welchem mindestens die Intuitionskraft eines Hugo Stinnes entscheidet; und was die so gänzlich verfahrene politische Situation betrifft, so wäre zu deren Entwirrung die höchste politische Begabung aller Zeiten knapp gut genug. Nun, wenn dem so ist, dann sind die denkbar günstigsten psychologischen Bedingungen dafür vorhanden, dass das erforderliche Niveau recht bald bestimmend werde; nur deshalb weist das bolschewistische Russland allen anderen so unglaublich überlegene Führer auf, weil es sonst keinen Monat weiter bestehen könnte. Die erforderliche Veränderung wird dieses Mal einen Fortschritt bedeuten, weil es nur die Alternative zwischen solchem und Untergang gibt — bloße Veränderung tut es diesmal nicht. Überall ist auch schon tatsächlich ein höheres Geistesniveau auf dem Wege zur Führerschaft, aus dem sehr realen Grund, dass alle Minderbegabten unterwegs, so oder anders, früher oder später Schiffbruch erleiden, und der allgemeine oder objektive Erkenntnisfortschritt, den unsere Zeit verkörpert, Höchstbegabte schneller und leichter erkannt werden lässt, als früher geschah. Dass die Auslese bisher nur eine geistige Elite schafft, die sonst viel, manchmal alles zu wünschen übrig lässt, ist eine typische Übergangserscheinung, die so lange andauern wird, bis dass ein wiedererreichtes stabiles Gleichgewicht ethischen Norm-Werten neue Bedeutungsmöglichkeit gewährt. Aber der anständige Mensch von morgen wird, wofern er führen soll, nicht mehr dümmer sein dürfen als der Schieber von heute. Aus der Not der Zeit ergibt sich — zunächst als Forderung — eine so ungeheure Erhöhung des geistigen Mindestniveaus einer möglichen Führerschicht, dass das als Norm anerkannte menschliche sich jenem wird angleichen müssen. Also der vornehme Mensch wird in Zukunft unter allen Umständen auch Verstand haben müssen, sonst kann er nichts mehr bedeuten. Die Zeiten, wo man sich auf den Spruch Deutsche Treue, welsche Tücke hin einer Niederlage brüsten durfte, sind vorbei. Aus diesem Grunde muss, noch einmal, alles drangesetzt werden, damit die Catonen schleunigst von der Bildfläche der Geschichte verschwinden. Dies gilt besonders von Deutschland. Nicht allein, weil es sich in besonders schwerer Lage befindet, sondern vor allem deshalb, weil in keinem Lande Europas das bestimmende Niveau ein dermaßen niedriges war und ist; herrschen rechts unbelehrbare Routiniers, so bestimmen bei den linken Parteien Parteidoktrinäre und Ideologen, d. h. auch Catonen, nur eben Catonen ohne die Rechtfertigung der inneren Vornehmheit. Wenn Deutschland nicht allein im Kriege unterlag, sondern in jeder Verhandlung seither, so liegt dies, trotz der Machtverhältnisse, vor allein daran, dass seine Führer, bei noch so großem Wissen und Können, ein so geringes Persönlichkeits- und Einsichtsniveau besaßen, dass sie die bloße Sprache ihrer Gegner — ganz Europa außer dem offiziellen Deutschland redet eine geistige Sprache — nicht verstanden; wenn Deutschland noch immer ohne jede werbende Kraft dasteht, so liegt dies daran, dass sein sichtbar bestimmendes Menschheitsniveau (von der momentanen moralischen Feigheit des Gesamtvolks sehe ich in diesem Zusammenhang ab) entweder minderwertig ist, oder aber historisch Verjährtem angehört. Letzteren Fall illustriert am besten Hindenburg. Diesem eignet ohne Zweifel echte Größe, nur gehört er als Niveau etwa dem Preußen Friedrich Wilhelms I. an und dürfte daher heute nicht mehr als Höhepunkt gelten; nur der verstehendsten Seele, dem umfassendsten Geist, auf der Basis Hindenburgischer