Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

V. Das Leben

Transzendenz

Der Formalismus, den die Philosophie neuerer
Zeit verklagt und geschmäht, und der sich in
ihr selbst wiedererzeugte, wird, wenn auch seine
Ungenügsamkeit bekannt und gefühlt ist, aus der
Wissenschaft nicht verschwinden, bis das Erkennen
der absoluten Wirklichkeit sich über seine Natur
vollkommen klar geworden ist.
   Hegel

Es fragt sich nun, ob es mehr gibt in der Welt, und ob es möglich sei, mehr über dieselbe auszusagen, als die Ergebnisse kritischer Wissenschaft enthalten. Gewiss ist, dass Wissenschaft nicht weiter vordringen kann, als bis zum erschöpfenden Begriffe der Gesamtheit des Erscheinenden nach Gesetzen; aber damit ist nicht bewiesen, dass dieser Weltbegriff tatsächlich alles Wirkliche einschließt. Es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass dieses der Fall sein sollte, denn die Grenzen, die wir allerseits abgesteckt haben, setzen gewissermaßen ein weiteres Feld voraus. Kant, dem das Problem in der gleichen typischen Gestalt erschien, wie uns, ist sich dessen auch schon voll bewusst gewesen, dass mit dem abschließenden Begriffe von der Natur noch keine erschöpfende Erkenntnis alles Wirklichen gewonnen sei. Allein, da sein Standpunkt auf den Zusammenhang des erkennenden Menschen mit der Totalität des Gegebenen keine deutliche Aussicht gewährte, so ist er hierüber zu keiner klaren Vorstellung gelangt. Er hat transzendente Wirklichkeiten postuliert, er hat sie nicht nachweisen können, und da ihm dieses Wichtigste missglückte, so ist es einer schöpferischen Nachwelt nicht zu verdenken, dass sie bei Kants Lehre vom Transzendenten nicht stehen geblieben ist. Nun muss es aber einmal bestimmt werden, was es mit diesem Transzendenten, das alle großen Denker angenommen haben, für eine Bewandtnis hat: ob es wirklich existiert, was sein Charakter ist, ob es in irgendeiner Form bewusst werden kann. Und gerade uns muss diese Aufgabe besonders locken, weil uns die Grenzen des wissenschaftlichen Weltbildes vollkommen deutlich geworden sind. Was aber in einer Hinsicht ganz deutlich wurde, lässt sich meistens nach allen bestimmen.

Um sich mit dem Probleme der Transzendenz unter den günstigsten Umständen auseinanderzusetzen, dürfte es angezeigt sein, sich die Wandlungen, die es im Laufe der Geschichte erlitten hat, kurz ins Gedächtnis zurückzurufen. Die primitivste und zeitlich früheste Auffassung der Transzendenz, welche die Forschung nachweisen kann, ist die eines räumlichen Darüberhinausliegens; kein Wunder, denn räumliche Vorstellungen sind am leichtesten zu bilden und spatiale Analogien scheinen immer evident. So wurde jenseits der Welt, aber doch im Raume, ein Himmel angenommen, in dem alle nicht-empirischen Wesenheiten ihren Ort haben sollten. Noch Plato ist vom Bann dieser Vorstellungsart nicht ganz befreit gewesen. Die nächsttiefere Auffassung lässt den Unterschied empirischer und nicht-empirischer Wirklichkeiten im Verhältnis zur Zeit zutage treten; auf dem Wege des folgenden Gedankenganges ist sie unschwer zu gewinnen: die Ewigkeit ist die Grenze der Zeit, was nicht an die Zeit gebunden ist, muss ewig sein; nun ist das Hauptkennzeichen des empirischen Geschehens eben sein zeitlicher Verlauf: folglich muss das vornehmste Attribut des Transzendenten seine Ewigkeit sein. Ich brauche kaum zu bemerken, dass diese Vorstellungsart noch heute lebendig und wirksam ist. Erst in vorgeschrittenen Epochen von reifer Kultur scheint es überhaupt möglich zu werden, das überschreiten der sinnlichen Erfahrung nicht als raumzeitliches, sondern als begriffliches Verhältnis zu erfassen, erst von einem späten Zeitpunkte an hat Transzendenz das Transzendieren über das Geltungsbereich eines bestimmten Begriffs bedeutet. Aber welches Begriffs? Hier scheinen viele Antworten möglich. Der erste Begriff, der in Frage gekommen ist, war derjenige der Natur als Inbegriffs des Vorhandenen und Nachweisbaren. Wenn diese nicht alles Wirkliche umfassen sollte, so blieb dem Denken nichts übrig, als die Annahme einer übernatürlichen Welt, und diese Welt konnte beliebig verstanden werden, da sie par définition dem Raumzeitlichen entrückt, mithin unvorstellbar war. So ist sie vom Altertum an bis zur Neuzeit die gemeinsame Voraussetzung der meisten Philosophien gewesen, ob diese sonst vereinbar waren oder nicht, die Voraussetzung des Platonismus sowohl als der christlichen Metaphysik, der Scholastik sowohl als der beginnenden Aufklärung. Erst durch Kant ist sie im Prinzip gestürzt worden, erst er hat den Begriff der Transzendenz auf eine wesentlich neue Weise bestimmt. Diese Neubestimmung hat aber eine neue Epoche für das Denken eingeleitet: Kant hat gezeigt, dass, soweit kritischer Forschung ein Urteil zukommt, unter Transzendenz in erster Linie kein Jenseits der natürlichen Wirklichkeit, sondern nur ein Jenseits der Begreiflichkeit zu verstehen ist; da die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens enger sind als die Grenzen möglicher Wirklichkeit, so kann es sein, dass die Natur mehr enthält, als Naturwissenschaft zu begreifen vermag.

