Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Deutschlands wahre politische Mission

Spirale der Höherentwicklung

Augenblicklich sieht es ja so aus, als hätte Deutschland keine andere Absicht, als sich nach englischem oder gar französischem Muster zu parlamentarisieren. Aber hieraus wird nichts werden. Seiner Erbanlage, seiner Geschichte entrinnt kein Mensch und kein Volk, und war Deutschland von jeher ein Obrigkeitsstaat, so hat dies innere Gründe, die auch weiter den Charakter der Erscheinung bestimmen werden. Die Deutschen hielten bis vor kurzem an dieser Staatsform fest, weil sie wesentlich unpolitisch sind; aus der gleichen Ursache wird die Spirale der Höherentwicklung sie zu ihr zurückführen. Nur werden sie alsdann, unter der neuen Konjunktur, nicht rückständig erscheinen, sondern den anderen vorausgeeilt sein.

Der Weltkrieg ist ausgeklungen in eine Weltrevolution, die gewaltigste und bedeutsamste Umwälzung, die seit dem Ende der Antike innerhalb der Menschheit stattgefunden hat; diese offenbart sich immer mehr als jenes eigentlicher Sinn und historisches Ziel. Damit erlangt der Gang der Ereignisse einen neuen Sinn. Russland hat sich, trotz seines völligen Zusammenbruchs, nie eigentlich geschlagen gefühlt, denn dem, was es eigentlich wollte, ist es im Sterben näher gekommen; ebenso wenig überwiegt in Deutschland, inmitten des furchtbaren Erlebnisses katastrophaler Niederlage, doch das Gefühl, eine bessere Zukunft vor sich zu haben, als solche ein Sieg des alten Reichs ermöglicht hätte.

Dieses Gefühl täuscht nicht. Ebenso wie Russland tatsächlich Deutschland besiegt hat, durch die Macht seines Neuerungswillens, so bedeutet das Negative, das Häßliche und Schmachvolle, das sich der jüngsten Entwicklung Deutschlands nachsagen lässt, verhältnismäßig wenig, und den Hauptnachdruck darauf zu legen, beweist ein gleiches Verkennen des Sinnes, wie es in einem Urteil zutage träte, das beim Mysterium der Entstehung neuen Lebens die Herrlichkeit dieses Ereignisses um seiner widerwärtigen Begleiterscheinungen willen leugnete. Unsere Welt ist im Neuentstehen begriffen. Unvermeidlich geht viel Schönes dabei zugrunde, kommt viel Häßliches an die Oberfläche, treten Zustände ein, während welcher das Chaos Schreckbilder gebiert; bis das Neue vollendet dasteht, wird der nach dem Vollendungsmaßstabe wertende Geist am Gegenwärtigen notwendig weniger Freude finden als an irgendeinem Vergangenen, sofern dieses vollkommen war an sich — ganz abgesehen davon, dass ein guter Ausgang niemals sicher ist. Aber wenn es für den Einzelnen, in einmaliger, kurzlebiger Gestaltung Festgelegten, meistens besser ist, zu sterben, als seinem Charakter untreu zu werden, so liegt bei Völkern, deren unbegrenzte Daseinsfrist mit Unvermeidlichkeit verschiedenartige, durch dem Verstand nicht immer übersichtliche Zwischenstadien vermittelte Phasen einschließt, die Sache anders: Versagen in irgendeinem alten Sinn mag da die Vorstufe neuer, höherer Erfüllung sein. Dieser Umstand rechtfertigt denn auch zeitweilige Begriffsverkehrung. In einer plötzlich verflüssigten Welt treten zunächst immer reine Gegenbewegungen ein; so bedeutet der Besiegtheits- und Ohnmachtskultus jüngster Zeiten den Gegenpol der früheren Machtapotheose, das Ideal der Proletarierdiktatur den natürlichen Pendelausschlag nach Beseitigung der Plutokratie. Und dieses Mal ist es sichtbarlich gut, dass der Pendelausschlag unbehindert erfolgt, denn die beiden Extreme sind in der Idee nicht allein äquivalent, sondern einander wert — Macht und Ohnmacht sind gleich wenig verehrungswert —, und das Ziel ist klar, welchem die weiser werdende Menschheit zustrebt: sie will hinaus über alle falsche Antithetik. Allein die Dialektik der Geschichte führt langsam zum Ziel. Dieser Umstand verleiht den sonst falschen Begriffsgebäuden einstweilige Haltbarkeit. In einer Zeit wie dieser ist der Geschlagene wirklich nicht notwendig unterlegen: besiegt ist sicher nur der, welcher sich mit dem Sterbenden identifiziert. In diesem Verstand, in dem der historischen Zukunft, ist das besiegte Deutschland dem triumphierenden Westen voraus; es hat diesem gegenüber, der das Alte zu erhalten strebt, bis auf weiteres einen Vorsprung gewonnen. Mögen die jüngst erfolgten Machtverschiebungen nie mehr rückgängig zu machen sein — auf sie kommt es zunächst am wenigsten an. In der neuen Ära wird der als der Vorderste gelten, der die neue Welt am schnellsten und besten ausbaut.

Wie wenig es im letzten auf Machtstellung ankommt, dessen ist sich die Menschheit noch heute nicht bewusst, doch dafür steht ihre ganze Geschichte Gewähr. In welchen Staaten haben die wichtigsten geistigen Bewegungen ihren Ursprung gehabt? Nicht in den größten und mächtigsten, sondern meistens in den kleinen, was besonders von den politischen Bewegungen gilt; man gedenke der griechischen und italienischen Kleinstaaten, der Bedeutung Belgiens und Hollands für das Völkerrecht und neuerdings der immer wichtigeren Rolle, die den nordischen Reichen, der Schweiz und den neuentstehenden Kleinstaaten, bei der ideellen Lösung der weltpolitischen Probleme zuerkannt werden muss. Welche alten Völker haben die dauerhaftesten Wirkungen hinterlassen? Die Juden, die Griechen, die Inder und die Chinesen. Macht bedeutet im Völkerleben genau so viel oder so wenig wie Geld im Privatleben: an sich ein Vorteil, weil sie die Lösung praktischer Probleme erleichtert, besitzt sie doch keinen inneren Wert und wird auch, sobald die Zeit des Faustrechts wirklich einmal um ist, von niemand mehr als rangbestimmend beurteilt werden, wie die Geschichte sie denn, wo sie nicht Geistigem diente, von jeher am Mangel positiver Fernwirkungen als unwesentlich erwiesen hat. Herrentum als Seinsgestaltung ist freilich an sich ein Höchstes, aber seine menschlich-geschichtliche Bedeutung beschränkt sich darauf, dass es die Bestie niedergehalten oder gezähmt und das Wachstum des Wesentlichen äußerlich ermöglicht hat. In diesem Verstand waren die Römer nur die Wegebner der griechischen Kultur, sind die Engländer die Bahnbrecher des westeuropäischen Geistes, und was endlich Bismarcks Leistung betrifft, so war diese wesentlich nur dazu da, dem deutschen Geist etwas Charakterrückhalt zu verleihen. Spezifische Herrenvölker, als solche immer einseitig veranlagt und engen Geistes, sind nun genau nur so lange vonnöten, als deren Eigenschaften nicht Gemeingut geworden, als sich nicht alle selbst beherrschen können. So weit sind die meisten lange noch nicht, aber gerade die Demokratisierung führt unaufhaltsam allgemeiner Aristokratisierung zu. Gentleman­gesinnung ist aller Engländer Ideal und überaus vieler Besitz; alle Amerikaner haben Herrenzüge, die meisten Skandinaven; die übrigen Völker Europas aber entwickeln sich rasch in gleicher Richtung fort, und zwar desto rascher, je mehr politische Freiheit das Wachstum ihres Würdebewusstseins fördert. Am Ende der Zeiten wird sich die zivilisierte Menschheit wahrscheinlich zu einem Bund freier Adelsrepubliken konstituiert haben, einiger großer und vor allem vieler kleiner, da Adelsstolz Ausschließlichkeit bedingt und kein wahrer Edelmann Snob genug ist, sich einem andern unterlegen zu dünken und sich ihm unterzuordnen, weil dieser mehr Geld sein eigen nennt oder bessere Karriere gemacht hat. Inzwischen wird freilich der äußere Druck und Schutz einiger starker Mächte leider unentbehrlich sein, denn jedesmal, wo die Völkerkräfte neu entfesselt werden, wird die Gefahr neu eintreten, dass das politische Geschehen zum Urzustand zurück, anstatt zu Besserem führt, weil die Menschennatur immerdar die gleiche bleibt und der Fortschritt im Geist, in immer einsichtsvolleren Objektivationen dargestellt, durch Urkräfte-Eingriff annulliert werden kann1. In diesem Verstand war die pax romana einstmals ein Segen, im gleichen wird es, objektiv beurteilt, kein Unglück bedeuten, wenn das arg balkanisierte Europa eine Weile durch amerikanische Übermacht vor seinen eigenen schlimmen Neigungen behütet wird. Aber — und hier nehme ich den ursprünglichen Gedankengang wieder auf — der Schwerpunkt des Völkerinteresses ruht überhaupt nicht mehr auf dem Politischen; der Weltgeist ist in eine Phase eingetreten, wo das Wesentliche, das Eigentliche, das Ewig-Wertvolle endlich auch im Bewusstsein der Massen das Primat über dem bloß Lebenstechnischen erlangt. Hierdurch verliert äußere Machtstellung auch subjektiv die meiste Bedeutsamkeit. Schon gilt das Postulat, dass kleine Völker den großen auch in Machtfragen gleichgeachtet werden sollen. Schon wird Macht, gleich dem Besitz, von den Führern der öffentlichen Meinung aller Kulturvölker als mehr verpflichtend denn rechtschaffend angesehen. Das größte Prestige wird in Bälde der besitzen, der den Weg über die Politik-Notwendigkeit hinaus am schnellsten findet und weist.