Charakterkraft, gebührte das Prestige, das der große Heerführer bei vielen sonst Urteilsfähigen als Gesamtpersönlichkeit genießt, denn nur Menschen solchen Niveaus werden Völker in Zukunft zu ihrem Heile führen können. Und hier komme ich zum Hauptargument der Catonen. Diese beanspruchen Hindenburgs Vorzüge als Monopol; man könne heldenmütig, würdig, tapfer, ehrlich, national nur sein, wenn man dem Catotypus angehört. Mitnichten: Jedes Niveau aller Zeiten kann die gleichen moralischen Eigenschaften besitzen. Diese gehören grundsätzlich zum Selbstverständlichen; wo sie fehlen, handelt es sich um Zurückgebliebenheit oder um einen physiologischen Kollaps, der wiederum jedes Niveau pathologisch befallen kann; ebenso wie der klassenlose Gentleman aller Völker die Eigenschaften selbstverständlich besitzt, die früher nur dem Edelgeborenen anhingen, ebenso werden die besonderen Vorzüge des Catonentypus bald bei allen zivilisierten Völkern als moralische Mindestausstattung gelten. Das Problem Deutschlands liegt nicht so, dass wieder das Hindenburg-Niveau bestimmend werden soll, sondern ein höheres, viel höheres, dem aber die Vorzüge jenes selbstverständlich eignen müssten. Diese Forderung ist als solche festzuhalten, gleichviel, ob entsprechende Führer schon leben oder noch nicht: eben dadurch werden sie entstehen. Was der Zeitgeist verlangt, tritt notwendig einmal in Erscheinung. Begabungen aller Art gibt es zu aller Zeit, sie entwickeln sich je nach den Forderungen, die an sie gestellt werden3, und erlangen Bedeutung je nach den Voraussetzungen der Epoche4. Insofern ist ein Volk immer selbst schuld daran, wenn es keine guten Führer hat, wird sich speziell Deutschland freiwillig um seine mögliche Zukunft bringen, wenn es Typen weiter als Vorbilder verehrt, die den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen sind.

Nun erst kommen die deutschen Catonen mit ihrem, in ihren Augen, den Ausschlag gebenden Argument: wer heute von einer besseren Zukunft redet, der sähe nicht das Elend dieser Zeit, dem fehle das Herz für den Untergang so vieler Menschen und Werte, der sei gesinnungsloser Optimist. Nun, wer auf der Grundlage der Einsicht, dass Deutschlands vergangene Größe unwiederbringlich hin ist und es nur zwei Alternativen gibt: entweder unterzugehen oder Neues, Besseres zu schaffen, was Deutschland vor den andern Völkern einen Vorsprung gäbe, den Weg weist, die zweite zur Wirklichkeit werden zu lassen, den treffen solche Vorwürfe nicht mehr, wie den Feldherrn, der trotz feindlicher Übermacht an den Erfolg glaubt, seinen Glauben den Mutlosen aufdrängt und zum hohen Ende des Siegs seinen Soldaten Strapazen zumutet, nötigenfalls Hunderttausende von ihnen in den Tod schickt. Wenn die Welt sich erneuert, dann sind schwerste Opfer unter allen Umständen unvermeidlich; sie sind es zumal für das Volk, das die Erneuerung im Zustand äußerster Geschwächtheit durchleben muss. Es fragt sich einzig, ob ein Neuaufstieg durch dieselben erreicht werden kann oder nicht. Ist ein guter Ausgang überhaupt denkbar, dann darf zu so kritischer Stunde auf die zu bringenden Opfer keine Rücksicht genommen werden. Soviel wird jeder Cato theoretisch zugeben. Leider sieht nur keiner das Folgende ein: dass das Verweilen beim Elend, der Schmach usw. unter den heutigen Verhältnissen genau die gleiche Unmannhaftigkeit bedeutet, wie das Verweilen bei den Strapazen in siegverheißender Schlacht; dass wer heute nur von Heroismus und nationaler Zusammenfassung hören will, damit allein das freilich unerlässliche Mittel gelten