Kant ist sich der ganzen Tragweite seiner Neubestimmung nicht bewusst geworden. Er für seine Person hat nicht gesehen, dass das Postulat einer übernatürlichen Welt nunmehr hinfällig geworden war, nicht erkannt, dass jetzt der Weg zu einer objektiven Bestimmung des Transzendenten gewiesen sei. Ihm ist entgangen, dass es hinfort nicht mehr anginge, Wesensfragen durch Postulate zu entscheiden, und so hat er in seiner intelligiblen Welt gewisse Daten des Selbstbewusstseins wie die Freiheit des Willens, ontologische Möglichkeiten wie die Unsterblichkeit, und reine Glaubenssätze wie den persönlichen Gott und die moralische Weltordnung, als ob sie alle einer Sphäre angehörten, nebeneinander untergebracht. Ja, er hat schließlich das Transzendente geradezu als das Reich des Glaubens definiert und den tiefsten Sinn seiner Grenzbestimmung in einem Satze wiederzugeben gewähnt, der ihm zwar von seiner Zeit am höchsten angerechnet worden ist, in Wahrheit aber zu den wenigen ungenauen Aussprüchen gehört, die er sich überhaupt hat zuschulden kommen lassen:

Ich musste das Wissen aufheben,
um zum Glauben Platz zu bekommen.

Denn dieser Satz gibt die Erkenntnislehre der griechisch-orthodoxen Kirche besser wieder als den Sinn seiner Kritik der Vernunft. Diese steckt die Grenzen ab, welche das Gebiet wissenschaftlicher Begreifbarkeit umreißen, und sie erweist im Prinzip, dass dieses nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit bezeichnet, der von der Organisation des Menschen bedingt ist, sie tut nicht dar, dass diese Natur, die freilich allein für die experimentelle Forschung in Frage kommt, alles Natürliche einschließt, behauptet mithin auch nicht, dass jenseits des Wissens sofort der Glaube anheben müsse. Kants Neubestimmung der Transzendenz hat in Wahrheit die unermeßliche Bedeutung, dass sie den Weg dazu weist, im Rahmen der Natur nach einem Wirklichen zu suchen, das in dem nur Erscheinungen und Gesetze einschließenden Weltbegriffe der Wissenschaft nicht enthalten wäre.

Seit Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft ist dieser Weg gewiesen. Er ist noch nie durchmessen worden, weil das kritische Problem dank der Fassung, die Kant ihm gab, seinem vollen Umfange nach nicht zu übersehen war. Wir haben nun das Folgende festgestellt: der Satz,

