Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Wirtschaft und Weisheit

Verantwortungsbewusstsein

So kommt alles darauf an, dass die maßgebenden Persönlichkeiten rechtzeitig verstehen. Das Bewusstsein muss Schritt halten mit der sich wandelnden Realität, sonst steht es dem Fortschritt im Wege. Warum gelangen die lange so glücklich geschätzten Neutralen des Weltkriegs unaufhaltsam ins Hintertreffen? Weil sie den Zusammenhang mit der Wirklichkeit verloren haben. Unerschüttert innerlich, vermögen sie der veränderten Außenwelt keine entsprechend veränderte Seele entgegenstellen. In ähnlichem Sinne ungünstig ist die Stellung der Sieger. Hier hat gewiss die erforderlich innere Umbildung grundsätzlich stattgefunden, allein die Vorstellung einer nicht tatsächlich vorhandenen glücklichen Siegerlage hindert sie, die Situation so zu sehen, wie sie wirklich ist, und so versäumen sie kostbare Zeit. Man muss eine Weltkrisis erlebt haben, um ihr gewachsen zu sein. Gewiss braucht man nicht alle Schrecken, alle Leiden und Sorgen am eigenen Leib erfahren zu haben, aber in der Vorstellung muss man sie erlebt haben, sonst versteht man die neue Weltlage nicht. Und aller Erfolg hängt vom Verstehen ab. Hier liegt, noch einmal, der praktische Angelpunkt der Freiheit. Es hängt von uns ab, ob wir Einsichten von uns verlangen oder uns bei Ansichten beruhigen; es ist eine reine Frage des Verantwortungsbewusstseins, ob wir verstehen oder nicht verstehen. Verstehen wir nicht, so taumeln wir rettungslos ins Verderben hinein; das ganze Schicksal des Weltkriegs und seither ist ein Bild leichtsinngetragener Blindheit. Verstehen wir hingegen, und zwar rechtzeitig, bevor allzu große neue Karma-Massen ins Rollen kamen1, dann vermöchten wir gerade jetzt nicht allein die Katastrophe abzuwenden, sondern der Welt einen mächtigen Ruck nach vorwärts zu erteilen. Wer den Sinn seiner selbst und seiner Zeit erfasst und ihm gemäß handelt, der wird nämlich von der ganzen Weltordnung getragen; den begünstigen auf die Dauer alle Zufälle. Wogegen dem Nichtverstehenden alles zum Unheil gereicht2.

So ist es zu verstehen, wenn ich heute von den Männern der Wirtschaft an erster Stelle Weisheit fordere, mich als Weisheitslehrer mehr an sie wende, wie an alle sonstigen Berufstypen: auf sie kommt es heute an erster Stelle an. Dass ein Wirtschaftsführer rechtzeitig versteht, ist wichtiger, als dass fünfzig Politiker dies tun und zehntausend Intellektuelle. Wirtschaftsführer brauchen gewiss nicht weise zu werden im missverständlichen Sinn theoretischen Wissens, sie müssen es hingegen im Sinne tieferer Einstellung. Die geistigen und seelischen Probleme der Zeit müssen sie innerlich so tief erlebt haben, dass das Besondere, das sie tun, sich selbstverständlich den geltenden Sinneszusammenhängen eingliedert3. Dies ist ein zu lösendes Problem der Selbsterziehung. Der praktische Mensch schütze hier ja keinen Zeitmangel vor — wer äußerlich am wenigsten Muße hat, hat wesentlich am meisten, nur wer gar nichts zu tun hat, kommt zu nichts; denn die Gewohnheit der Arbeit, zusammen mit der Ausspannung, welche Abwechslung bedingt, bewirkt, dass eine Stunde Lektüre gewohnheitsmäßig Konzentrierten mehr einbringt, als dem Zerfahrenen ein Jahr. Der praktische Mensch braucht auch nicht einseitig zu sein; in Persien, das noch Gobineau schildert, war der Kaufmann typischerweise Philosoph. Notabene: er war Philosoph, was nicht besagt, dass er besonders viel philosophisches Wissen in sich aufgespeichert hätte. Die Wirtschaftsführer müssen — ich wiederhole — die geistigen und seelischen Probleme der Zeit so tief erlebt haben, dass das Besondere, das sie täten, sich selbstverständlich den geltenden Sinnzusammenhängen eingliederte. Auf die Tiefe erlebnisbedingten Verstehens kommt alles an. Denn diese wirkt sich unwillkürlich in allem Sonderhandeln aus. Das ist ein Naturgesetz. Was einmal zum Besitz