Dieses winkt, dem ersten Anschein entgegen, nicht dem, der den Völkerbund begründet oder durchsetzt, und zwar deshalb nicht, weil es sich bei diesem auf lange Zeit hinaus nur um ein Äußerliches handeln kann. Er wird, falls er zustande kommt, unabwendbar auf Kosten einiger Völker geschlossen werden, zum Nachteil mancher, unter Nichtberücksichtigung unzähliger berechtigter Sonderwünsche, in ungenügender Erkenntnis der wahren Kraft- und Wertverhältnisse, und vor allem ohne dem Hauptfaktor des modernen Geschehens, dem Klassengegensatz, genügend Rechnung zu tragen. Bevor dieser nicht beigelegt ist, wird die erste Vorbedingung einer dauernden Friedensära fehlen, denn die horizontalen Verschiebungen, welche die Umzeichnung der Karte Europas bedingt und die gewiss schon allein genügend Konfliktstoff in die Welt setzen, sind nichts im Vergleich zu der allenthalben vertikal, von unten nach oben stattfindenden, durch den Aufstieg der unteren oder bisher unterdrückten Volksschichten, welche die gewaltigste und verhängnisschwangerste Völkerwanderung bedeutet, die je die Welt gesehen. Das Problem, auf dessen Lösung es vor allem ankommt, ja das einzig-wichtige politische Problem dieser Übergangszeit, gegenüber dem alle Völkergleichgewichtsfragen ihre Bedeutung verlieren, ist daher die soziale Frage. — Diese zu lösen, ist das deutsche Volk vor allen anderen prädestiniert. Und hierauf, hierauf allein beruht seine in ihrer Bedeutung schwer zu überschätzende politische Mission.

Die Deutschen sind, was immer sie sich jahrelang vorspiegeln oder aus der Sehnsucht ihrer Dichter und Denker fälschlich ableiten mochten, kein Herrenvolk; sie sind vielmehr das Bürgervolk par excellence. Wohl ist die historische Herrenschicht fast aller Länder Europas ursprünglich germanischen Blutes, aber den Germanentypus, der sich für den geborenen Weltbeherrscher halten durfte, traf man schon lange im Deutschen Reich am seltensten an2. Wohl hat hier der Adel eine größere Rolle gespielt als vielleicht irgendwo anders, aber dieses lag weniger an seiner herrschaftlichen Überlegenheit, die nie sonderlich groß war, als an der außerordentlichen Gehorsamswilligkeit der überwältigenden Mehrheit. Man lasse sich durch den unzweifelhaft kriege. rischen Volkscharakter nicht irreführen: es ist, vom Kampf trieb abgesehen, weniger das Motiv des Befehlen- als des Gehorchenwollens, das den Deutschen zum Soldatenhandwerk zieht; er liebt es vor allem sich ein- und unterzuordnen, als Führer vor Höherem zu verantworten, an Souveränität als solcher liegt ihm nichts, noch liegt sie ihm. Seine ganze Grundanlage macht den Deutschen zum Herren ungeschickt: sein Mangel an politischer Befähigung, das Überwiegen der Erkenntnis über den Willen, die gelehrtenhafte Geisteseinstellung, das Fehlen des Spielerischen, sein Ideal des Fleißes, der Akkuratesse und der Tüchtigkeit. Statt dessen besitzt er alle Anlagen zu dem, was den Bürger als solchen vollkommen macht, und wirklich entstammt fast alles Bedeutende und Große, was er hervorgebracht hat, dem Geiste des Bürgertums, von der Kunst bis zur politischen Persönlichkeit, denn charakteristischerweise sind es die Städte und nicht die Fürstenhöfe, die den überlegensten deutschen Menschentypus herangezüchtet haben: ich meine den hanseatischen Handelsherrn3. Nun ist das demokratische Zeitalter, das jetzt endgültig über die ganze westliche Welt hereingebrochen ist, seinem ganzen Charakter nach ein Bürgerzeitalter. Zwar beginnt es unter der Signatur des Erwachens des vierten Standes, der keineswegs bürgerlich gesinnt ist, und strebt unverkennbar einem aristokratischen, dem mittelalterlichen äquivalenten Endzustande zu. Aber erstens ist das nächstliegende Ziel jenes der materielle Aufstieg der Massen zu bürgerlicher Existenz, wie sich, trotz aller Programme, sofort erweist, sooft Proletarier Gelegenheit finden, ihre ökonomische Lage aufzubessern; vor allem aber setzt seine Verwirklichung Bürgerfähigkeiten voraus, denn nur bei extremer Umsicht, Genauigkeit und Tüchtigkeit kann sie gelingen. Deshalb war es kein Zufall, dass die deutsche Sozialdemokratie schon lange die beste Organisation dieser Art auf der ganzen Welt bezeichnete, dass der deutsche militaristisch feudalistische Staat gleichwohl schon lange die nächste Annäherung an den sozialistischen der Zukunft darstellte: Deutschland ist von der Geschichte berufen dazu, ihn als ersten ganz zu verwirklichen, und da hierin die wichtigste Aufgabe der näheren Zukunft besteht, so müsste das kommende Zeitalter, so sehr Deutschland, an antiquiertem Maßstab bemessen, geschwächt erscheint, innerhalb Europas ein wesentlich deutsches werden, gleichwie das spätrömische Zeitalter ein wesentlich griechisches war. Und dieses nicht allein deshalb, weil das deutsche Volk dank seinem bürgerlichen Grundcharakter zur technischen Lösung des Problems am geschicktesten wäre: seine historischen Lebensformen sind am leichtesten in dem Neuem angemessene umzuwandeln. Vor allem aber bietet seine Grundanlage das beste Medium dazu, den Werten Ausdruck zu verleihen, die in nächster Zeit als bedeutungsbestimmend gelten werden.