meine Welt ist Vorstellung,
von den Erkenntnisformen bedingt und gestaltet
,

hat den Sinn, dass die Welt des Menschen, wie die jedes Organismus, seine Umwelt ist, deren Umfang und Charakter durch seine Organe bestimmt wird; die Begriffe sind Werkzeuge, die Theorien Erkenntnisrahmen der Wirklichkeit, also setzt alle Wissenschaft den Menschen mit seinen Eigentümlichkeiten voraus. Transzendent ist sonach das, was außerhalb des menschlichen Lebensrahmens belegen und durch Begriffe nicht zu fassen ist. — Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zunächst eine sichere Erkenntnis, sodann eine wahrscheinliche Vermutung. Die sichere Erkenntnis ist die folgende: dass das transzendente Wirkliche, im Falle es ein solches gibt, nicht in der Sphäre der Begriffe belegen sein kann. Denn diese sind Instrumente der Erkenntnis, sie sind also Erscheinungen speziellster Art. Da die äußersten Begriffe dem innersten Wesen der Dinge nicht am nächsten kommen, sondern diesem vielmehr am fernsten liegen, so müssen alle die metaphysischen Konstruktionen, welche das transzendente Wesen der Welt in Urbegriffen wie die neuplatonische Eins, Spinozas Substanz, Hegels Idee erblicken, ohne realen Hintergrund sein — wenigstens insofern sie beim Worte genommen werden. Und das gleiche gilt von jeder platonistischen Metaphysik. Ideen — man verstehe sie als Urbilder, Gesetze, Urteilsforderungen, Werte oder Gleichungen — sind, soweit es sich um Natur und nicht um geistige Wirklichkeiten handelt, die vom selbsttätigen Bewusstsein her bestehen, nichts als Konstruktionszentren von Zusammenhängen, die aus der gegebenen Wirklichkeit abstrahiert oder dieser aufgezwängt werden; sie sind also im günstigsten Falle Gesichtspunkte, welche, selber im Umkreise des Gegebenen belegen, dieses zu überschauen gestatten. Mehr und anderes sind sie nicht und können sie nicht sein. Aus der Sphäre der Natur führt kein Idealismus hinaus und keine idealistisch orientierte Weltanschauung. So hat es schlechterdings keinen Sinn, aus dem Einheitsbedürfnis heraus Metaphysik zu treiben: denn was bedeutet es in Wahrheit, dass fast alle Philosophen die Welteinheit vorausgesetzt, die Welt auf Prinzipien gegründet haben? Nicht dass die Welt tatsächlich eine Einheit wäre oder dass sich im Grunde des lebendigen Bewusstseins ein kosmisches Urprinzip nachweisen lässt, sondern lediglich, dass allgemeine Aussagen bloß innerhalb geschlossener Systeme möglich sind, nur insofern Erscheinungen einheitlich zusammenhängen, sind sie nach Gesetzen zu begreifen. Die Einheit des Weltalls muss mit vorausgesetzt werden, wenn seine Begreiflichkeit angenommen wird, denn nur unter der Bedingung seiner Einheit kann es begriffen werden. Daher hat Poincaré vom Standpunkte jeder Wissenschaft recht, wenn er sagt:

Nous n’avons pas à nous demander si la nature est une, mais comment elle est une.1