des schöpferischen Urgrunds ward, wirkt stetig fort, durch alles hindurch in jedem Fall. Wer das soziale, das nationale, das internationale Problem, das der Akzentverschiebung vom Politischen aufs Wirtschaftliche in diesem Sinn erlebt hat, braucht gar nicht in jedem besondern Fall an das theoretisch Richtige zu denken, im Gegenteil, er soll es gar nicht tun, denn das bewusste Verweilen bei Abstraktem wirkt in konkreten Lagen störend: der wird unwillkürlich jeden Sonderfall im Geist des richtigen Sinnverstehens behandeln, dessen Tun wird, weil er jedes Problem an seinem richtigen ideellen Ort sieht, eo ipso sinnentsprechend sein. Wenn Hugo Stinnes z. B. sich dazu verstände, in seinen noch so kargen Mußestunden sich in den Sinn des Problems dieser Zeit zu versenken, sich innerlich klar zu werden darüber, was es heute wesentlich gilt, dann brauchte er das dergestalt Erkannte im Lauf seiner Tagesarbeit überhaupt nicht bewusst zu berücksichtigen — unwillkürlich würden seine weiteren Maßnahmen, im übrigen so rein praktisch wie nur je zuvor, seine Erkenntnis spiegeln. Dies folgt aus gewissem psychologischen Gesetz. Aber in dem Sinne, wie ich es hier andeute, müssen alle deutschen Wirtschaftsführer weise werden; zu viel, eigentlich alles, hängt von ihnen ab. Bisher sind es nur ganze wenige, die ihre neue Bedeutung klar erfasst haben und sich entsprechend verpflichtet fühlen. Zu viele wähnen noch, sie täten genug, indem sie ihre Sache gut machten; ihr ethischer Höhepunkt liegt im Satz beschlossen: deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun. Aber das ist ein viel zu subalterner Standpunkt: welche Sache ist es, der man dienen soll? Ist meine Sache dem Zusammenhang der Dinge sinnvoll, an richtiger Stelle eingegliedert? Diese Frage ist in erster Linie zu stellen. Sie wird viel zu selten gestellt. Gar viele, denen Gewinn nicht Hauptsache ist, deren Anlage sie zu Zukunftsführern sonst beriefe, schaffen aus jenem rein mechanischen Pflichtbegriff heraus, der mit am meisten an der Subalternität des heutigen Deutschentypus und dem Zusammenbruch der deutschen Größe schuld ist. Pflicht allein tut’s bei Führern freilich nicht; es kommt darauf an, was einer als Pflicht erkennt und ob er tief genug blickt4. In diesem Sinn kann aber jeder sich, wenn er sich selbst nur richtig anfasst, von der Subalternität zur Selbstführerschaft heranbilden5. Vermag es einer nicht, so beweist dies moralischen Tiefstand, wie denn Ansichten — anstatt Einsichten — haben in erster Linie nicht intellektuell verfehlt, sondern unmoralisch ist. Man darf anstandshalber keine Ansichten haben, und das Ansichten haben wird zum Verbrechen, wenn die Wohlfahrt eines Volks von der Einsicht abhängt. Dies gilt heute von den Wirtschaftsführern überall, und vor allem in Deutschland. Während des Krieges haben deren größte vielfach, soweit nicht ihr Fach und ihr unmittelbares Interesse in Frage standen, recht absurde Ansichten vertreten. Das darf nie wieder vorkommen. Sie sind heute für den Wiederaufbau durchaus verantwortlich; an ihnen ist es, das nationale Leben zu erhalten, den Kulturfortschritt zu sichern, das soziale Problem zu lösen; aus ihren Kreisen werden in den nächsten Jahrzehnten auch die Staatsmänner hervorgehen, denn in einer wirtschaftlich zentrierten Welt sind sie, nicht die juristisch und politisch geschulten, die eigentlichen Fachleute. Aber sie müssen vor allem mehr als Fachleute sein. Das Fachmanntum ist ein wesentlich Subalternes; nur der kann im tiefsten Initiative beweisen, der über seinem Können steht6. Das Problem des Wiederaufstiegs Deutschlands, des Wiederaufbaues Europas ist im letzten ein persönliches Problem: das Problem dessen, welche Anforderungen die prädestinierten Führer an sich stellen, zu welcher Tiefe des Sinnverstehens sie sich erziehen, zu welcher Weite des Blicks, mit welcher Energie sie das einmal als richtig Erkannte verfolgen.