Der Sinn der Demokratisierung und zeitweiligen Überpolitisierung, die jetzt auch in Deutschland Platz greift, ist — wir sahen es — der, dass Politik überflüssig werden soll; deshalb strebt das politische Wollen der Mehrheit über den Parlamentarismus hinaus nach einer neuen Obrigkeitsstaatsform. Dieses Neue ist nun in Deutschland nicht allein insofern mehr vorgebildet, als irgendwo anders, als die frühere Staatsform und die Denk- und Handlungsgewohnheiten des Volkes die gleichen Grundcharaktere besaßen, welche das künftige auszeichnen werden — dieses selbst war schon lange in hohem Grade vorhanden. Tieferblickenden erwies sich das militaristisch-Feudalistische, ja das traditionalistisch-Monarchistische schon längst als bloße Fassade; der eigentliche Bau war der einer sozialen Republik. Die innere Logik der Dinge hatte es längst schon mit sich gebracht, dass der Militarismus vornehmlich der Schulung der Sozialdemokratie zugute kam, dass Bismarcks fruchtbarste und folgenschwerste Leistung seit der Begründung des Reichs auf sozialpolitischem Gebiete lag, und dass sich das als autokratisch verschrieene Deutschland unaufhaltsam zu einer riesenhaften Gesellschaft mit beschränkter Haftung entwickelte, in welcher der Gesamtbetrieb, aus Millionen einzelner, mehr oder weniger autonomer, zusammengesetzt, mit automatischer Präzision funktionierte. Sobald der Krieg kam, enthüllte sich dieser ihr wahrer Charakter; es bedurfte nur einer prinzipiell ganz geringen Umstellung, um die erförderliche Kriegszentralisierung zustandezubringen, deren Erfolg ja am wenigsten von der unumschränkten Befehlsgewalt der militärischen Machthaber abgehangen hat, und am meisten vom guten Willen aller einzelnen Organe, insbesondere der Gewerkschaften. Die Revolution hat also nichts Wesentliches abgetragen, daher ihr spielend leichter Verlauf, sie hat eigentlich nur konstatiert, was längst schon da war. Das Deutsche Reich war schon seit Jahren wesentlich eine soziale Republik. Wessen es noch bedarf, ist die Beseitigung der rudimentären Organe, die Verbesserung einiger Formen, die Heranziehung besserer Kräfte, die Beschleunigung einiger Entwicklungsprozesse und vor allem die bewusste Erfassung und Einstellung auf das wirklich Vorliegende, denn das Bewusstsein spiegelt noch vielfach längst Verstorbenes. Sobald die Vorstellung sich nun mit der Wirklichkeit vollständig deckt, was übrigens noch Zeit in Anspruch nehmen dürfte, da der gelehrtenhafte deutsche Geist kaum unterlassen wird, die lange als Vorbilder angesehenen Lebens- und Fortschrittsformen des Westens und Ostens nachzuprüfen, wird aus dem mittelalterlichen Deutschen Reich mit überraschender Leichtigkeit der Zukunftsstaat erstehen; der Staat, der nach Lösung der sozialen Frage ein automatisches, sich unwillkürlich selbstregulierendes Gleichgewichtsverhältnis darstellen, innerhalb dessen folglich Politik jede Bedeutung verlieren und jeder ein wahrhaft freies, würdiges Menschenleben führen wird. Und auch dieses Letzte wird, genau besehen, kein eigentlich Neues bedeuten: schon im alten Reich gab es objektiv mehr Freiheit auf den Gebieten des Geistes und der rein persönlichen Lebensgestaltung als irgendwo anders; dies äußerte sich zumal während der Kriegszeit. Nur der Wille war unerhört gebunden, was die Erklimmung höherer Stufen menschlicher Überlegenheit außerordentlich schwermachte, denn das System der Bevormundung und die als selbstverständlich hingenommene Vorherrschaft der Objektivation über dem quellenden Leben4 erstickte bisher die meisten Keime zu unbefangen freitätigem Menschentum. Wird dieses alles nun anders, wird endlich der Wille frei, wird im besonderen die Macht zum Gesamtheitsmandat, anstatt das Privileg einer selbständigen Maschine zu bleiben, so könnte in Deutschland vollkommene Freiheit herrschen. Sie wird auch herrschen, sobald das deutsche Wesen sich, was freilich Zeit erfordert, den günstigeren Möglichkeiten gemäß gewandelt haben wird. Äußerlich wird sich das Bild dem alten gegenüber dabei sehr wenig ändern, wie dies sogar während der ersten Revolutionswochen nicht geschah, denn nie wird den Deutschen Politik zur Hauptsache werden; nach wie vor werden Behörden, Räte und Betriebsleiter das Gesamtleben von sich aus dirigieren und die übrigen desto zufriedener sein, je weniger sie von diesem bewusst in Anspruch genommen werden. Aber da jene nun nach den bestdenkbaren Gesichtspunkten arbeiten werden, von keiner veralteten Routine gefesselt, unter steter Willenskontrolle des ganzen Volks, so wird der erreichte Zustand — falls er erreicht wird — alle anderen Völker als vorbildlich beeindrucken. Zwar nicht notwendig als nachzuahmendes Beispiel, weil die spezifisch deutsche Lösung des Problems, die voraussichtlich eine etatistische (staatssozialistische) sein wird, nicht auf viele Völker unmittelbar werbende Kraft ausüben dürfte, welch letztere eher der englischen Lösung eignen würde, sondern als vorbildlich im Sinn einer spezifischen Vollkommenheit, die kein anderes Volk zu gleicher Zeit in gleichem Grade darzustellen vermöchte. Alle wollen ja hinaus über die Politiknotwendigkeit, alle wollen sich letzthin dem Leben selber widmen und nicht den Mitteln zu seiner äußeren Ermöglichung. Nur wird ihnen die Erreichung eines gleichen oder äquivalenten Zustandes, dank ihrem weniger objektiven Geist und ihrer größeren Willensinteressiertheit, schwerer fallen.