Ganz im gleichen Sinne, wie die Gesetze der Physik und Chemie nur in geschlossenen Systemen gelten, kann die Philosophie über das Weltall nur dann Allgemeines aussagen, wenn dieses als geschlossenes System gedacht wird. Aber welchen Sinn kann es dann wohl haben, das Postulat der Einheit auf das Transzendente zu extrapolieren? Dieses Postulat bestimmt und umgrenzt doch gerade die mögliche Begreifbarkeit empirischer Vorgänge. Sobald von der Vorstellungswelt abgesehen wird, ist es offenbar ein Missverständnis, die Forderungen überhaupt zu erheben, die eben nur für jene gelten. Das transzendente Wirkliche, im Falle es ein solches gibt, darf also nicht in der Sphäre der Allgemeinbegriffe gesucht werden; soviel steht fest. — Die wahrscheinliche Vermutung, das Transzendente betreffend, ist nun die folgende: dass es nach außen zu, jenseits des Umkreises unserer Umwelt belegen sei. Nun ist es wohl sicher, dass uns eine Fülle empirischer Wirklichkeiten entgeht. Unsere Organe vermögen nicht alles aufzufalten, unser Begriffsvermögen reicht nicht bis an die Grenzen der Welt. Gleichwohl hält die Vermutung, dass das Transzendente irgendwo nach außen zu, jenseits des Gegebenen, seinen Ort habe, der Kritik nicht stand: es kann sich hier wohl um praktische, ganz gewiss nicht um absolute Grenzen handeln. Es gibt keine Überlegung, die uns dazu zwänge, Erscheinungen irgendwelcher Art für wesentlich unerfahrbar zu halten. Das Erscheinende ist nämlich überhaupt nur durch seine Erfahrbarkeit zu definieren, Erscheinungen, welche jenseits einer möglichen Erfahrung belegen wären, ob sie gleich der wirklichen nicht zugänglich sind, kann es nicht geben, ihr Begriff hat keinen Inhalt. Der Überzeugung steht nichts im Wege, dass es dereinst gelingen wird, alle die Phänomene ins Bereich der experimentellen Forschung hinüberzuziehen, die ihr bisher nicht zugänglich waren, wie denn die Grenzen unserer Umwelt schon jetzt beträchtlich weitere sind, als die Natur sie uns gesteckt hatte. Was aber im Prinzip erfahrbar ist, ist eben deshalb nicht transzendent. Die so genannten okkulten Phänomene gehören geradeso zur Physik (in des Wortes eigentlicher Bedeutung), wie diejenigen, welche klar erwiesen und allgemein anerkannt sind, und sie werden auch dereinst, falls ihnen wirklich objektive Gültigkeit zukommen sollte, im Rahmen der Natur begriffen werden. Die Fragen, das Natürliche betreffend, die man mit einem Ignorabimus beantworten muss, sind allesamt falsch gestellt. So ist es ein Missverständnis, eine Grenze der Wissenschaft darin zu erblicken, dass wir von der Welt nur im Rahmen bestimmter Formen Kenntnis erlangen können, — eine Grenze insofern, als die Welt in Wahrheit anders wäre als sie uns erscheint: das Dasein der Welt besteht eben in ihrem Erscheinen, und ihr eigentümlicher Charakter in ihrer Erscheinungsform. Anders verstanden, entbehren diese Begriffe des Inhalts. Das Phänomen lügt nicht und verschweigt auch nichts.2 Und nun suche man im Rahmen der erfahrbaren Natur nach Dingen, die nicht Erscheinungen wären: es sind keine solchen zu entdecken. Erscheinungen sind unsere letzte Instanz, jedesmal, wo die Analyse hinter dem Gegebenen das Wesen zu erfassen gewähnt hat, hat es sich bald genug herausgestellt, dass das vermeintliche Wesen nur ein Werkzeug der Erkenntnis sei. Also ist es sicher, dass es nach außen zu, vom erkennenden Menschen her gesehen, keine Probleme gibt, welche die Wissenschaft als transzendent und zugleich als wirklich anerkennen müsste. Die Fragen, die einen Sinn haben, vermag sie sämtlich zu beantworten.

Sollte nun die Annahme eines Wirklichen, das außerhalb des Bereiches möglicher Wissenschaft belegen wäre, überhaupt gegenstandslos sein? — Die transzendenten Wirklichkeiten, welche die Theologie postuliert, können geleugnet werden, ohne dass ihre Leugner ad absurdum zu führen wären; die anorganische Natur bietet keine Handhabe zur Annahme eines Jenseits des Erscheinenden, denn das einsinnige Geschehen, das ihren Begriff im Hegelschen Sinne ausmacht und auf welches manche Denker eine Metaphysik haben gründen wollen, bedeutet eben den Begriff ihrer empirischen Wirklichkeit; auch die konkreten Lebenserscheinungen sind nach Gesetzen erschöpfend zu begreifen, liegen somit auf einer Ebene mit dem sonstigen Naturgeschehen. Da der Kausalnexus, der ihr Sein und Werden bestimmt, keine Unstetigkeitsmomente einschließt, so liegt für den, welcher sich an das sinnlich Wahrnehmbare und auf objektivem Wege Nachweisbare hält, kein Grund vor, organische Vorgänge anders zu interpretieren als die Geschehnisse der unbelebten Welt; kein als Objekt Gegebenes zwingt den Naturforscher dazu, hinter dem Phänomen ein weiteres Wirkliches anzuerkennen. So scheint es, dass die Annahme eines Realen, das jenseits des Umkreises empirischer Wirklichkeit belegen wäre, tatsächlich zu umgehen ist. Dann aber muss es offenbar möglich sein, einen Weltbegriff aufzustellen, der alles Wirkliche umspannte, einen schlechterdings erschöpfenden Weltbegriff, jenseits dessen nichts vorhanden und nichts denkbar wäre.

