Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission

Um Frankreich

Das in der Tiefe verderblichst wirkende Charakteristikum der Weltkriegsstimmung ist wohl dies, dass sich dank ihr die immer vorhandenen Unterschiede in der Denkart der verschiedenen Völker zu seelischen Scheidewänden von hermetischer Undurchlässigkeit verdichtet haben. Wie der russische Bauer jeden Gebildeten für unaufrichtig hält, einfach weil er ihn nicht versteht, so herrscht heute aus dem gleichen Grunde unbegrenztes Misstrauen zwischen den ehemals kriegführenden Parteien. Ich will hier die Frage unerörtert lassen, inwiefern beide sachliche Ursachen zu solchem haben mögen: die Grundursache ist und bleibt das gegenseitige Nichtverstehen.

Den Deutschen wird, mit voller Berechtigung, psychologische Ungeschicklichkeit vorgeworfen, denn in der Tat, zumal mit der französischen Seele verstehen sie schlecht zu rechnen. Aber ist es den Alliierten je in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob sie nicht in bezug auf Deutschland und Russland gleichfalls sehr ungeschickt verfahren? Den Russen gegenüber wird dauernd auf die zu bezahlende französische Schuld gepocht: in Anbetracht des gänzlich unkapitalistischen und an seelischen Werten orientierten russischen Denkens hat dieser eine Umstand dazu genügt, dass Frankreich heute in den Augen der überwältigenden Mehrheit des russischen Volkes als Symbol des Ausbeutertums dasteht. Für das deutsche Bewusstsein ist es aber unfasslich, dass eine moralische Schuld, wie solche Deutschland von seiten der Alliierten zuerkannt wird, dadurch aus der Welt geschafft werden könnte, dass es diesen unbegrenzte materielle Vorteile bietet. So gern es bereit wäre, den tatsächlichen Schaden, soweit seine Kräfte reichen, wiedergutzumachen — die alliierte Logik seit Versailles muss auf die Deutschen in dem Sinne wirken, dass die innere Bereitschaft zur Anerkennung des Ententestandpunkts stündlich abnimmt und sich bald schwerlich ein Deutscher mehr finden dürfte, der die französische Auffassung überhaupt noch zu diskutieren bereit erschiene. 1919, noch 1920, waren große Mehrheiten dazu geneigt; seit London werden es nur mehr Vereinzelte bleiben. Dies ist der Erfolg eben dessen, was den Deutschen täglich vorgeworfen wird: der Unfähigkeit, mit der Mentalität eines andern Volks zu rechnen.

Nun stehen die Alliierten offiziell allerdings auf dem Standpunkt, dass mit der minderwertigen deutschen Mentalität überhaupt nicht zu rechnen nötig sei. Aber darin irren sie sich. Die Dinge liegen heute sehr anders wie noch vor einem Jahr. Die französische Besetzung hat genau die gleichen Folgen gehabt wie die deutsche in Russland: das Nationalbewusstsein der Okkupierten hat sich gefestigt. Dank Frankreich darf Bismarcks Schöpfung, von der Weite des Gebietes und der besonderen Staatsform abgesehen, als endgültig vollendet gelten. Der allem deutschen Rechtsempfinden widersprechende Londoner Ausspruch von der cause jugée inbetreffs der Kriegsschuld, der als Vertragsbruch aufgefasste erneute Vormarsch weiden die zersplitterten Geister neu zusammen schweißen. So werden sich die Alliierten bald einer passiven Resistenz gegenübersehen, die durch Waffengewalt zu brechen unmöglich ist, welche das deutsche Gemüt immer mehr verhärten wird — mit der unausbleiblichen Folge, dass die psychologische Möglichkeit zur Durchführung des Versailler Vertrages sich, soweit Frankreich in Frage kommt, immer mehr dem Nullpunkte nähert.

Was aber wird dann aus Frankreich? Vor einigen Tagen sagte mir ein Welsch-Schweizer, es wäre doch eine ungeheure Ungerechtigkeit, wenn das Opfer, das Frankreich gebracht hat, unbelohnt bliebe. Ich erwiderte ihm: diese Ungerechtigkeit wird zweifelsohne eintreten, wenn Frankreich seine Politik nicht schleunigst ändert. Frankreich braucht wirtschaftliche Hilfe; die wird es von Deutschland nur in dem einen Fall erhalten, wenn es mit den Tatsachen rechnet, erstens mit Deutschlands Leistungsfähigkeit, zweitens mit der einmal in ihm herrschenden Stimmung. Beginnt Frankreich einen neuen Krieg, so setzt es sich vor der ganzen Welt ins Unrecht. Zur Zwangsarbeit aber sind Arbeiter friedlich nicht zu bewegen. Also müsse Frankreich mit der Psychologie des Deutschen rechnen, wenn es einigermaßen auf seine Kosten kommen wolle. Und dann erzählte ich ihm von meinen Erfahrungen unter den neu befreiten Völkern Osteuropas und manchen alten. Die Welt ist vergesslich; zur Zeit eines allgemeinen Neubeginns zumal denkt jedes nur an die Zukunft, insonderheit die eigene. Fast alle empfinden eine Politik, die der Konsolidierung Europas entgegenwirkt, als jener feindlich, und demgemäß ändern sich die Sympathien. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass Frankreich, trotz allem, was es geleistet, in wenigen Jahren moralisch isoliert dasteht. Ich konstatiere hier nur eine Tatsache, fälle kein Urteil. Sollte bald eine andersgesinnte Kammer, als die derzeitige, zur Herrschaft gelangen, dann könnte noch manches gut werden. Allein das Schicksal dieser Epoche scheint es zu wollen, dass die Vernunft immer ein wenig zu spät über die Leidenschaft den Sieg erringt …

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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