Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Wirtschaft und Weisheit

Solidarität

Damit dieser zustande kommt, brauchen die Wirtschaftsführer, wie ich hier nur kurz bemerken will1, durchaus keinen Idealismus in ihr Geschäftsleben, als Technik betrachtet, hineinzutragen. Geschäfte müssen lukrativ sein, ebenso wie Landwirtschaft rentabel sein muss, Kunst den Schönheitssinn befriedigend, Philosophie wahrhaftig. Jedes Gebiet hat seine besondere Ästhetik, und der Praktiker fehlt gegen die des seinen, der dort Idealismus zeigt, wo dieser nicht hingehört. Er sündigt gleichzeitig gegen den Sinn der Welt, der auf geistig-seelischem Gebiete genau so sehr die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung heischt, wie auf mechanischem. Durch Schenken schadet man meist; die volksbeglückenden Agrarreformen im Osten haben den Charakter der Bauernschaften auf Jahrzehnte verdorben; keine erwies sich seit der Revolution als schlechter wie die von Jassnaja Paljana, dem Besitztum des allesverschenkenden Tolstoi. Aber damit eine gegebene Betätigung sinn-, oder idealgemäß werde, braucht sie als solche nicht verändert zu werden, nicht mehr, wie es einer Änderung der Grammatik bedarf, um einen neuen, besseren Gedanken sprachlich auszudrücken. In unserem Falle kommt es einzig darauf an, welcher Geist in der wirtschaftlich betriebenen Wirtschaft zur Auswirkung gelangt. Nicht einmal das tut not, dass diese sich äußerlich dem neuen Geist gemäß sogleich verändere: dass etwa Rathenaus neue Wirtschaft eingeführt würde oder Wilbrandts Gemeinwirtschaft die bestehende Tauschwirtschaft sichtbar ablöste. Es kommt zunächst auf etwas rein Innerliches an: dass die Wirtschaftsführer sich ihrer ungeheuren Macht und folglich Verantwortung bewusst würden, ihre neue Würde erkennten und dadurch die Weite des Gesichtsfeldes und innere Überlegenheit gewännen, die den Herrscher kennzeichnet2. Sie müssen tiefer verstehen als früher, eine größere Gesinnung gewinnen — wenn sie erst so weit sind, dann mögen sie ruhig weiter als Geschäftsleute Geschäfte machen, der Erfolg wird ein völlig anderer sein. In allen wesentlichen Zusammenhängen kommt es viel weniger darauf an, was einer, als wer etwas tut, es kommt auf den persönlichen Hintergrund des Handelns an3. Persönliche Größe gibt beliebigem Wirken einen andern Sinn. Das besondere Tun wird bei genügender Größe schließlich gleichgültig, entsprechend der indischen Lehre, dass alle Taten abfallen vom Wissenden. Dies besagt auf ökonomischem Gebiet: es wären überhaupt keine technischen Reformen vonnöten, wenn die bestimmenden Menschen höher stünden. Heute nun ist es das erste Gebot der Zeit, dass die Wirtschaftsführer Herrschereinsicht und -gesinnung in sich pflegten; sie dürfen ebenso wenig mehr bloße Techniker und Spezialisten sein wie Könige Polizeiwachtmeister oder Militärs. In Zukunft werden allenfalls Politiker Spezialisten sein dürfen, ihrer geringen Bedeutung gemäß. Wirtschaftsführer dürfen auch keine bloßen Arbeitstiere mehr sein, wie leider so viele4, sie müssen unmittelbar vom Sinn des Ganzen her das Einzelne betreiben lernen. Lernen sie dies, dann wird ihnen das Große beschieden sein, zu Einführern einer wahrhaft besseren Welt zu werden.