Hier frage man mich nicht weiter. Ich bin kein Mann der Wirtschaft. Ich persönlich beschränke mich auf das Grundsätzliche, meine eigentliche und eigenste Sphäre. Aber gerade der Wirtschaftsführer, der jetzt nicht mich, sondern sich selbst weiter fragt, die empfangene Anregung als Verpflichtung zum Selbstweiterdenken empfindend, dem wird, falls meine Ausführungen Lebendiges in ihm anklingen ließen, jetzt von sich aus auf praktische Gedanken kommen. Beinahe regelmäßig erlebe ich’s an meinen Schülern, dass sie nach einigen Tagen, die sie im Kraftfeld der Schule der Weisheit weilten, mir mit neuen Plänen und Projekten ihr eigenes Gebiet betreffend kommen. Deren Beurteilung weise ich jedesmal ab; ich sage dann: jetzt ist die Reihe an Ihnen; was mein Einfluss in Ihnen ins Leben rief, weiter auszugestalten, ist Ihre persönliche Aufgabe; um diese zu erfüllen, müssen Sie sich selbst bewusst die letzte Instanz sein, sonst wird Ihr Tun und Denken nicht aus dem Zentrum Ihres Wesens gespeist. Aus gleicher Ursache mögen auch die Leser dieser Schrift sich selbst, nicht mich nach weiterer Ausführung und Nutzanwendung fragen. Nur so viel will ich noch sagen: wenn einmal die Verschiebung des historischen Bedeutungsakzentes vom Politischen aufs Wirtschaftliche ganz erfolgt ist, dann kommt ohne Zweifel Deutschlands bisher größte Periode. Schon als ich die Mission schrieb, erwartete ich Gleiches, aus anderen Gründen, wegen Deutschlands Prädestiniertheit für die sozialistische Ära; das Wirtschaftliche zog ich damals nicht in Betracht; ich erwartete nicht, dass der deutsche Staat sich selbst so tief herunterarbeiten, dass der Versailler Vertrag Verhältnisse schaffen würde, die einen Wiederaufstieg ganz Europas nur auf neuer Basis als möglich erscheinen ließen. Diese völlige Erneuerung nun, die es in der Fundamentierung von Europas Bau bedarf, ist aber nicht Deutschlands Unglück, sondern seine große Chance; sie ist eine ganz große deshalb, weil dadurch eine Verschiebung nicht allein des Bedeutungsakzents innerhalb der verschiedenen Institutionen und Betätigungen, sondern auch der Völker, entsprechend ihren Anlagen, erfolgt. In einer wesentlich politisch bestimmten Welt musste Deutschland schlecht abschneiden; seine organische politische Unfähigkeit ist gar zu groß. Man kuriere an dieser herum so viel man mag — ich stehe durchaus positiv zu jedem Versuch, das ζῶον πολιτιϰὸν im Deutschen höher auszubilden; je geringer die Anlage, desto mehr bedarf es der Schulung —, nie wird man sie so weit beseitigen, dass die Deutschen normalerweise gute Politiker hervorbrächten, oder dass der Durchschnittsdeutsche sich gegebener politischer Situation instinktiv gewachsen erwiese. Man kann nur wirklich, was man unwillkürlich kann. Nur der ist Geschäftsmann, der die Welt unwillkürlich auf geschäftliche Koordinaten bezogen sieht, nur der Philosoph, der unwillkürlich die geistige Problematik erfasst. Wer sein Leben so einrichtet, dass der Bedeutungsakzent auf dem ruht, was ihm nur willkürlich gelingt, kommt niemals vorwärts; dessen beste Anlagen sogar führen bei falscher Zentrierung zu keinem Erfolg. Umgekehrt liegen die Dinge, wenn sich einer im Leben richtig einstellt. Wenn der geschäftlich Begabte, jedoch politisch