lässt, die Frage des Ziels jedoch überhaupt nicht stellt; vor allem aber, dass das nicht zurückerobert werden kann und dafür folglich nicht mehr gekämpft werden darf, was er allein als erhaltungswürdig ansieht. Für das Altpreußentum, die traditionelle Monarchie, oder im Fall der linksseitigen Catonen: für das kommunistische Ideal, die Demokratie im achtundvierziger Sinn, im Osten für das traditionelle Balten: und Russentum ist vernünftigerweise ebenso wenig mehr zu kämpfen wie für das Sauriertum; diese Lebensformen sind verjährt, so weit sie, was vom kommunistischen Staat nicht gilt, je längeren Lebens fähig waren. Ebenso wenig hat der Kampf gegen den Sozialismus, so wie ich diesen verstehe (vgl. die betreffenden Stellen der Mission und in Wirtschaft und Weisheit), noch irgendeinen Sinn. Richtig verstandener Konservativismus bedeutet nicht kämpfen um Unwiederbringliches, sondern zurückbeziehen des unvermeidlich gewordenen Neuen auf die alten Wurzeln, so dass zu organischem Fortwachsen wird, was als mechanischer Neuanfang geplant war. Kein Cato wird dies zugeben. Nun, dann verharre er eben in seiner Blindheit. Sie ist insofern kein Unglück, als die Starrsinnigkeit der Unbelehrbaren zu kritischen Zeiten die Veränderung nicht verlangsamt, sondern beschleunigt — sie beschwört wieder und wieder Krisen, deren Ausgang das Neue gegenüber dem Alten stärkt. Im übrigen reguliert sie dessen Ablauf, indem sie, durch ihr bloßes Vorhandensein, eine stete Orientierung des Werdeprozesses auf das Alte hin bedingt und so für die Kontinuität sorgt.

Verlangsamung des historischen Fortschrittes an sich ist überhaupt kein Übel, im Gegenteil: angesichts der Einseitigkeit und Blindheit aller Parteimenschen ist sie die Hauptgewähr dafür, dass trotz allem gewollten Falschen auf die Dauer doch das Erforderliche entsteht. Man kann sogar mehr sagen: gäbe es die Dummheit und die Trägheit nicht, wir wären schon längst beim Jüngsten Gerichte angelangt. Nur deshalb erhält sich soviel Erhaltenswertes durch die Jahrtausende hindurch, weil die Mehrzahl die fälligen oder auch schon zeitweilig eingetretenen Veränderungen nicht merkt und Phantasielosigkeit ebenso sicher Wirklichkeit schafft wie Phantasie. Nur dürfen die retardierenden Elemente niemals führen, sie sind am Platz in der Opposition. Und zu kritischen Zeiten, wo es Mutation5 gilt, sind sie mit aller Macht zu bekämpfen, weil dann die Entwicklungsgeschwindigtkeit über ein gewisses Tempo hinaus nicht aufgehalten werden darf; zu solchen Wendepunkten können wenige Catonen von Prestige die Zukunft eines ganzen Volks verspielen, und eine der größten solcher Wenden aller Zeiten durchleben wir. — Nun, die Wandlung als solche wird von den besten Deutschen unbedingt bejaht. Von diesen fühlen wohl alle, dass Deutschlands Zusammenbruch metaphysisch selbstverschuldet war6, dass das Wilhelminische keinen Höhepunkt deutscher Geschichte darstellte, dass die Form, die deutscher Kraft ihre volle historische Auswirkung ermöglichte, noch nicht gefunden ist. Deshalb suchen sie alle nach neuer Formung, und dieses desto mehr, als sie erkennen, ein wie sehr junges Volk das deutsche von heute ist — im 19. Jahrhundert hat es sich, wie Rathenau richtig ausführt, zugleich mit seinem Zahlenzuwachs umgeboren —, weshalb es gerade für dieses in Kategorien nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft zu denken gilt. Was ist Deutschlands wahre Sendung? Wie soll es sich herausfinden aus dem heutigen Elend? So fragen alle zukunftsbewussten Deutschen. — Hier setzt meine Aufgabe ein.