Einen solchen Weltbegriff gibt es aber nicht; ja, es lässt sich beweisen, dass es ihn nicht geben kann. Man setze die Einheit des Weltalls voraus, man nehme an, dass außer Erscheinungen und Gesetzen nichts vorhanden sei und errichte aus diesem Material ein Abbild der Welt: wie man es auch anstellen mag, es wird nicht vollständig werden. Ich muss hier eine Periode aus meiner eigenen Geschichte berühren, und Sie werden einsichtig genug sein, das Selbstzitat nicht zu missdeuten, denn ich kann es nicht gut umgehen, ohne der Sache zu schaden: ich selbst habe viele Jahre lang fest geglaubt, dass alles Wirkliche in den Rahmen des Idealismus hineinpasse und aus dieser Überzeugung heraus ein System erschaffen, das tatsächlich alles Wirkliche in sich begriff. Noch heute, wo mir die einstigen Gedankengänge schier fremd geworden sind, wo ich dieses Werk nach vielen Richtungen hin kaum mehr als das meinige anerkennen mag, kann ich nicht ableugnen, dass es dem Umfange nach die äußerste Möglichkeit einer idealistischen Weltsynthese überhaupt bezeichnet. Aber heute ist mir eines klar, dessen bloße Möglichkeit ich einst mit Heftigkeit von mir gewiesen hätte: dass die Vollständigkeit meines Weltbildes durch Gewalt zustande kam. Ich habe die Welt vergewaltigen müssen, um einen Begriff, der nichts ausschlösse, von ihr zu bilden, denn ich hatte ihr Unmögliches zugemutet.

Ich möchte Ihnen raten, mein Gefüge der Welt einmal aufmerksam vom Anfang bis zum Ende durchzulesen. Dank seiner Skizzenhaftigkeit bringt dieses Werk die Grundzüge der idealistischen Weltansicht besonders deutlich zum Ausdruck, und aus dem gleichen Grunde sind hier Absicht und Erfolg besonders deutlich im Zusammenhang zu übersehen. Die Fehler und Unzulänglichkeiten, die durch meine Person und ihre Zustände bedingt sind, werden Sie leicht als solche erkennen, bei diesen verweilen Sie nicht; richten Sie Ihr Augenmerk allein aus die prinzipiellen Gebrechen, die dem System als selbständiger Geisteseinheit anhaften: da dieses, wie ich schon hervorhob, das umfassendste bedeutet, das sich auf idealistischer Basis überhaupt aufführen lässt, so sind jene typisch für alle nur mögliche idealistische Theorie und deswegen wirklich belehrend. Mein System kann ich Ihnen nicht auseinandersetzen, dazu gebricht uns die Zeit: ich will Ihnen nur kurz das Ergebnis formulieren, zu welchem Sie nach kritischem Studium des Gefüges der Welt notwendig gelangen werden: die Welt erscheint dort wirklich vollständig und restlos begriffen, sie hängt nach Gesetzen lückenlos zusammen; aber auf dass dies möglich würde, habe ich mich gezwungen gesehen, das Ich, die lebendige Grundlage unseres Daseins und Erkennens, als Idee oder Gesetz zu bestimmen.