Unbegabte sein Leben auf Politik aufbaut, so wird auch sein Geschäft darunter leiden; baut er’s hingegen auf der Wirtschaft auf, so wird er, wo das wirtschaftliche Interesse mitspricht, auch gute Politik machen, denn bei Einstellung auf die Hauptfähigkeit ist das ganze Menschenwesen auch im Weltzusammenhang so richtig eingestellt, dass das geringere Können doch harmonisch aufs Ziel hin mitarbeitet. Bisher war das äußerlich so gut organisierte deutsche Volk das (im betrachteten Sinne) innerlichst schlechtest organisierte Europas. Es erschien kaum denkbar, dass in seinem Staate je der beste Mann an den besten Platz gelangte, sobald es sich um höchste Posten handelte. In einer industrialisierten Welt bestimmten Agrarier, Geister provinziellen Horizonts über transozeanische Fragen; Anciennität und Arbeitskraft entschieden dort, wo alles auf Intellekt und Initiative ankam, wahrhaft schöpferische Geister fanden keinen Betätigungsraum. Theoretiker durften praktische Probleme lösen, Leichtsinnige gelangten zu Stellen höchster Verantwortung. Doch von der Personenfrage gänzlich abgesehen: die Organe des Volkskörpers als ganze erschienen falsch verteilt, zu ihnen nicht zukommenden Funktionen berufen. Dies illustriert am schlagendsten der preußische Militarismus. Nicht darauf beruht dessen Odium, dass Preußen eine besonders gute Armee besaß — eine solche wird jedem Volke immerdar zur Ehre gereichen —, sondern dass das Militär eine Rolle im deutschen Volksorganismus spielte, die ihm nicht zukam. Es war, als trüge Deutschland (und zwar ausschließlich Deutschland) sein Skelett auf der Haut. Dadurch erschien es aggressiv, den Knorpelfischen der Vorwelt gleich, war es unempfindlich für feinere Luft-Schwingungen, eben deshalb entbehrte es letztlich des eigentlichen Rückgrats. Auch sein Gehirn schien vielfach durch Knochenmasse ersetzt, wie denn Gehirn und Haut einem gleichen Systeme angehören … Freilich muss es Knochen geben, nur haben diese im Innern des Körpers zu ruhen, und bestimmen müssen Nerven und Hirn. — Nun, in einigen wichtigsten Hinsichten lag die falsche Einstellung Deutschlands nicht an ihm selbst, sondern der Umgebung, in der es leben musste. In einer politikbestimmten Welt musste es größeren Nachdruck auf die Politik legen, als seiner Anlage nach ersprießlich war. In der neuentstehenden wird seine Lage wesentlich günstiger sein. Die neue Welt wird sozialistischen Charakter tragen, soweit der Staat in Frage kommt — in der Mission habe ich gezeigt, inwiefern dies für Deutschland besonders günstig ist; sie wird universalistisch, nicht nationalistisch sein — Deutschland stelle sich anders an so viel es mag, es bleibt wesentlich das universalistische Volk, nur in der weiten Welt zu Hause. Sein Nationalismus wird es nie auf Höhen führen, denn der Deutsche muss sein Bestes preisgeben, indem er sich verengt, und den Hauptnachdruck auf sein Unzulängliches legen; als Nationalist wird er hinter anderen Völkern ewig zurückstehen. Aber die Frage des Nationalismus im heutigen Verstand wird sich bald nicht mehr stellen; die Welt wird weiter, als sie jemals war, gerade wegen der allgemeinen Wirtschaftskrisis und der Unmöglichkeit, diese anders zu überwinden als durch internationale Zusammenarbeit7.