Denn nicht allein sein unpolitischer Charakter: alle oder fast alle seine Grundeigenschaften prädestinieren das deutsche Volk zur Führerschaft in der neuen sozialistischen Weltphase. Bei den nächstliegenden: seiner Organisierbarkeit, Tüchtigkeit, Disziplin, seinem Sinn für Kompetenz und Autorität, die allein schon die Erschaffung einer vorbildlichen Volksorganisation gewährleisten sollten, will ich hier nicht verweilen. Ich will nur drei seiner Hauptzüge hervorheben, welche gut dafür stehen, dass Deutschland nicht nur der Außen-, sondern auch der Innenseite des neugestellten Lebensproblems gewachsen sein wird — Hauptzüge, die an sich nicht entwicklungsbeschleunigend, sondern verlangsamend wirken, die aber, da sie eine Erfassung jeder Aufgabe vom Tiefsten her bedingen, eben wegen ihres retardierenden Einflusses, sobald Entwicklung ohnehin stattfindet, im höchsten Sinne fortschrittsfördernd sind. Der eine ist der aristokratische Grundcharakter des deutschen Volks. So wenig es zur Erfüllung eines aristokratischen Menschheitsideals berufen scheint: in Form der Sehnsucht empfindet keines aristokratischer, und dieses macht, dass Qualitätsunterschiede nirgends bereitwilliger als in Deutschland anerkannt werden. Dies äußert sich einerseits allerdings in einem sehr lächerlichen Rang- und Titelsnobismus, andererseits aber auch in einer Ehrfurcht vor Wissen, Geist und höherem Menschentum, der sonst nur in Indien und China seinesgleichen findet. Nun ist der objektive Sinn des Demokratisierungsgedankens als fortschrittlichen Prinzips (freilich nicht der am häufigsten vorgestellte, denn die Massen sind dem Qualitätsgedanken feind, welcher sich vielmehr trotz ihrer, vermittelst der Natur der Dinge, durchsetzt) die Herbeiführung einer effektiven Aristokratie für jede gegebene Zeit, und für die Zukunft eine so weitgehende Aristokratisierung, dass die Menschheit an der Grenze des Möglichen aus lauter Adelsmenschen bestände. Die Basis der Aristokratie soll also fortschreitend verbreitert werden. Wo könnte dieses gründlicher gelingen als in dem Land, dessen Bevölkerung von jeher im weitesten Verstand aristokratisch empfunden, nicht allein zu höherer Rasse und Tradition, sondern auch zu besserem Wissen, begnadeterem Geist, überlegener Kompetenz am bereitwilligsten aufgeschaut hat? — Zwar wird diese deutsche Zukunftsaristokratie keine solche des Seins, sondern vornehmlich des Könnens sein, und leider fehlt vorläufig bei den deutschen, im Gegensatz zu den angelsächsischen Massen, der Sinn für Seinswerte so sehr, dass man füglich daran zweifeln mag, ob der deutsche Aristokratismus in absehbarer Zeit unmittelbar seinem eigentlichen Ziele zuführen wird. Allein für die begonnene Übergangsperiode lässt sich keine wirksamere und im ganzen bessere Aristokratie erdenken als eine des reinen Könnens. Die allermeisten Seelen werden der würdigeren neuen Lebensteilung doch nicht sobald gewachsen sein, was die vollendete Realisierung von Seinswerten ausschließt; der alte Adel als Klasse hat keine Wirkungsmöglichkeit mehr. Aus der Anerkennung besseren Könnens aber entsteht schließlich erneut Verständnis für höheres Sein und damit für dieses eine neue Verkörperungsgelegenheit, die alle früheren, proportional den erhöhten Kompetenzansprüchen, an Ausdrucksmöglichkeiten übertreffen mag. — Der zweite Hauptzug, den ich meine, ist die deutsche Wahrhaftigkeit. Sie bedingt nicht allein die einzig dastehende Objektivität des deutschen Geistes, die der Erkenntnis des Richtigen über dem subjektiv Erwünschten prinzipiell allezeit den Vorrang sichert, sie bedingt vor allem das, weshalb Deutschland bis zur Zeit seiner Prussianisierung allgemein als das Gewissen der Welt bewundert wurde. Neuerdings galt es freilich als besonders gewissenlos, und dies nicht ohne Grund, aber dass dem so sein konnte, widerlegt nicht das alte Urteil: gerade der Gewissenhafteste, der Wahrste kann zeitweilig besonders perfide und falsch erscheinen, wie denn die Anlage zum Heiligen der verbrecherischen am nächsten liegt. Das deutsche Volk ist wirklich und wesentlich das wahrhaftigste und verantwortungsbewussteste unter allen, die Europa bewohnen; dies hat es wieder bewiesen durch die tiefe Selbsteinkehr, die es während der letzten Kriegsphase vorgenommen hat, seine übertriebene Bereitschaft, alle etwaige Schuld zu erkennen und deren Folgen zu tragen. Nun ist absolute Wahrhaftigkeit der einzige Weg, nicht allein die Wahrheit zu erkennen, sondern diese in Taten umzusetzen, dem erstrebten Ideale zu. Solange der Bewusstheitsgrad der Menschheit gering war, erwies blinde Anerkennung weiser Glaubenssätze sich als förderlichste Technik; daher der ungeheure Kulturwert des katholischen Lebensrahmens, des christlichen wie jedes gleichsinnigen, und jener Verdrängungspsychologie, die in der Form des Cant die angelsächsische, extrem unbewusste und unreflektierte Rasse zu einer so überaus hohen Stufe menschlicher Bildung emporgehoben hat. Aber Katholizismus und Cant ermöglichen keinen Fortschritt Besserem zu, denn sie vertragen keine Kritik; heute beherrscht ehrfurchtsloser Intellekt die ganze weiße Menschheit, ist das Leben überdies so kompliziert geworden, dass nur äußerste Bewusstheit und erbarmungslose Selbstprüfung den Weg aus dem Irrsal hinaus in eine bessere Zukunft weisen können. Wem sollte dies sicherer gelingen als dem deutschen Geist? Er ist ja von allen nicht allein der objektivste, der gründlichste, sondern auch der verantwortungsbewussteste. Hier kommt ihm das bürgerliche, im ganzen nach dem Typus des kleinen Mannes zugeschnittene deutsche Wesen zustatten. Diesem liegt das kavaliermäßige Sichhinwegsetzen über schwierige Situationen, das Ignorieren des Unliebsamen, die leicht Hartherzigkeit bedingende Überlegenheit und das Vorzugsrechtsbewusstsein, das Aristokraten kennzeichnet, völlig fern; deshalb ist das soziale Gewissen in Deutschland viel empfindlicher als in England und Frankreich und wird nur von dem der noch Bürgerlicher gesinnten Schweiz übertroffen. Tritt dieser Wesenszug zu dem der Wahrhaftigkeit, dann muss diese grenzenlos geschickt erscheinen, die soviel kleine Aufmerksamkeit erfordernde Lösung der sozialen Frage herbeizuführen. — Der dritte Hauptzug, auf den ich hier besonders hinweisen wollte, ist das konservativ Organische des deutschen Charakters. Bisher hat sich dieses vornehmlich in einer unverwüstlichen Urwüchsigkeit und Ursprünglichkeit und im treuen Festhalten am Althergebrachten manifestiert; es ist auch unwahrscheinlich, dass letzteres, trotz der großen äußeren Veränderung, welche die Revolution gebracht, wesentlich anders werden sollte. Aber dieses meine ich nicht, trotz seiner ungeheuren politischen Vorzüge: gerade seinem Konservativismus verdankt ja England sein stetiges und doch schnelles Fortschreiten, denn nur wo den Gewohnheiten und Gefühlen Zeit gelassen wird, sich in organischer Umbildung den neuen Geistesinhalten anzupassen, findet wirkliche Neuerung statt; allzu bewegliche Völker kommen immer wieder auf den Urzustand zurück, wie Frankreich beweist, in dem einerseits noch soviel von der galloromanischen Seele lebt, welches andererseits, trotz zahlreicher Revolutionen, an der wesentlichen Form der alten Königsherrschaft in seinem Staatsleben noch immer fast nichts geändert hat. Was ich hier im Auge habe, ist das Folgende: das Konservative ist die Allegorie des Zeitlosen; deshalb wirken konservative, traditionsgetreue Typen, der Natur gleich, immer wesenhafter als bloß zeitgemäße, nicht weil irgendein Altes besser wäre als irgendein Neues oder weil konservative Anlage als solche ein Vorzug wäre. Durch ein konservatives Medium hat das Ewigmenschliche bessere Ausdrucksgelegenheit, als durch ein aktualistisches; wer sich gern bei einer einmal gegebenen Form bescheidet, sieht am leichtesten den Gehalt. So gehen denn Ursprünglichkeit, Konservativismus und Sinn für das Ewige meist zusammen. Nun kommt für Europa eine Zeit, wo, nach ungeheuren äußeren Umwälzungen, und gerade wegen ihrer, das Ewige, das Natürliche, das Reinmenschliche wie nie früher, seitdem der Verstand erwacht ist, den ersten Rang im Leben behaupten wird. Politische Probleme werden allgemein als sekundär gelten, schon allein, weil sich solche im großen kaum mehr stellen werden, äußerer Erfolg wird weniger bedeuten als heute, schon allein, weil er nie mehr gleichgroße praktische Möglichkeiten eröffnen wird; das Leben selbst wird das Grundproblem auch des Völkerlebens werden. Unter dieser Konjunktur wird es dem Deutschen leichter als ehedem fallen, sich Geltung zu verschaffen. Solange politische Befähigung, Machtstellung, Überlegenheit, Herrentum überschwenglich geschätzt und Tiefe, Geist und der Sinn für die Problematik des Lebens gering geachtet wurden, erschien er naturnotwendig den Angehörigen anderer Völker gegenüber im Nachteil. Jetzt wird das anders werden. Schon lange ist der Akzent sozialer Bedeutsamkeit, ob man’s spüre oder nicht, von den Ober- auf die Unterschichten gerückt. Immer allgemeiner beginnt der stille Bruder Graurock mehr zu gelten als die besternte Exzellenz. Die nächsten Jahrhunderte werden den heute noch Unreifen, Jugendlichen, vielfach Rohen, doch auf das Menschliche tiefer als ihre glänzenderen Vorgänger Bedachten gehören. Sie aber werden im deutschen Volk den Wegweiser verehren.