Der springende Punkt ist der, dass die Wirtschaftsführer ihre Macht fortan nicht anders mehr benutzen dürfen wie Könige, Staatsmänner und als Klasse der Landadel, solange die Verwaltung ehrenamtlich in seinen Händen lag; bloß persönlicher Vorteil, Ausbeutung der anderen gar darf nie mehr ihr vornehmstes und letztes Ziel sein. Letztere Gesinnung widerstreitet fortan ihrem eigentlichen Begriff, und folglich Interesse, was sich praktisch darin erweisen wird, dass die Wirtschaftsführer ihres Besitzes und schließlich Lebens nie mehr sicher sein werden, die nicht dem Wohl des Ganzen entsprechend handeln. Dies setzt nun allerdings eine grundsätzliche Änderung der traditionellen Klassengesinnung voraus. Bisher war der Händler- und Unternehmerstand typischerweise, trotz aller Ausnahmen, die ganze Städte betreffen, der des unverantwortlichen Besitzes; wenn jeder große Staatsmann bis Bismarck und Lord Beaconsfield im alteingesessenen Landadel das eigentliche Rückgrat des Volks sah, so hatte dies kein Vorurteil, sondern die Erkenntnis zur Ursache, dass dieser, seit Generationen mit Scholle und Bevölkerung verwachsen, an Führerschaft und Ansehen gewöhnt, seiner Stellung nach von diesem und nicht dem Reichtum abhängig, typischerweise am meisten von allen Ständen an das Gemeinwohl, und zwar im großen, denkt. Während der Händler ebenso typischerweise keine ererbte Verpflichtung seines Interesses mit dem Gemeinwohl kennt und nur zu leicht dazu neigt, seinen persönlichen Vorteil auf Kosten jenes zu suchen. Dies hat sich zu aller Zeit als wahr erwiesen, außer in den eigentlichen Kaufmannsstaaten; und heute weiß ich von nicht gar so wenigen, welche die erkannte Tatsache, dass eine große Firma unabhängig vom Schicksal Deutschlands weitergedeihen kann, gegenüber diesem gleichgültig macht, die nur darauf warten, dass die Arbeiter, unter dem Druck der Not, ihre sämtlichen Errungenschaften preisgeben, die den Gebietsverlust ihres Vaterlandes aus Gründen persönlichen Vorteils nicht bedauern. Um dieser Gesinnung willen war der Krämer zu ritterlichen Zeiten verachtet; sie hieß Disraeli, den Juden, die gentry gegenüber den Industriellen unbedingt bevorzugen und lässt heute noch gar viele alles Heil von einer Restauration der Vormacht des Landes gegenüber der Stadt erwarten. Aber diese Restauration kann nicht stattfinden. Auf absehbare Zeit gehört alle ökonomische Macht der Industrie, auch auf dem Gebiet der Landwirtschaft, die im großen bald nur mehr Aktiengesellschaften werden betreiben können. Gerade die Rückflutung der Bevölkerungen auf das Land, die heute überall einsetzt, ob unter der Suggestion des Siedelungsgedankens oder der Agrarreform, wird die mögliche ökonomische Machtstellung des Landwirts untergraben. Und in einer Ära, in der die Wirtschaft bestimmt, ist ohne diese nichts im großen auszurichten. Deshalb kann die gentry ihre alte Bedeutung unmöglich wiedergewinnen. Jetzt gilt es, die Gesinnung, die typischerweise bisher nur diese kannte, dem Wirtschaftsführerstande einzubilden; den königlichen Kaufmann gab es doch schon einmal in Venedig, Genua, den Hansestädten, Amsterdam. Ob ein Industrieadel entsteht, wie ja der Landadel auch irgendeinmal entstand, ist eine Erziehungsfrage. Hier vermögen Einsicht und entsprechende Technik alles. Es ist nicht wahr, dass der Wirtschaftsmensch nur selbstsüchtig sein kann, weil er es in der bisherigen Geschichte gewöhnlich war und auch noch heute vielfach ist. Dazu sind wir ja freie Wesen: aus der Einsicht des Notwendigen heraus kann Neues entstehen. —

Nun, die erforderliche Gesinnungsänderung der Wirtschaftsführer war in Deutschland lange schon im Werden und ist heute zum Teil vollzogen. Im Gegensatz zum angelsächsischen Geschäftsbegriff, dessen Sinn merkantilistischem Geist entstammte, sah der beste Deutsche schon lange in der Arbeit soziale Pflicht, waren es beim besten Unternehmer hier Verantwortungsgefühl und Wille zur Schöpfung, nicht Gewinnstreben, die ihn vornehmlich leiteten. Hier war der mittelalterliche Gedanke der Werkgemeinschaft niemals verstorben, hier erlebt er heute eine wunderbare Verjüngung oder Wiedergeburt. Nichts wirkt in diesem Sinn frappanter als der Unterschied in den Kurven der Stahlförderung in Deutschland und Amerika: drüben ein wildes Gezacke, entsprechend der wechselnden Konjunktur, hier eine beinahe stetige Linie: die Arbeiter müssen doch weiterbeschäftigt werden, auch wenn die Zeiten schlecht sind. Daher die schnelle innere (nicht bloß äußere) Umstellung der deutschen Industriellen auf die Forderungen der neuen Zeit; Deutschland war längst, wie kein anderes Land, auf den Gesinnungswechsel vorbereitet, den die neue sozialistische Ära von jedem Unternehmer und Geschäftsmann aller Länder auf die Dauer verlangt; denn Ausbeutung wird bald, d. h. nach Überwindung des möglichen Zwischenstadiums, auf das ich hinwies, nicht einmal bei Negern profitieren, diesen Erfolg wird die bolschewistische Propaganda außerhalb Europas jedenfalls haben. — Die neue Gesinnung beginnt in Deutschland in der Tat, und zunächst nur hier, schon die entsprechenden neuen Gestaltungen hervorzubringen.