Sehr verständlicherweise laufen die Catonen gegen mich mit besonderem Ingrimm Sturm, seitdem ich mich mit aktuellen Fragen abgebe, denn erstens verdrießt es sie, dass jemand eine bessere Zukunft weist, in der ihre Art keine Führerrolle spielen kann, und zweitens lebe ich persönlich nur der Zukunft und stehe durchaus auf dem Standpunkt Jesu Christi, dass die Toten ihre Toten begraben mögen — wo ich doch durch Geburt und Stellung verpflichtet scheine, unter Catonen ein Cato zu sein. Und ihre Feindschaft wird immer mehr zum Hass, seitdem sie merken, wie sehr, wenn nicht alle Tatsachen — deren geistig unvoraussehbare Folge habe auch ich, selbstverständlich, oft nicht richtig erraten —, so doch, was wichtiger ist, alle Verschiebungen auf dem Gebiet der Imponderabilien mir fortschreitend recht geben, ferner, wie wenig ihre Geschosse mir antun, welch letzterer Umstand ihnen unbegreiflich bleibt. Diesen will ich ihnen erklären. Jene können mich nicht treffen, weil ich überhaupt nicht Politiker und Tageskämpfer bin. Es ist nicht meine Sache, zu den praktischen Fragen des Augenblicks Stellung zu nehmen; wer meine grundsätzlichen Worte vom Standpunkt seiner Partei, der zeitlichen oder taktischen Opportunität beurteilt, der missversteht mich ganz, und dem geschieht es nur recht, wenn meine Lehren ihm schaden. Auch über aktuelle Fragen schreibe ich ausschließlich vom Ewigkeitsstandpunkt, d. h. ich weise vom Sinn her unmittelbar das Ziel, unbekümmert um den Weg, dessen Absteckung ich anderen überlasse. Die Catonen nun beurteilen alles, was ich sage, als Weg zu ihrem Ziel zurück — ein neues können sie sich nicht vorstellen —, und daraus ergeben sich denn ganz logisch die drolligsten Vorwürfe. Ich soll gegen die nationale Würde sein, weil ich ein höheres und umfassenderes Ideal als das ihre vertrete, im üblichen schlaffen Sinne Pazifist, weil ich ein friedlich vereinigtes Europa als einzig möglichen Endzustand hinstelle, Masochist, weil ich zeige, dass es aus der Schmach von heute einen Ausweg gibt, gegen Deutschlands politische Selbständigkeit, weil ich behaupte, dass Deutschlands Schwerpunkt nie auf politischem Gebiete liegen kann — usw. Gerade das, was mir vorgeworfen wird, was dank der allgemein-menschlichen Hammelhaftigkeit in weiten Kreisen auf Grundlage törichter Zeitungsschreibereien als feststehende Wahrheit blind geglaubt wird, bin ich nicht7. Ich sage sogar mehr — und wer nach Lektüre dieser Schrift noch das Gegenteil von mir behauptet, verleumdet mich bewusst —: wer nicht einmal selbstachtend, tapfer, bereit, sein Recht zu erkämpfen, seine Würde zu wahren, wer nicht einmal national empfindend ist, der kommt gerade für die Zukunft, die ich meine, nicht in Frage. Hier handelt es sich um moralische Selbstverständlichkeiten, welche denen, welchen sie abgehen, beizubringen, ich anderen überlasse8.

1 Diese Schrift steht jetzt im Sammelbande Philosophie als Kunstzu lesen. In ihr habe ich das Meiste grundsätzlich schon gesagt, was für die seither in die Erscheinung getretene Weltwende gilt.
2 Vgl. hierzu die Studien Worauf es ankommt und Antikes und modernes Weisentum in Schöpferische Erkenntnis (Darmstadt 1922, erscheint bzw. erschien im Mai d. J.). Dort lege ich dar, inwiefern es die vornehmste Aufgabe des Menschen ist, das Schicksal zu überwinden.
3 Vgl. hierzu Individuum und Zeitgeist in Philosophie als Kunst.
4 Genau ausgeführt habe ich diesen Gedanken im Vortrag Die Symbolik der Geschichte in Schöpferische Erkenntnis.
5 Vgl. hierzu Was uns not tut S. 35 ff.
6 Genau begründet habe ich diese Behauptung in meiner Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.
7 Vgl. hierzu besonders meinen Aufsatz Volksbewusstsein und Weltbürgertum im Anhang zur Mission in diesem Buch; ferner die Studie Idealismus und nationale Erziehung in Philosophie als Kunst, in der ich ausdrücklich gegen den abstrakten Idealismus der deutschen Kosmopoliten Stellung nehme und für die Pflege nationaler Gesinnung eintrete, sowie den Deutschland betreffenden Schlussabschnitt der Abhandlung über die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen im gleichen Sammelband.