Freilich muss dieses dazu seinen Weg auch wirklich finden und seine Bestimmung erfüllen. Auf alles, was ihm nicht liegt, muss es bewusst verzichten, seine großen Aufgaben ausschließlich in dem sehen, wozu es berufen und vor allem worin es einzig ist. Auch für die Völker sind die Zeiten eines ersprießlichen Tausendkünstlertums vorüber. Je mehr sich die Menschheit zu solidarischer Einheit zusammenschließt, desto mehr kommt es auch zwischen den großen Gemeinschaften, wie unter deren Einzelgliedern längst, zur Arbeitsteilung; bald wird es keinerlei Prestigeverlust mehr nach sich ziehen, wenn ein Volk in irgendeiner Hinsicht auf Geltung verzichtet — es wird im Gegenteil als wunderlich beurteilt werden, wenn es irgend etwas anstrebt, wozu das Talent ihm fehlt. Es war ein Missverständnis, vom Menschheitsstandpunkt aus beurteilt, dass die Deutschen sich vorzüglich als Herrenmenschen und Weltmachtaspiranten darstellen wollten, denn nur ihren unbedeutenderen und schlechteren Eigenschaften verhalf dies zur Ausbildung; es verlegte den Bedeutsamkeitsakzent von den besten fort auf die geringwertigsten Typen. Jedes Volk kann gewiss als jedes Geistes Kind erscheinen, insofern als innerhalb jedes alle nur möglichen Typen vertreten sind, aber in jedem Fall ist die Gestaltung, der Anlage entsprechend, von verschiedenem Wert. Deutschlands tiefstem Begriff entspricht nur eine Aufgabe: das dauernde Weltgewissen zu werden — das Wort Gewissen sowohl im Sinne geistiger Bewusstheit als in dem moralischen Verantwortungsgefühl verstanden; seinen besten praktischen Möglichkeiten nur ein Ehrgeiz: das objektiv als richtig Erkannte in immer besseren Objektivationen des Geistes zu realisieren. Diese an sich ewigen Menschheitsaufgaben sind nun zufällig zugleich die akuten Aufgaben der Zeit. Für äußerlich großartige Ambitionen wird innerhalb Europas nicht viel Raum übrigbleiben; was der Deutsche nicht kann, wird fortschreitend weniger bedeuten müssen, was er allein oder am besten kann, fortschreitend mehr. Deshalb winkt Deutschland, wenn es sich rechtzeitig erkennt und den Akzent seines Bedeutungswillens, im Gegensatz zu dem verflossenen halben Jahrhundert, unbeirrbar auf seinen gottgewollten Zielen ruhen lässt; wenn es einsieht, dass seine wahre politische Mission in den Aufgaben besteht, die soziale Frage zu lösen, die ideale Demokratie zu begründen, den Weg über die Politiknotwendigkeit hinaus zu weisen: wenn es nicht vorzeitig an Anarchie zergeht — denn Selbstmord zu üben, hat das Schicksal noch keinem verwehrt —, eine größere und historisch wichtigere Stellung, als es sich je solche erträumt. Die Zeit möglicher Eroberung im traditionellen, überhaupt möglicher Vergewaltigung in irgendeinem Sinn, ist für Europa um im Prinzip; wer den Gedanken an solche grundsätzlich verwirft, wird daher für die Dauer an möglicher Macht nichts einbüßen, im Gegenteil: da die (als solche nie endgültig gelösten) Gleichgewichtsfragen nun fortschreitend mehr ins Geistige transponiert in die Erscheinung treten werden, also moralische Eroberung die Bedeutung der territorialen, das Prestige geistigen Seins und tiefster Menschlichkeit das der äußerlich sichtbaren Größe erben wird, so wird der Vorderste im Sinn der neuen Ära sich bald auch als der Mächtigste darstellen, wie sich denn Belgien schon während dieses Kriegs dem gewaltigen Deutschland an Macht überlegen erwiesen hat. Solches neuartige, seiner möglichen Ausdehnung nach unbegrenzte Eroberertum winkt dem neuen Deutschland. Dieses mag zum Ideal aller sich erneuernden Reiche werden. Ganz gewiss wird es sich zum Gravitationszentrum des Ostens konsolidieren — aller in Osteuropa neuentstehenden kleinen Staaten, alles dessen vor allem, was einstmals Russland hieß. Da diese Völkergebilde als politische Faktoren neu in die Geschichte eintreten, werden sie ihr Leben von vornherein, ohne Übergang, ungefesselt durch Geschichte und Tradition, gemäß dem Geist der neuen historischen Stufe einzurichten streben, weshalb ihnen die Sieger im Weltkrieg, was immer augenblicklich der Fall sei, es sei denn, dass auch sie sich schnell erneuern und Deutschland auf seinem Wege überflügeln, nicht werden Vorbilder sein: ihre geborenen Widersacher vielmehr werden die Jungen in ihnen sehen5.

Die Sieger sind ja nicht gezwungen, im gleichen Maß wie die Besiegten vorhandene Missstände abzustellen, und ohne Zwang gibt es auf Erden selten Verzicht; vieles vom Alten, historisch Gerichteten werden sie beibehalten können und naturgemäß streben, einen Prozess, der sie selbst auf die Stufe der Besiegten herabdrücken und diesen gegenüber zeitlich in Nachteil versetzen würde, bei sich und allen anderen aufzuhalten. In einer Wandlungsperiode wie der heutigen — und eine entscheidendere erlebte die Menschheit seit zwei Jahrtausenden nicht — können Sieg und Erfolg, den alten Mächten beschieden, für die Dauer nicht frommen, denn sie schenken nur Verurteiltem Gnadenfrist, bedeuten, historisch betrachtet, daher nur Zeitverlust, begünstigen überdies in den Seelen das Wachstum gerade der Eigenschaften, die in der neuen Ära weniger Gewicht besitzen sollen. So werden sich die Jungen oder sich Erneuernden mit schicksalsmäßiger Notwendigkeit vom Alten fort dem Neuen zuwenden, also falls Deutschland seiner Bestimmung treu bleibt, diesem. Dies wird sicher zuletzt auch von den Volksmassen der heutigen Ententeländer gelten, falls nicht auch dort bald der neue Geist ans Ruder kommt. Eines vor allein muss Deutschland gelingen, dann ist eine große Zukunft ihm gewiss: es muss den Gedanken des Sozialismus aus aller Parteiprogrammatik herauslösen und ihm den universellen Sinn verleihen, den er tatsächlich besitzt. Was will jener denn im tiefsten und letzten? Solidarität zwischen allen Völkern und Menschen an die Stelle des ursprünglichen Gegensatzes setzen, den naturgegebenen Zustand somit, durch Wiedergeburt im Geist, zu Höherem umschaffen; er erstrebt, in neuer Verkörperung, genau das Gleiche, was jede höhere Religion gelehrt hat, und um dessen praktische Verwirklichung bisher vor allem der Liberalismus verdient gewesen ist6. Prinzipiell bringt er nichts Neues; sein besonderer, zumal sein extrem materialistischer Charakter ist durch die Zeitumstände bedingt und entspricht diesen auch wirklich im großen Ganzen: seit der Industrialisierung des Erwerbslebens, seitdem der Gegensatz von Arbeit und Kapital eine unerhörte Verschärfung erfuhr, seitdem die Zahl der Unbesitzenden übergroß geworden, ist vor allem das ökonomische Problem akut; seitdem Europa an Bewohnern gesättigt und auf seinem Boden ein freies Sich-Ausleben aller nicht mehr gelingen kann, weil es, im Gegensatz zu Amerika, keine unbegrenzten Möglichkeiten mehr birgt, ist die liberalistische Lösung des Solidaritätsproblems unmöglich geworden: der kantische Grundsatz, kein Mensch dürfe jemals als reines Mittel, er müsse als Selbstzweck behandelt werden, scheint bei uns in der Idee nur mehr auf sozialistisch durchführbar. So grenzt denn der sozialistische Gedanke ohne Zweifel die Lebensbasis ab, auf der wir alle einmal fußen werden und schon heute fußen. Um jedoch diesen seinen wahren Sinn in der Erscheinung auszuprägen, muss er aufhören, Parteiprogramm zu sein; aus einer umstürzlerischen Sonderbewegung muss ein für allemal eine allgemeine, nichts ausschließende Lebenseinstellung werden7.