Als Beispiel dafür möchte ich den Stinnes-Konzern etwas ausführlicher behandeln, wobei ich übrigens ausdrücklich vorausschicke, dass ich nicht behaupte, er stelle, so wie er ist, schon eine solche Gestaltung dar — viele stehen seinem Sosein, gerade aus dem von mir vertretenen Zukunftsgeist heraus, sehr kritisch gegenüber, und mir fehlen die Sachlichen Grundlagen, um die Frage zu entscheiden —; aber ich sehe in ihm allerdings den Keim dazu und glaube, dass er, falls er sich richtig und günstig weiterentwickelt, zu dem werden kann, was ich in folgendem als seine Endgestalt hinstellen werde. Zweifelsohne liegt es für einen, von einem so überragenden Geist wie Hugo Stinnes geleiteten Trust sehr nahe, sich nach amerikanischem Muster fortzuentwickeln — nur wäre es überaus unweise von ihm, sich diesem natürlichen Gefälle zu überlassen. Weshalb brach denn das alte Deutschland zusammen? Weil es den herrschenden geistigen Imponderabilien so gar keine Rechnung trug, dass alle lebendigen Kräfte der Zeit sich in den Dienst seiner Gegner stellten; dank jenen überwog schließlich deren materielle Macht. Die heute bestimmenden Wirtschaftsführer nun dürfen keinen analogen Fehler begehen, und dieses täten sie, wenn sie aufs amerikanische Geleise übergingen; sie dürfen unter gar keinen Umständen, auf Grund vielleicht überlegener materieller Macht, über die Errungenschaften der Revolution, die Weltanschauung der klassenbewussten Arbeiterschaft, zur Tagesordnung übergehen. Deren Ideale sind nicht bloß Undurchführbarkeiten (was sie, rein buchstäblich genommen, in ihrer Mehrzahl sind) —, sie sind in erster Linie reale Glaubensmächte, und zwar keine willkürlich konstruierten, sondern solche, die aus dem tiefsten Grund des Geisteswesens gespeist werden, der Sehnsucht nach tieferer Solidarität, nach menschenwürdigerem Zusammenleben; daran ändert alles praktische Versagen ihrer Bekenner nichts. Diese geistigen Mächte sind nun schon heute überaus stark und werden desto stärker werden, je mehr sie sich mit der sonstigen Wirklichkeit auseinanderzusetzen haben und eben dadurch ihr eigenes Wesen realisieren. So gehören denn die neuen Ideen- und Sehnsuchtsmassen, so sehr sie praktisch ad absurdum geführt scheinen, zu den allerrealsten der vorhandenen Kräfte; sie gehören, geschäftlich gesprochen, zur Konjunktur, und es ist stümperhafte Kalkulation, sie nicht in Rechnung zu stellen. Faktisch kann nun ein genügend begabter Praktiker unter allen Umständen, mit allen Mitteln seinen Vorteil finden, genau so wie der Staatsmann — er muss nur innerlich über ihnen stehen5. Auf dieses Innerliche kommt alles an. — Nun, soweit sich dies heute übersehen lässt, hat der Stinnes-Konzern den gemäß dem Ausgeführten richtigen Weg schon eingeschlagen. In Hugo Stinnes Augen gehen — so sprach er es 1920 in der Sozialisierungskommission aus — Vertrustung und Sozialisierung parallel; gewiss nicht Sozialisierung im sozialdemokratischen Verstand, sondern in dem der Akzentverlegung auf das gemeinwirtschaftliche Interesse in der Privatwirtschaft6.