Die Stelle des expansiven Nationalismus wird Partikularismus einnehmen, das normale Korrelat des Universalismus, wie schon das Mittelalter bewies, und jedermann weiß, dass Partikularismus des Deutschen intimste Gesinnung ist. Die Nationalismen der neuerschaffenen Kleinstaaten sind sämtlich nur entsprechend arrogante Jugendstadien künftiger Partikularismen; solche aber, als Ansporner zur Entwicklung der Eigenart, sind unbedingt positive Mächte; sie allein beugen der Nivellierung und folglich Verarmung vor, die Vereinheitlichung sonst nur allzu leicht bewirkt. So kann sogar die deutsche Vereinsfreudigkeit, bisher ein Passivum, in der neuen Welt, dank besserer innerer Organisation des Volks, zu einem im besten Sinne Produktiven werden, zu lebendigem Antrieb zur Werkgemeinschaft als Zelle im überstaatlichen Menschheitsverband. Jetzt aber erst kommt der wichtigste Punkt, der das Bild zu Deutschlands Gunsten vollendet: in der neuen Welt wird der Bedeutungsakzent im Gemeinschaftsleben auf dem Wirtschaftlichen ruhen. Das Wirtschaftliche ist nun Deutschlands größte Fähigkeit, darin ist es allen anderen Völkern Europas voraus, schon allein wegen seiner unerreichten Arbeitskraft. Deshalb kommt jetzt seine bisher größte Bedeutungsmöglichkeit. Fortan, zum erstenmal, wird der Zeitgeist der deutschen Anlage durchaus hold sein. Fortan, zum erstenmal, wird ihr bestes Können zugleich das wichtigste sein. Seine einstweilige moralische Isolierung wird Deutschland, wenn es sie richtig verwertet, gleichermaßen zustatten kommen, wie Japan die geographische, die ihm die Shoguns auferlegten: es wird sich festigen in seiner Eigenart. Wenn es dies nun einsichtigen Geistes tut, dann wird es seinerzeit zu einer Weltsendung nachher gerade reif erscheinen. Durch den Weltkrieg ist unsere alte Welt ebensolches Neuland geworden, wie es die neue zur Zeit ihrer Entdeckung war. Die an den Vorstellungen der Vorkriegszeit festhalten, gleichen den Indianern im Vergleich zum eingewanderten Bleichgesicht. Die Lebens- und Machtbedingungen, die geistigen und materiellen Zusammenhänge sind so andere geworden, dass, wer dies nicht erkennt, unter keinen Umständen gedeihen kann. Umgekehrt stehen jedem Verstehenden, richtig Eingestellten, falls er die nötige Initiative hat, Möglichkeiten offen, als wäre in unserer Welt noch nichts vorher geschehen. Alles ist zu machen, weil alles anders, als bisher, gemacht werden muss. Diese neue Welt steht Deutschland offen, trotz aller Verträge, denn diese wurden unter alten Voraussetzungen abgeschlossen. Für deren friedliche Meisterung ist es vorherbestimmt. Selbstverständlich stehen sehr schwere Zeiten zunächst bevor. Aber dass diese mit einer Katastrophe enden werden, glaube ich nicht; wer dauernd arbeitet, geht in der modernen Welt nicht unter. Selbstredend ist die alte Größe, in ihrer alten Gestalt, für immer hin; Deutschlands preußische Periode nicht allein, auch Deutschlands nationalistische liegt unwiederbringlich hinter ihm; bis dass es wieder hochkommt, wird aller europäischer Nationalismus wahrscheinlich erledigt sein. Aber es bedeutet mehr und ist größer, ein wichtigstes Glied der vorwärtsschreitenden Menschheit zu sein, als sich gegen noch so viele Völker zu behaupten. Es bedeutet mehr, zu aller Nutzen zu wirken, als für sich allein. In der neuen wirtschaftlich bestimmten Welt werden seine besten Eigenschaften dem Deutschen sehr schnell eine Führerstellung sichern. Wenn er diese richtig ausnutzt, tiefster Einsicht gemäß, so wie ich dies schon vom Wirtschaftsführer innerhalb Deutschlands verlangte, dann kann die letzte große deutsche Zeit, die Klassikerzeit, eine Wiedergeburt der Art erleben, dass deutsche Geister auf allen Gebieten, die schon Menschheitsgebiete sind, in vorderster Reihe wirken.