Diese Aufgabe von unüberschätzbarer Wichtigkeit sollte und könnte Deutschland lösen, dieses einzige Land, in dem die Erkenntnis über den Willen dominiert, in welchem jeder eine Weltanschauung hat und an ihr seine Sonderbetätigung orientiert. Löst Deutschland sie nun wirklich, dann ist ihm eine ungeheure werbende Kraft gewiss, denn überall innerhalb des westlichen Kulturkreises gilt die Sehnsucht Gleichem, und die für die künftige Gewichtsverteilung entscheidende Frage, wo jene zuerst Erfüllung findet. In diesem einen Sinne könnte das deutsche Volk noch einmal als großes Erfüllungsvolk in der Geschichte glänzen. Mögen die seiner edlen Söhne, die dem Verlorenen nachtrauern, das Folgende erwägen: was hier an Hohem und Schönem zerschlagen am Boden liegt, ist überall innerhalb Europas sterbend oder todgeweiht. Die Seinswerte des Helden-, des Herrentums, der unabhängigen Größe, der vollendet abgeschlossenen Form werden sich in neuen Medien verkörpern müssen, um historisch wieder wirksam zu werden. Gewiss kehrt die Stunde wieder, wo sie herrschen werden, denn sie sind die höchsten, aber auf lange hinaus werden Werdenswerte alleinbestimmen. Und das ist gut so: dieses Werden führt zielsicheren Schritts fortschreitender Vergeistigung zu, somit der Möglichkeit eines höheren Seins, als solches jemals dargestellt ward. Schon heute ist die Welt vergeistigter als die Meisten ahnen, unbedingte Macht übt schon heute Geist allein aus. Und da dieser, wo er seinen Körper noch nicht fand, wo das chinesische Ideal, dass die Weisheit zur Anmut sublimiert erscheinen müsse, um als Weisheit vollkommen zu sein, in noch weiter Ferne winkt, auf das Körperliche wenig Gewicht legt, und dies mit Recht, so folgt hieraus, dass wir einer Periode höchstgeschätzter Schlichtheit entgegengehen, die dem Deutschen bessere Ausdrucksgelegenheit bieten wird, als Hofluft und Protzentum.

Fern davon, dass es mit Deutschland zu Ende sei, lässt sich füglich behaupten: jetzt, wo seine äußere Größe zerschellt ist, und dies eigentlich zufällig, ohne zwingenden inneren Grund, denn Bismarcks Schöpfung hätte unmittelbar weiterleben können — jetzt zum erstenmal seit den fernen Tagen der Reformation scheint es im höchsten Menschheitssinne zukunftsreich. Wir erleben zur Zeit den wohl grandiosesten historischen Ausdruck der ewigen Wahrheit, der Christus die wirksamste Glaubensfassung gab, dass es nicht die augenblicklich und weltlich Starken sind, die über die größte geschichtliche Macht verfügen. Es bedeutet nicht bloß Selbstschutz der gequälten Kreatur, wenn unter bedrückten Völkern — so den Deutschen mit Fichte unter Napoleon, so den Polen seit dem Ende ihrer Selbständigkeit, den Israeliten seit ihrer Verschleppung nach Babylon — so leicht der Glaube einer messianischen Aufgabe hochkommt: gleichwie der Einzelne Askese üben muss, wenn er über seinen bisherigen Zustand hinausgelangen will, so sprießt schöpferische Sehnsucht nach neuem Leben nur aus der Bedrückung des gegenwärtigen heraus. Deshalb werden die fernstwirkenden und zukunftsreichsten Ideale typischerweise von den untersten Volksschichten als Glauben bekannt. Aus antiken Sklavenvierteln heraus eroberte das Christentum seinerzeit die Welt; wird der allgemeine sozial-ökonomische Menschheitszustand besser, so wird dies vornehmlich Proletariersehnsucht zu danken sein. — Deshalb kommt während aller großen Umwälzungen das Heil von denen, welche geschwächt sind oder am tiefsten gelitten haben. Nur sie finden in sich nicht allein die Kraft, sondern überhaupt den Anlass zu radikalem Neuwerden. Ganz im Sinn der chinesischen Weisheit, die dem Weichen gegenüber dem Harten größere Macht zuspricht, haben Ideen in physisch geschwächten Medien die beste Wirkungsmöglichkeit, weshalb es missverständlich ist, gleich so vielen, dem demokratischen Idealismus vorzuwerfen, dass er nur unter Besiegten blühe. Solange die Welt steht, wird es Aufgabe der Mühseligen und Beladenen bleiben, des Höchsten Herolde und Einführer zu sein.

Freilich muss man es beklagen, dass der Mensch noch immer so wenig hoch entwickelt ist, dass er Übermacht und unverdientes Glück meist elend schlecht verträgt, dass er den heilsamen äußeren Druck nicht durch Selbstbeherrschung ganz ersetzen kann. Von den Völkern gilt solches anscheinend durchaus: recht eigentlich ekelerregend war das Schauspiel, wie Deutschland, solange es entscheidend zu siegen hoffte, raublustig und frech, kaum dass es ihm schlecht ging, schier ohne Übergang idealistisch wurde, wie die Entente, zu Beginn wirklich Bannerträgerin des Ideals, immer mehr, und zuletzt ganz, dem Einfluss gemeingeiler Gier verfiel. Es sollte anders sein8. Doch solang es nicht anders ist, muss mit den Tatsachen gerechnet, müssen die positiv bewertet werden, die, gleichviel aus welchen subjektiven Motiven, den objektiven Fortschritt begünstigen.