Und nun kommt die Hauptsache: die Vertrustung geschah und geschieht in den wichtigsten Fällen nicht durch Ankauf, sondern durch freie Vereinbarung, auf Grund des Zieles besserer Organisation, größeren Vorteils für alle Teile; was in Amerika Monopol bedeutet, bedeutet hier also Vergesellschaftung. Wenn überaus viele Unternehmer draußen bleiben, zum Segen der Kultur der Initiative, so treten doch immer mehr freiwillig dem großen Organismus bei, wo sie nicht anderen beitreten, die sich am Stinnes-Konzern ein Beispiel nehmen und eben deshalb auf die Dauer mit ihm werden zusammen arbeiten müssen. Auf diese Weise durchwächst der Stinnes-Konzern allmählich ganz Deutschland. Käme es schließlich dahin, dass durch Kleinaktien und den besonderen Verhältnissen angepasste Kooperative, durch An- oder Eingliederung der Gewerkschaften und sonstigen Berufsverbände die Arbeiterschaft, zuletzt das ganze Volk beteiligt werden könnte, so trüge ein Wirtschaftsorganismus die ganze Nation, und ein völlig Neues wäre in die Welt gesetzt: die Volksgemeinschaft nicht auf der Basis der Staatsmacht, sondern der Werkgemeinschaft. Besitz würde, ähnlich dem mittelalterlichen Zustand, wesentlich zur Verwaltung- und Verantwortung, wie denn Hugo Stinnes schon heute viel mehr vertritt, als er persönlich besitzt, produktive Arbeit zum Normalausdruck des schöpferischen Volksbewusstseins. Bei der neuen Wirtschaftsform handelte es sich weder um Privat- noch um Staatswirtschaft, weder um Individualismus noch um Sozialismus, sondern um eine völlig neue Gleichung zwischen Einzelnem und Volk, etwas dem früheren Staate Analoges, doch auf der Basis wirtschaftlicher Arbeit. Privat- und Volkseigentum fielen schließlich zusammen, das sozialistische oder wenigstens das Rathenausche Ideal wäre also prinzipiell verwirklicht, nur auf völlig anderem Wege, mit anderen Mitteln, aus anderem Geist heraus. Und nur so kann es überhaupt verwirklicht werden, weil dieser Weg allein sowohl dem Egoismus des Einzelnen als dem Gemeinschaftssinn und dem Zeitideale Rechnung trägt — alle anderen Lösungsvorschläge der sozialen Frage berücksichtigen mindestens eine dieser unbesieglichen realen Mächte nicht. Nur im lebendigen Körper der im Mittelalter zuletzt verwirklichten Werkgemeinschaft ist Sozialismus realisierbar. In der Führerstellung innerhalb des neu entstehenden Organismus aber erlebte das alte monarchische Prinzip seine Wiederauferstehung, und zwar seine einzig mögliche in unserer industrialisierten Welt. Solange die Monarchie auf der Höhe war, galt der Satz, dass das Volksinteresse und das private des Fürsten par définition zusammenfielen; von der überkommenen Monarchie galt es schon lange nicht mehr, aber es würde buchstäblich wieder gelten im bis zum Staatsersatz ausgebauten Stinnes-Konzern7.

Es hat also seinen guten Grund, wenn ich von den Wirtschaftsführern königliche Gesinnung verlange. Einem solchen Zukunftsorganismus, der zuletzt zur wichtigsten Zusammenfassung der Volksgemeinschaft würde, entwickelt sich nun der Stinnes-Konzern unzweifelhaft zu. Er kann die Keimzelle bedeuten der künftigen deutschen Größe, die ganz anders fundiert werden muss als die, welche im Herbst 1918 zerbrach. Aber er braucht es freilich nicht, gar manches, was er heute betreibt, steht dem noch im Weg. Noch ist die Entscheidung nicht gefallen, ob die deutsche Industrie zur Retterin Deutschlands wird, indem sie sich zu dessen neuem Fundamente auswächst, oder ob sie ein Sonderorganismus bleibt, als solcher freilich jetzt schon fähig, das Ende des ganzen Volks zu überleben. Hier hängt alles von der bewussten Einsicht, dem Mehr-als-Geschäftssinn der großen Führer ab. Werden diese, als echte Fürsten, alle Kräfte berücksichtigen, werden sie wirklich, im Sinn des Ganzen, für das Ganze wirken? Werden sie fähig sein, indem sie zu ungeheurer Macht emporwachsen, sich nicht zu engherzigen