1 Vgl. hierzu meinen Aufsatz Worauf es ankommt in Schöpferische Erkenntnis (bis Mai 1922 im Leuchter für 1920 einzusehen); desgleichen mein Schicksalsproblem in Philosophie als Kunst.
2 Vgl. hierzu den Vortrag Die Symbolik der Geschichte in Schöpferische Erkenntnis.
3 Genau ausgeführt wird dieser Gedanke im Zyklus Was wir wollen — der Weg — das Ziel in Schöpferische Erkenntnis. In der Schule der Weisheit weise ich dem Einzelnen praktisch den gleichen Weg.
4 Vgl. hierzu Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst und meinen Aufsatz Arbeit im ersten Heft des Weg zur Vollendung.
5 Vgl. meinen Aufsatz Von der Selbstführerschaft im zweiten Heft des Weg zur Vollendung.
6 Den Studenten der Darmstädter Technischen Hochschule, zu denen ich am 25. November 1921 über Wirtschaft und Weisheit sprach, sagte ich ins Gesicht, dass wenn sie kein höheres Ideal als das höchstmöglicher Fachausbildung bekennten, wenn sie wirklich keine Zeit fänden, sich zur Einsicht und höheren Menschlichkeit auszubilden, sie sich damit freiwillig zu Lohnsklaven der Entente bestimmten und freien Willens an Deutschlands Wiederaufstieg Treubruch übten. Fachleute sind eine Marktware, zu kaufen oder zu mieten. Da wird das Ausland Deutschland noch lange überbieten können. Nur der Mensch ist mehr als Ware, und nur wer auf den Menschen in sich den Nachdruck legt, kann jemals zum echten Führer erwachsen. Der bloße Fachmann braucht immer einen Herrn über sich. Und nichts-als-Fachleute sind leider die meisten unter den heutigen als tüchtig bewahrten Deutschen…
7 Ebendeshalb wird die Welt von morgen, trotz aller noch vorhandenen Spannungen, trotz aller noch zu gewärtigenden Kriege, pazifistischen Charakter tragen und diesen jedenfalls äußerlich bekennen Der offizielle Wille zum Frieden wird das 20. Jahrhundert ebenso sicher bestimmen, wie das 19. der zur Demokratie. Möchten die Deutschen nicht so töricht sein, allein die Widersprüche zwischen Programm und Wirklichkeit zu merken und zu betonen, möchten sie nicht gar Front machen gegen die neue Weltstimmung, weil sie erheuchelt sei, und sich dadurch wieder einmal moralisch isolieren. Bei politischen Programmen handelt es sich nicht um theoretische Wahrheiten, sondern um festgestellte Willensrichtungen. Deshalb ist es wirklich besser, im Sinne des englischen Cant, eine nicht vorhandene Tugend zu bekennen, als ehrlich die Wahrheit zu sagen, wenn das fragliche Ideal ein hohes ist, denn so wird es seiner Verwirklichung schneller nähergebracht als durch wahrhaftige Vertretung des derzeitigen Zustands. Heute nun strebt die Welt zweifellos nach Frieden; deshalb wird sich das nächste Zeitalter pazifistisch nennen, wird der sich unter allen Umständen isolieren, der den Friedenswunsch nicht äußerlich bekennt. — Überdies wird die Welt durch den Umstand in nie dagewesenem Maße tatsächlich pazifiziert werden, dass die Wirtschaft, nicht die Politik in letzter Instanz bestimmt. Internationale Wirtschaftsverbände werden desto weniger Interesse am Kriege haben, je allumfassender sie sind, und desto mehr Macht, Kriege zu verhindern.
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Wirtschaft und Weisheit
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