Aber noch einmal: auf dass Deutschland das werde, was seiner Idee entspricht, muss es sich tatkräftig bewusst zu seinem Schicksal bekennen, muss es dieses erfüllen, und die Erfüllung mag an inneren und äußeren Ursachen scheitern. Ohne viel Schwierigkeit mag es an Anarchie zugrundegehen, auch an übergroßer Verarmung; es mag andrerseits eine Reaktionsperiode erleben, die es seine entscheidende Stunde versäumen lässt. Fremde Ideenträger mögen ihm zuvorkommen, nicht allein auswärts, sondern im eigenen Land. So kann es leicht geschehen, dass Europa, und in ihm Deutschland, amerikanisiert wird, ehe dieses seine Spezifische Form gefunden hat. Diese letzte Gefahr ist in der Tat außerordentlich groß, denn Amerikas jetzt beispiellos dastehende Macht wirkt allein schon werbend, und die möglichen Problemlösungen des überseeischen Überflusses werden vielen mehr einleuchten, als die der europäischen Armut. Liberale Demokratie im angloamerikanischen Sinn ist zweifelsohne auch sympathischer als sozialistische Zentralisierung. So mag heute der ganze Erdball, soweit er unsere Zivilisation übernimmt, amerikanisiert werden, gleichwie vor 2000 Jahren die ganze damals bekannte Welt die Lebensformen Roms übernahm. Nun ist aber die angelsächsische Zivilisation, gleich der römischen, wesentlich geistlos, und da es heute kein Griechentum gibt, keine Kultur von so absoluter Überlegenheit, dass sie trotz äußerer Machtlosigkeit, wie dies in Rom geschah, die Barbaren sich schließlich unterwirft, so besteht die Gefahr, dass die weiße Menschheit fortschreitend entgeistet wird. Ihr kann nur vorgebeugt werden, wenn der Amerikanismus nicht zur Alleinherrschaft gelangt; eine aristokratische Minderheit müsste vorhanden und wirksam bleiben inmitten der allgemeinen Geistesdemokratie. Hier läge die Aufgabe dessen, was innerhalb Europas innerlich selbständig bleibt, vor allem also wiederum Deutschlands, das schon durch sein politisches Schicksal in Gegensatzstellung zum Westen gedrängt erscheint. Es muss unbeirrbar seine eigenen Wege gehen, des eingedenk, dass nur, wer sein strikt persönliches Wesen ganz zum Ausdruck bringt, die Menschheit fördert, denn aus dem Einigkeitsprinzip heraus spricht Gottes Stimme, nie aus dem der Mehrheit. In der Masse löst sich die Seele auf. An die Stelle persönlichen Wissens, Wollens und Tuns tritt die Mechanik psychischer Ansteckung; Nachahmung ersetzt Schöpfung. Der Prozess des Geists schlägt recht eigentlich in sein Gegenteil um: führt er von sich aus, seinem eigentlichen Begriff nach, wachsender Differenzierung zu, stellen Persönlichkeit und Einzigkeit, auf immer höherer Ebene, seine Ziele dar, so schafft der Massengeist, wo er vorherrscht, fortschreitende Uniformierung und Nivellierung, so dass das Mehrheitsprinzip, falls es dauernd an der Herrschaft bliebe, aus der Menschheit ein ebenso einheitliches , neuerungsunfähiges, auskristallisiertes Kollektivwesen machen würde, wie es unser Sonnensystem als Ganzes ist. Hieraus erhellt der Wert der Verschiedenheit an sich; hieraus erhellt zumal der ungeheure Wert einer Monade von der Eigenart Deutschlands: da deren persönliche Notwendigkeiten auf lange Zeit hinaus mit den akutesten Menschheitsforderungen zusammenfallen werden, so kann ihr glücken, was den abstrakter veranlagten, unhistorischer denkenden, revolutionär gesinnten Romanen und Slawen schwerlich je, und den Angelsachsen aus anderen Gründen schwerer glücken wird: auch in dieser Weltkrisis den organischen Zusammenhang zwischen Neuem und Altem zu wahren. Deutschlands Idee verlangt nämlich überhaupt keine Wandlung, um vom Alten zum Neuen zu gelangen; von Fichtes geschlossenem Handelsstaat über Bismarcks unextensive, unaggressive, sich selbst genügende, innerlich straffe deutsche Einheit bis zum semisozialistischen Staatswesen, das jetzt entsteht, führt eine schnurgerade Entwickelungslinie. Dies muss es erkennen, mit dieser Erkenntnis sein ganzes Wesen durchdringen, aus ihr heraus schaffen. Dann wird es mit schlichter Selbstverständlichkeit an die Spitze der Menschheitsentwicklung geraten, denn nur wo das Leben natürlich wachsen kann, findet dauerhafte Neuerung statt. Das russische Volk ist in der Entwicklung noch viel zu weit zurück, um den ideellen Vorsprung, den es durch seine größten Söhne mit innerem Recht, sonst aber rein zufällig, durch Weltkriegskonjunktur, gewonnen, praktisch einzuhalten; überdies liegen seine Vorzüge ausschließlich auf seelischem Gebiet, während geistige für die Praxis entscheiden. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der individualistische Westen, sofern er’s bleiben kann, in absehbarer Zeit neue Töne in der Melodie des Fortschritts anschlagen wird. Amerika, hinter dem neuen Deutschland ideell zurückgeblieben, wird sobald keine Ursache haben, seinen Zustand zu ändern. Von den übrigen Gliedern der heutigen Entente wird schwerlich eins sich so schnell metamorphosieren können wie Deutschland. Ihr Sieg hat sie psychologisch und ideell um gute 50 Jahre zurückgeworfen. Einige unter ihnen sind neuerdings in einem Maße reaktionär gesinnt, das ihnen die Zukunft recht eigentlich abschneidet: die Behandlung, welche Deutschland seit dem Waffenstillstandsangebot erfuhr, macht aus ihm einen Märtyrer allergrößten Stils, und es gibt nichts Mächtigeres auf dieser Welt.

Schnelle Erneuerung ist heute so dringend notwendig, dass man es kaum glauben mag, wenn man noch irgendwo die alten Mächte verantwortungsfroh am Ruder sieht. Freilich ist Mut mehr als Feigheit, festes Durchhalten besser als sentimentale Nachgiebigkeit, aber diese Tugenden müssen von einer den höchsten Errungenschaften der Zeit entsprechenden Erkenntnisbasis aus geübt werden, um Gutes zu fördern; einem falschen oder veralteten Geiste dienend, wirken sie Unheil, so edel ihre Träger auch seien. Dies gilt überall und immer, zur Zeit einer Weltenwende aber in extremem Maß: alles nämlich, was nicht der Erneuerung dient, kommt heute unmittelbar dem Bolschewismus zugute. Dieser bezeichnet das psychologisch interessanteste Phänomen der neueren Geschichte: den radikalsten passage à la limite, der sich überhaupt denken lässt, den verkörperten Willen zum Tod einer sterbenden Welt. Was er im Letzten will (nicht sein Programm) ist ideal, doch genau im gleichen Verstand, wie der Wille zum Tod ideal sein kann, insofern jener durch diesen hindurch das ewige Leben erstrebt. Auf Erden sind seine Ideale unverwirklichbar, solang die Massen nicht aus Engeln bestehen und die Letzten nicht schon, dem Adel der Gesinnung nach, zu lauter Ersten geworden; es ist nur logisch, dass der Versuch, die Ideale zu realisieren, zum Terror geführt hat, zum umfassendsten System der Bedrückung, das es je gab, das mehr Menschen zu Teufeln umschuf oder moralisch brach, als irgendein früheres. Hätte Christus geglaubt, sein Reich sei von dieser Welt, hätte er die Macht und Konsequenz gehabt, an seine Begründung im großen zu gehen, auch aus ihm wäre ein Lenin geworden. Aber ideal sind die Forderungen des Bolschewismus, ja sie bergen absolute Ideale in seelisch menschlichem Zusammenhang, so geistfeindlich sie seien. Daher wird kein Altes als solches ihn besiegen. Entsteht aus dem Siechtum des Alten heraus nicht rechtzeitig ein Neues, Realisierbares, das der neuen Bewusstheitsstufe volle Rechnung trägt, so wählt Europa unweigerlich den Tod9.

1 Vgl. hierzu mein Reisetagebuch, Kapitel Auf dem Stillen Ozean, Amerika und Rayküll.
2 Deshalb komme man mir nicht immer wieder mit dem Argument, die Deutschen seien das historisch staatsbildendste Volk Europas gewesen und folglich wesentlich ein Herrenvolk. Das Wesentliche ist vielmehr, dass die deutschen Typen, von denen letzteres gilt, in der Regel auswanderten und wo sie in Deutschland blieben, sich zu besonderen Kasten absonderten, sehr ähnlich wie die Herrentypen in Indien. Vom deutschen Volk als Gesamtheit gilt durchaus das, was ich hier ausführe, und da fortan, in unserer demokratisierten Welt, die Gesamtheit bestimmen wird, so ergibt sich aus meinen Darlegungen unabwendbar das fernere deutsche Schicksal. Auch das bisherige ergibt sich letztendlich aus ihnen, denn der Erhöhung wäre kein periodischer Niederbruch gefolgt, wenn jene nicht das Werk von Ausnahmetypen gewesen wäre. Der historischen Bedeutung nach beurteilt, ist Deutschland immer vor allem ein Mutterboden für aus der Art Geschlagene gewesen. Dies gilt sowohl von seinen großen Einzelnen, wie von den Stämmen und Kasten, die, von Deutschland ausgehend, die Welt eroberten. Das gleiche Verhältnis spiegelt sich übrigens sehr merkwürdig innerhalb des Baltentums, was der beste Beweis seines ursprünglichen Deutschtums ist: was die Balten in der Weit bedeutet haben und bedeuten, geht auf solche zurück, die sich von der Durchschnittsart sehr stark unterscheiden; merkwürdigerweise aber gehören diese aus der Art Geschlagenen sämtlich einem gleichen, sehr ausgesprochenen Typus an, so dass sie, in den Augen des Auslands, als eigentliche Repräsentanten der Balten gelten! In diesem Fall, im Gegensatz zu dem der Deutschen, besteht die Auffassung, dass die Ausnahme bestimmt, zu Recht, weil wir der Zahl nach zu gering sind, als dass die Masse irgendwelche Bedeutung haben könnte. (November 1921.)
3 Neuerdings wird dieser im gleichen Sinn vom rheinisch-westfälischen Industriellen überflügelt. (November 1921.)
4 Ausgeführt habe ich letztere Gedanken unter anderem in meinen Aufsätzen Deutschlands Beruf in der veränderten Welt und Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst, 2. Aufl. Darmstadt 1922.
5 Dies geschieht auch, immer mehr, aus Valutagründen. Der Gegensatz zwischen wenigen Kapitalisten und vielen Proletariern lebt jetzt auch in den Völkern verkörpert, und mir scheint gewiss, dass sich in diesem Fall die Proletarier tatsächlich immer mehr zusammenschließen werden. (November 1921.)
6 Eine wichtige Ergänzung zu diesem Gesichtspunkt bringt Leonie von Ungerns Broschüre Der Sinn des Sozialismus, Otto Reichl Verlag.
7 Es sei mir gestattet, in diesem Zusammenhang eine kleine Anregung, betitelt Der Sozialismus als allgemeine Lebensbasis, die ich in der Neuen Europäischen Zeitung vom 26. November 1918 veröffentlicht habe, wieder abzudrucken, und zwar, um zu zeigen, inwiefern es manchmal nur einer veränderten Fragestellung, also eines Formalen bedarf, um einem realen Konflikt den Boden unter den Füßen zu entziehen. Ich bin überzeugt, dass der verhängnisvolle Gegensatz Bourgeoisie-Proletariat auf die angeregte Weise für die Vorstellung wirklich aus der Welt zu schaffen wäre, was die soziale Frage ihrer Lösung mit einem Ruck vielleicht um die Hälfte des Weges näherbrächte. — Es ist eines der tragischen Missverständnisse dieser Zeit, dass der Sozialismus noch immer als Parteifrage verstanden und behandelt wird, und dies von Anhängern sowohl als Gegnern. In Wahrheit wurzelt sein Gedanke tief unter allen Parteien; er weist über alle mögliche Parteibildung hinaus. Sein Ideengehalt umgrenzt eine neue Lebensbasis, oberhalb derer erst von Parteiprogrammen die Rede sein kann.