Plutokraten zu verbilden, sondern jene benutzen, um die soziale Frage zu lösen, soweit sie jeweilig gelöst werden kann? Nur sie werden in der Lage dazu sein, weil sie allein über produktive Kräfte gebieten werden. Vom Staat wird dies nie wieder im alten Sinne gelten; der wird vorläufig völlig ohnmächtig werden; der wird immer und immer leichter, von der gesamten öffentlichen Meinung unterstützt, von seinen Bürgern sabotiert werden; Gemeinschafts- und Staatsinteresse sind zum mindesten in Deutschland auf Jahrzehnte verschieden und getrennt; nur über den Wirtschaftsverband hinaus kann der Staat je wieder zu höherer Geltung gelangen. Folglich kommt diesem auch die Lösung der sozialen Frage zu, und diese ist akut. Sie muss gelöst werden, soweit sie zur Zeit zu lösen ist. Nur falls der Mehrheit gewonnen oder erhalten wird, was sie vernünftigerweise als ihr Recht verlangt8, kann irgendein sozialer Organismus fortan gedeihen. Und wer soll ihnen dieses Recht, anders als auf dem Papier, gewähren, es sei denn der wirtschaftlich kräftige? In einer verarmenden, verhungernden Welt ist dessen Macht unermeßlich; der Hunger macht ja mürbe, lähmt alle Initiative, kommt also notwendig dem gerade Mächtigen zugute, wie das jüngste Beispiel Russlands beweist. Die Wirtschaftsverbände sind das Einzige, was politische Krisen heute sicher übersteht. Sie überstehen sogar solche Krisen, die sie buchstäblich aufheben, wie die schon betrachtete Wiedergeburt der Hamburger Schiffahrt zeigt. Hier liegen auch die Grundlagen eines wahren Völkerbunds. Ein solcher kann nur darauf aufgebaut werden, was ohnehin übernational ist9. Was, seinem Wesen nach, die Einzelnation als politischen Körper allein betrifft (wozu, wohlbemerkt, die rechtliche Sicherung des Einzelnen nicht gehört, die fortan durchaus international zu geschehen hat [s. S. 155]), kann deren letzter Entscheidung nicht dauernd entzogen werden, ebenso wenig wie ein Einzelner es sich gefallen lassen kann, dass über Fragen, die seine Selbstachtung betreffen, andere entscheiden. Wesentlich übernational ist nun, neben dem Kulturellen und Rechtlichen, das Wirtschaftliche. So wird sich der künftige wahre Völkerbund ohne Zweifel zunächst auf der Internationale der Wirtschaft auf bauen, so wie der künftige Einzelstaat auf seinem besonderen Wirtschaftsorganismus. Wir münden eben, ob wir wollen oder nicht, in eine rein ökonomische Ära ein. Dies kann zu einer Übersteigerung eben des Materialismus führen, welchen der Weltkrieg überwinden sollte. Es kann — braucht es aber nicht. Erkennen die Maßgebenden rechtzeitig, was es gilt, d. h. dass der Bedeutsamkeitsakzent vom Staat auf die Wirtschaft hinübergeglitten ist, so dass dieser jetzt die höchsten Aufgaben jenes zufallen, dank wem die Wirtschaft letztendlich zum normalen Mittel wird, das höchste Leben der Nation zu gewährleisten, ihre idealen Güter zu steigern — nun, dann kann die kommende Wirtschaftsära noch als eine der idealistischsten aller Zeiten in der Geschichte fortleben. Handelsmetropolen waren von jeher die Stätten höchster Kultur; vom alten Babylon ab sind Financiers die besten Mäzenaten gewesen; das Kulturleben noch des heutigen Amsterdam wird zu erheblichem Teil von einigen wenigen Bankiers bestritten. Werden die Wirtschaftsführer sich dessen allgemein bewusst — und dazu schreibe ich diese Seiten —, wie groß ihre neueste Aufgabe ist, dann kann das kommende Zeitalter zu einem geistig größten werden. Das Primat der Wirtschaft im Völkerleben wird freilich nicht ewig dauern; ist die Welt einmal ökonomisch konsolidiert, dann wird das Kulturelle letztlich bestimmen. Aber dieses Ideal ist erreichbar nur über das zeitweilige Primat der Wirtschaft hinweg.

1 Genau ausgeführt steht dieser Gedanke im Vortrag Politik und Weisheit in Schöpferische Erkenntnis; auf diesen sei hiermit ausdrücklich, alles Nähere betreffend, hingewiesen.