8 Wie wenig Gefallen gerade ich an der Selbstpreisgabe des nachrevolutionären Deutschlands finde, beweist meine Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst sowie der folgende Passus zu Beginn der Bücherschau im zweiten Heft des Weg zur Vollendung:
Dank dem Gewaltfrieden von Versailles ist ein rechtbestimmtes Europa keinesfalls mehr auf dem Wege herzustellen, wie dies Anno 1916, als beide Seiten noch annähernd gleich stark waren, durch vernünftiges Übereinkommen möglich gewesen wäre, oder noch 1918 und 1919 dank supremer Weisheit der Alliierten. Jetzt spielt die Entente die Rolle wie vormals das blinde Deutschland, und die realen Mächte sehe ich nicht, dank denen sich in absehbarer Zeit ein abstrakter Rechtsgedanke durchsetzen könnte. Jetzt kann das Recht nur dadurch schließlich siegen, dass Deutschland sich nicht ausbeuten lässt. Also verlangt gerade das Ideal, das F. W. Foerster vertritt, heute heroisch nationale Gesinnung. Er aber vermag dies nicht zu sehen; sein Mangel an praktischem Blick verdunkelt auch sein metaphysisches und ethisches Bewusstsein. Es ist unzulässig, das Vorgehen der Entente seit 1918 dadurch zu rechtfertigen, dass Deutschland früher Schlimmeres vollbracht und im Fall eines Sieges keinen besseren Frieden diktiert hätte. Die Ebene des Guten ruht oberhalb der des Vergeltungsgedankens. Mit dem Augenblick, wo die Entente den Frieden im Geist der Gier und Rache schloss, war ihre moralische Überlegenheit dahin. In der Geschichte gibt es nur lebendige Gegenwart. Foerster ist, was er auch sage, auf seine Art ein Reaktionär. Er glaubt an das endgültig tote vorbismarckische Deutschland, verkennt die Notwendigkeit von Bismarcks Werk, bei dem alle bessere Zukunft, gerade im Sinne Foersters, anknüpfen wird, und wähnt aus der Erkenntnis begangener Fehler heraus sein Volk zu erneuern. Diese Erneuerung kann ausschließlich aus heroischem Zukunftswillen heraus geschehen, allein durch Kräfte, welche Neues an die Stelle des sterbenden Alten setzen. Wie, wenn die friedliche Vereinigung durch die Weitsicht einiger Großindustrieller geschähe? Ich sage nicht, dass es so kommen wird, aber dieser Weg ist wahrscheinlicher als jeder von weltfremden Ideologen gewiesene. —

Auf diesen Passus hin hat Friedrich Wilhelm Foerster in der Menschheit vom 3. Dezember 1921 (Kommissionsverlag Friede durch Recht, Ludwigsburg) eine längere Absage an mich geschrieben, die der Verlag Interessenten als Sonderabdruck kostenlos versendet: diese empfehle ich allen denen zu lesen, die mich für einen Pazifisten im Sinne Foersters halten. Foerster ist mit mir sehr unzufrieden, so vornehm er sich ausdrückt. Der Geist Bismarcks hätte über mich Macht gewonnen, er, dessen Werk ganz und gar undeutsch ist, das in Widerspruch zu allen Erbschaften der deutschen Geschichte stand, der das deutsche Volk nicht geeinigt, sondern zerrissen hat. (Ich zitiere den Satz gekürzt, aber dem Sinne nach nicht entstellt). Wer von Bismarck ist, stirbt daran, so könnte man mit Benutzung eines bekannten Wortes sagen, ruft er mir weiter zu — und schließt, dem guten Beispiel Deutschnationaler folgend, mit einer Warnung an das deutsche Volk, mich als Führer anzuerkennen, weil ich es aus der Anbetung der Gewalt nicht hinausführte. Foerster missversteht mich ebenso, wie die, welche einen buddhistischen Nihilisten in mir sehen; er muss mich missverstehen, weil er reiner Ideolog ist, ohne jeden politischen Instinkt. Aber dieses Missverständnis freut mein Künstlergemüt, weil es zu den üblichen in bestem kontrapunktischen Verhältnis steht.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Einleitung
© 1998- Schule des Rades
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