Und das ist es nicht. Es ist allerdings keine Erscheinung, kein unmittelbares Datum der Natur, aber es ist ganz gewiss auch kein Gesetz. Es ist etwas, das mit gewohnten wissenschaftlichen Begriffen überhaupt nicht zu fassen ist. Denn es ist weder ein Sein noch ein Werden, weder eine Kraft noch ein Stoff, weder eine Vielheit noch eine Einheit, weder eine Funktion noch eine Grenze, weder ein Differential noch ein Integral. Es vermag weder aufgezeigt noch bewiesen zu werden, da es aller begrenzenden Anschauung und allen festen Begriffen entrinnt, und doch ist es da. Es ist etwas in mir, welches dauert in stetem schöpferischen Wandel, welches vergeht in aufsteigender Entfaltung, welches, selber unfassbar, alle Fassbarkeiten bedingt. Dieses lebendige Ich ist etwas vollkommen anderes als alles, was sich in der Erscheinung unmittelbar nachweisen lässt, es ist etwas Grundverschiedenes von allen Begriffen, die wir von ihm bilden können, in den Rahmen der Gesetze und Erscheinungen gehört es nicht hinein. Hier, an diesem Punkte, versagt der Idealismus, hier grenzt die begreifbare Welt gegen eine andere an. Hier ist ein Wirkliches festgestellt, das vom Standpunkte des Idealismus transzendent und jenseits des Umkreises möglicher Wissenschaft belegen ist. Aber dieses unfassliche Lebendige bezeichnet auch das einzige transzendente Wirkliche, das die Forschung anerkennen muss, Nach außen zu, vom Bewusstsein aus gesehen, existieren nur Erscheinungen, die sämtlich zur möglichen Erfahrung gehören, und hinter ihnen gibt es nichts; keine Erfahrung und keine haltbare Überlegung zwingt oder berechtigt dazu, jenseits der Gegebenheit weitere Wirklichkeiten anzunehmen, die sie hervorbrächten und von innen her bestimmten; im Erscheinenden erschöpft sich die Natur. Und die Sphäre der Begriffe beherbergt ausschließlich Erkenntniswerkzeuge, die gleichfalls Erscheinungen sind. Nur in uns, in geheimnisvoller Tiefe, lebt etwas, das nicht Erscheinung wäre. Hier allein gibt es etwas, das Erscheinungen hervorbringt ohne selbst in die Erscheinung zu treten. Was ist es? Nennen wir es Leben, da unsere Betrachtungen der Naturphilosophie gewidmet sind. In anderem Zusammenhang hätten wir es den Geist geheißen. — Ist das Leben tatsächlich unbegreiflich? Ist es ganz unmöglich, es im Rahmen der Kategorien zu verstehen, die für alle äußere Erfahrung gelten? — Die Lebenserscheinungen sind sämtlich zu begreifen; überall ist das Gegebene auf Gesetze zurückzuführen, zu jedem Vorgang lässt sich die Ursache aufzeigen, die ihrerseits ad indefinitum zurückbegründet werden kann. Dieses gilt vom Einzelnen wie vom Allgemeinen, vom Leben der Völker sowohl als von dem der Individuen, vom physischen wie vom psychischen Organismus. Es ist eine Wissenschaft denkbar, die von sämtlichen Lebenserscheinungen einen vollständigen Begriff zu geben vermöchte. Allein in den Erscheinungen, die nach Gesetzen zusammenhängen, erschöpft sich das Leben nicht; hier ist nicht alles begriffen, wenn ein Vorgang auf Gesetze zurückgeführt wurde. So hat die Biologie wohl alles geleistet, was von ihr zu verlangen ist, wenn sie den Bauplan des Organismus feststellte, denn dessen Begriff bezeichnet den Zusammenhang aller möglichen konkreten Erscheinungen, somit alles, was vom Subjekt überhaupt zu objektivieren ist: und doch wird das Eigentliche vom Begriffe des Bauplanes nicht einmal berührt; ja es lässt sich kaum eine bessere Illustration dessen, was Inkommensurabilität bedeutet, ersinnen, als das Verhältnis des abstrakten Planes zur lebendigen, sich ewig-erneuernden Gestalt. So gelingt es der Geschichtsforschung wohl, die notwendige Verkettung der Ereignisse aufzuklären, aber die freien Willensentschlüsse der handelnden Personen, die das Geschehen tatsächlich hervorbrachten, die muss sie dabei außer acht lassen; sie erklärt das Geschehen so, als ob es keine wollenden Menschen gäbe. So scheint es der Wissenschaft neuerdings zu gelingen, den Vererbungsprozess auf Gesetze zu bringen, allein die Möglichkeit der Vererbung als solcher — einer Fortdauer, die dem Energieprinzip nicht gehorcht — bleibt nach wie vor vollkommen unbegreiflich. Freilich hat es niemals an Versuchen gefehlt, das spezifisch Lebendige begrifflich zu bestimmen, sehr interessante sind jüngst erst von Driesch angestellt worden. Aber gerade dessen Definitionen beweisen, dass die Wissenschaft im eigentlichen Sinne dem Leben nicht beikommen kann. Wenn die Gesamtheit des Wirklichen als Natur bezeichnet wird, dann ist das Leben selbstverständlich ein besonderer Naturfaktor: aber das Wesentliche ist, dass dieser Naturfaktor in die Natur, mit der allein es Naturwissenschaft zu tun hat — den Zusammenhang des Erscheinenden nach Gesetzen — nicht hineingehört und in deren Rahmen nicht zu begreifen ist. Denn drei seiner Grundeigenschaften, drei Grundbestimmungen des Lebendigen zum mindesten widerstreiten den Grundvoraussetzungen wissenschaftlichen Verständnisses überhaupt. Es sind dies die folgenden:

  1. das Schöpferische. Es ist Tatsache, dass in der Sphäre des Lebens aus einem Vorhandenen Neues hervorgeht, das im Gegebenen nicht enthalten war, es ist ebenso Tatsache, dass ein Gewesenes spurlos verschwinden kann. Es lässt sich keine Theorie ersinnen, die den Tod als solchen nur irgendwie begreiflich machte. Der Körper bleibt, das Leben ist hin, in keiner Verwandlung wirkt es weiter; im Rahmen der Erscheinungen ist es verloren gegangen. Hier können alle Erklärungen nur Beschwichtigungen sein, der Verstand steht vor dem Sterben still. Und er versagt nicht minder vor dem Leben. Das Kind ist aus den Eltern nicht restlos abzuleiten, aus dem Jüngling ist der Greis nicht vorauszuerschließen, und der Gang der Geschichte vollends spottet jeglicher Theorie. Durch die Annahme latenter Züge und suspendierter Kräfte ist gar nichts begreiflich gemacht, denn da im Resultate mehr steckt als in der Prämisse enthalten war, da die Wirkung mit der Ursache inkommensurabel ist, so ist schon damit jede wissenschaftliche Theorie a priori unmöglich gemacht. Das Leben schreitet von Neuem zu Niedagewesenem, von Unerwartetem zu Unvoraussehbarem, von Einfall zu Einfall fort. Wie dem Geiste die neuen Gedanken, so entsprießen dem Körper die neuen Organe. Bei den Tieren, deren Gestalt eine fest umgrenzte ist, deren Organe, einmal erschaffen, fortan beharren, mag die Identität beider Erscheinungsreihen nicht unmittelbar einleuchten: bei den Protisten, auf welche bereits hingewiesen wurde, liegt sie auf der Hand, denn bei diesen entstehen die Organe augenblicklich, wenn ein Problem sich zeigt, und vergehen, sobald sie überflüssig geworden sind. Der Verstand kann aber nichts Unvoraussehbares anerkennen, ihm kann Neuheit nur Umordnung des Alten bedeuten; alles Spontane muss er verleugnen, Freiheit und Schöpfung gibt es nicht für ihn. Er vermag die Organismen nur insofern zu fassen, als sie Maschinen sind — fertig ein für alle Male und aufgezogen. Sie sind aber mehr als Maschinen, denn sie schaffen und bilden sich selbst.
  2. Das Überindividuelle. Es ist Tatsache, dass sich der Sinn des Lebens im Individuum nicht erschöpft, dass es ein Überindividuelles ist, welches dem einzelnen Stellung und Sinn verleiht. Dieses erweist sich zunächst in den Tatsachen der Fortpflanzung und Vererbung, welche beide aus den Notwendigkeiten des Individuums heraus nicht zu begreifen sind; es erweist sich ferner in der transitorischen Stellung, die dem Individuum im Ablaufe des Lebens überhaupt zukommt; es erweist sich endlich, und für uns vielleicht am deutlichsten, in den Voraussetzungen des sittlichen Bewusstseins. Über diese Fragen lese man meine Unsterblichkeit nach, welche Arbeit durchaus dieses Problem gewidmet ist und dessen siebentes Kapitel gerade seine faktische Seite in aller Ausführlichkeit behandelt.
  3. Das Über-Empirische. Es ist der gleiche Tatbestand, nur in seinem Totalzusammenhange betrachtet und seiner vollen Bedeutung nach erfasst. Der Sinn des anschaulich Gegebenen liegt in etwas, das über alle mögliche Anschauung hinaus geht und doch in eminentem Sinne wirklich ist; das Erscheinende ist nur aus einer Wirklichkeit heraus zu verstehen, die über das unmittelbar Konkrete hinausreicht. In diesem Wirklichen verschwinden die Unterschiede von Individuum und Stamm, von Körper und Seele, von Leben und von Tod. Es ist ein und dieselbe Wesenheit, die vom Keim zum Erwachsenen fortschreitet und von diesem wieder zum Keim, ein und dieselbe Entelechie, die sich körperlich und geistig ausdrückt, ein und dasselbe Ich, das vom Kinde zum Greise zu fortlebt, — ja es ist ein und derselbe Geist, der in ganzen Geschlechtern fortwirkt und in jeder neuen Verkörperung die alte zugleich vollendet und aufhebt. Die Annahme dieses Transzendenten entspringt keiner Denknotwendigkeit und keiner theoretischen Überlegung, sie drängt sich vielmehr auf, trotz ihrer Unbegreiflichkeit. Denn das Allgemeine, das hier zutage tritt, hat mit den Allgemeinbegriffen nichts gemein, so oft es mit diesen verwechselt wurde3, es ist kein Abstraktum, sondern ein Konkretes, kein regulatives, sondern ein konstitutives Prinzip, kein Mittel zum Zwecke der Begreiflichkeit, sondern eine selbständige Wirklichkeit, die allen Begriffen entrinnt. Es bedingt schöpferisch, von innen her, was im Leben Besonderes ist, es liegt jenseits auch der erschöpfendsten Empirie. Hier ist das Phänomen nicht die letzte Instanz, wie im Reiche der leblosen Natur, hier ist es nur der flüchtige Ausdruck eines, das selber nicht erscheint, für das dessen Schranken nicht gelten. Daher versagen alle Verstandesbegriffe, sobald es das Leben zu begreifen gilt, denn sie sind nur Erscheinendem gewachsen. Wer seine eigene Entwicklung vorurteilsfrei verfolgt, der erkennt, dass sie ebensowohl die Ausführung eines fertigen Planes als die Entfaltung gegebener Anlagen bedeutet, ja dass sie am treffendsten vielleicht dem Abspielen einer Symphonie zu vergleichen ist, wo Satz auf Satz harmonisch folgt, wo fortwährend neue Instrumente und Motive einfallen, zur rechten Zeit und doch unberechenbar; denn im Andante war das Finale nicht enthalten, wenngleich jeder Musiker behaupten wird, dass auf jenes Andante nur dieses Finale folgen konnte. Beim Lebendigen ist die Gegenwart nur aus der Zukunft, alles Sichtbare nur aus Übersichtbarem, das Begrenzte nur aus Unbegrenztem, das Vergängliche nur aus einem Dauernden, alles Empirische nur aus einem Über-Empirischen heraus zu verstehen. Was aber jenseits des Empirischen belegen ist, das entzieht sich der wissenschaftlichen Begriffsbildung. So versagt denn die kritische Wissenschaft und mit ihr alle idealistische Welterklärung in dem Augenblicke, wo es das Leben im Zusammenhang zu begreifen gilt.