2 Vgl. an der Hand des Registers die Stelle über die normale Bewusstseinslage des Herrschers in meinem Reisetagebuch.
3 Dieser Gedanke steht näher angeführt im Vortrag Was wir wollen in Schöpferische Erkenntnis.
4 Vgl. meinen Aufsatz Arbeit im 1. Heft des Weg zur Vollendung (Darmstadt 1920. Otto Reichl Verlag).
5 Vgl. die Vorträge Politik und Weisheit und Weltüberlegenheit in Schöpferische Erkenntnis.
6 Sehr gut sagt Robert Prechtl über Sozialisierung:
Sozialisierung ist nicht eine Frage der Methoden und Einrichtungen, sondern der geistigen und sittlichen Einstellung.

Die seiner Ansicht nach erforderliche präzisiert er dahin:

Nicht der Gewinn ist Zweck und Sinn des wirtschaftlichen Handelns, sondern seine möglichst werteschaffende, möglichst aufwandersparende Gestaltung, deren Ausdruck Gewinn sein kann, aber nicht muss.
7 Man missverstehe mich nicht dahin, als glaubte ich an eine zu gewärtigende politische Stinnes-Dynastie: de facto, nicht de jure wird das monarchische Prinzip sich fortan in der Wirtschaftsführerschaft verkörpern. De facto trägt es schon keinen lebenden Monarchen mehr — wie wenig Herrscher ist z. B. der englische König! —, aber de jure wird es meiner Überzeugung nach noch lange und immer wieder Monarchien im alten Sinne geben. Auch Deutschland wird wahrscheinlich wieder monarchisch werden. Die Zukunftsform der deutschen Monarchie sehe ich im Wahlkaisertum. Diese Zeit der Schmach wird nimmermehr vorbildlich bleiben; bald wird wieder angeknüpft werden an einstige Größe. Aber da die Tatsache Wilhelms II. auf lange hinaus von jedem Dynastismus abschrecken wird, so halte ich in Deutschland eine Synthese amerikanischer Präsidentenstellung und kaiserlichen Glanzes für das Gegebene. Die Deutschen werden immer ein starkes Staatsoberhaupt wünschen — ein amerikanischer Präsident ist mächtiger als jeder Dynast seit langer Zeit; andererseits werden sie ein unverantwortliches fortan ablehnen. — Dieses Zukunftsbild wäre natürlich dahin zu retuschieren, dass der Staat überhaupt viel weniger bedeuten wird, als er es heute tut, in einer mehr wirtschaftlich als politisch bestimmten Welt.
8 Vielleicht das wichtigste geistige Imponderabile das seit dem Kriege historisch wirksam ward, ist die selbstverständliche Forderung aller Massen, nicht allein leben, sondern besser leben zu können wie vor dem Krieg; sie ist praktisch die Folge der besseren Ernährung, die die einberufenen Soldaten überall, außer in Deutschland, gegenüber ihrem Friedensstandard genossen, und seither des Sieges des sozialistischen Geists. Diese Forderung ist, rationell beurteilt, absurd, denn beim heutigen ökonomischen Zustand ist sie unerfüllbar, ohne dass alle Staaten auf die Dauer bankrott machten. Sie wird nichtsdestoweniger fortleben, allen Argumenten und Tatsachen zum Trotz, denn sie entspringt einem Glaubenssatz, keiner vernünftigen Erwägung. Deshalb bin ich überzeugt, dass die ökonomische Lage Europas immer schlimmer werden wird, bis dass schließlich ein Weg gefunden ist, diese Forderung zu befriedigen; dies kann durch neue Erfindungen geschehen, durch Erschließung neuer Produktionsgebiete, durch allgemeine Produktionssteigerung — es kann nicht geschehen auf dem bisher betretenen Weg der Steuererhöhung und des Nivellements nach unten zu. Da die Massen letzteres noch nirgends einsehen, so stehen die schlimmsten Zeiten wohl erst bevor. Nachher aber kommt sicher, im kontrapunktischen Verhältnis zur heutigen, eine ungemein billige Ära, welche den heute absurd klingenden Glaubenssatz in Wirklichkeit überführen wird.
9 Vgl. hierzu die Richtlinien zu einem wahren Völkerbund des Grafen Harry Keßler (im Selbstverlag Berlin W 9, Köthener Straße 28). Dessen Ideen halte ich für die fruchtbarsten, die bisher über diesen Gegenstand verlautbart wurden.
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Wirtschaft und Weisheit
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