Die sozialistische Weltanschauung, wie seinerzeit die christliche, ist die Verkörperung einer ganz allgemeinen Tendenz, diese Tendenz ist ihr Wesentliches, und ihr gehört die Zukunft. Ich wüßte von keinem lebendigen modernen Geist, der nicht im tiefsten Verstande Sozialist wäre. Ich wüßte von keiner lebendigen Idee, die heute nicht dem linken Lager entstammte. Ich wusste von keinem starken Zeitimpuls, der nicht letzthin dem sozialistischen Ideale zustrebte. Aber die besonderen Vorstellungen, in denen sich die allgemeine Tendenz verkörpert, sind verschieden von Gesinnung zu Gesinnung, von Zeit zu Zeit. Der orthodoxe Marxismus wird noch von vielen weiterbekannt, aber ebensowenig wie die Augsburgische Konfession bezeichnet er den notwendigen äußeren Ausdruck der lebendigen Idee, die aller Gestaltung innerer Seinsgrund ist. Man kann Sozialist sein und im übrigen konservativ, liberal oder radikal, buchstabengläubig oder konfessionslos, historisch denkend oder Rationalist, des Erbbesitzes Freund oder sein Gegner. Wie im Altertum eine Verwandlung der Gesamteinstellung dem Leben gegenüber die heidnische Menschheit zur christlichen umschuf, während alles Besondere noch lange beim alten blieb und sich so allmählich veränderte, dass die Gewohnheiten, Begriffe und Vorstellungen der heutigen Menschen mit denjenigen der antiken vielfach übereinstimmen, sind heute alle lebendigen Menschen Sozialisten, insofern eine bestimmte Bekehrung in sozialpolitischer und -ökonomischer Hinsicht in ihnen Platz gegriffen hat, während die Mehrzahl sich noch sträubt und wohl für immer sträuben wird, sich zu einem der heute gültigen sozialdemokratischen Programme zu bekennen.

Dieser Umstand bedingt notwendig einen Kampf, nicht aber den Kampf, der heute besonders erbittert tobt: es gilt nicht mehr den Streit für oder wider den Sozialismus, denn dieser hat in den Geistern schon vollständig gesiegt, sondern lediglich den um die Vorherrschaft dieser oder jener Richtung auf gemeinsamer allgemein-sozialistischer Basis. Dieses einzusehen, erscheint mir als die wichtigste prinzipielle Aufgabe des Augenblicks.

Bevor dieses nämlich geschieht, bleibt der Kampf der Richtungen notwendig unfruchtbar, oder aber er führt ins Verderben. Wollen nur die Proletarier mit ihrem Klassenprogramm als Sozialisten gelten, erblicken sie ihr Hauptziel dauernd in der Entthronung der Bourgeoisie, so bekämpfen sie letzten Endes die Kultur, denn ohne jeweilige (freilich nicht notwendig politisch rückversicherte) Oberschichten, die von einer traditionellen Vorzugsstellung ausgehen können, wird höhere Bildung sobald nicht gedeihen. Bekämpfen die Konservativen und traditionell Gebildeten den Sozialismus als solchen, weil sie ihn gleichfalls einseitig als erstrebte Diktatur des Proletariats verstehen, so stellen sie sich in Gegensatz zum Geist der neuen Zeit, müssen, als Minorität, früh oder spät unterliegen und führen so durch eigenes Verschulden jene gefürchtete Diktatur herbei, die Europas Kultur begrübe. Aber wie, wenn wir alle uns nun offen zum Geist der neuen Zeit, dessen Grundcharakter die sozialistische Tendenz ist, bekennten? Damit wäre eine gemeinsame Basis auch für die Vorstellung geschaffen, der aus falscher Fragestellung entsprossene Gegensatz hörte von selber auf, der bisher unfruchtbare oder unheilschwangere Kampf schlüge ins Fruchtbare, ins Aussichtsreiche um. In Wahrheit gilt ja Feindschaft den traditionellen Bildungsträgern genau nur insoweit, als sie sich zur neuen Ära in Gegensatz stellen; selbst die überzeugtesten Sozialdemokraten, sofern sie Vernunft besitzen, wollen nicht wirklich, dass es keine Reichen, keine traditionell Gebildeten, keine Edelleute gäbe, sondern nur, dass diese die neue Lebensbasis anerkennten und von ihr aus wirkten. Konservative und Radikale, Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete wird es immer geben, denn so will es die Natur der Dinge, und mögen sie subjektiv noch so feindlich einandergegenüberstehen — objektiv ergänzen sie einander, sooft ein einheitlicher Gesamtzustand besteht. Dieser Gesamtzustand, der heute fehlt, wäre mit einem Schlage geschaffen, wenn alle fortschrittlichen Parteien sich ihrer gemeinsamen neuen Basis bewusst würden und diese offen bekennten; in der Politik bedeutet ein Schlagwort, eine glückliche Fassung mehr, als die bedeutendste, aber unerfasste praktische Leistung. Wir alle sind Sozialisten. Die Folge solcher Erklärung wäre die, dass es eine besondere sozialistische Partei bald nicht mehr geben könnte, und folglich auch keine in Verteidigungsstellung gedrängte Bourgeoisie, keine bedrohte Erb- und Gesinnungsaristokratie. Die bisher sich gegenseitig nach dem Leben trachtenden Gegner würden sich wettstreitend zusammenfinden auf einer neuen Grundlage, die im übrigen schon besteht und nur des Bewusstgewordenseins ermangelt. Eben jetzt haben sich alle fortschrittsfreundlichen bürgerlichen Parteien, in Gegensatzstellung zur Sozialdemokratie, fest zusammengeschlossen. Ihr Programm ist gleichwohl ein wesentlich sozialistisches. Zweifelsohne wäre es günstiger gewesen, wenn die Verhältnisse erlaubt hätten, den veralteten Gegensatz Sozialismus-Bourgeoisie vor den Wahlen zur Nationalversammlung aus der Welt zu schaffen, denn so droht auch innerhalb dieser viel unfruchtbarer Streit. — Vgl. hierzu S. 164 und 181 ff.

8 Den Weg zum Anders- und Besserwerden weise ich grundsätzlich in meinem Reisetagebuch eines Philosophen, und jeweilig im kleinen, und mehr unmittelbar praktisch, im Weg zur Vollendung, dem Organ der Schule der Weisheit.
9 Vgl. hierzu meine im Juli 1918 niedergeschriebenen Gedanken über Europas Zukunft. Zürich 1918.
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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