Im Zusammenhang zu begreifen: diese Bestimmung gibt uns den Schlüssel zum Sinne des Verhältnisses, dass die Wissenschaft das Leben nicht erfahren kann: es liegt außerhalb oder jenseits des Zusammenhangs, der die mögliche wissenschaftliche Erkenntnis umgrenzt. Hieraus ergibt sich aber, dass es ein Missverständnis bedeutet, das Leben in diesen Zusammenhang hinein begreifen zu wollen. Rufen wir uns die Ergebnisse unseres dritten Vortragsabends ins Gedächtnis zurück, und wir werden klar erkennen, nicht nur, dass es so ist, sondern auch, dass es nicht anders sein kann. Was enthält der Begriff der Erfahrung? die Welt, die für den Organismus in Betracht kommt, in der Form, wie seine Organe sie zuschneiden, er enthält, kurz gesagt, die Außenwelt. Das, was die Außenwelt bedingt, die Innenseite des Lebens, kann er seinem strikten Begriffe nach nicht enthalten. Wohl mag sich der Erfahrungsprozess dieser Innenseite zuwenden: eben dadurch wird sie zur Außenwelt und verliert ihren eigentlichen Charakter. Sie breitet sich auf der Fläche des Erscheinenden aus, lässt sich vom Verstande ihre Grenzen abstecken, nimmt, soweit dies möglich ist, die Form an, die das Bewusstsein fordert und gibt sich als Zusammenhang von Erscheinungen nach einheitlichen Regeln und Gesetzen. Aber was auf diese Weise bestimmt wurde, ist gar nicht das, worauf es abgesehen war: es ist nicht das eigentliche Leben. Die Psychologie vermag kein Ich nachzuweisen, die Physik keine wirkliche Dauer, und die Biologie keine schöpferische Entwicklung. Und doch sind es die Grundeigenschaften des Lebens, die sich der Fassung entziehen, diejenigen, deren Dasein keinesfalls in Frage steht. Wissenschaft kann es eben nur von der Außenwelt geben, das Leben aber gehört nicht zur Außenwelt und kann nicht zur Außenwelt werden. Es bleibt immer hinter der Forschung belegen, wohin sich diese auch wenden mag, es bleibt immer und ewig Subjekt, ob es gleich als Objekt definiert würde, und überall die Voraussetzung, die ihrerseits nicht abzuleiten ist. Der innere Drang, oder wie sonst man die spezifische Potenz des Lebens heißen wolle, ist eben die Prämisse, in bezug auf welche die Begriffe Erfahrung und Wissenschaft allererst einen Inhalt erlangen. Dies ist der volle Sinn des Ergebnisses der Kantischen Kritik, dass der erkennende Mensch die letzte Instanz aller möglichen Wissenschaft bedeutet, zugleich die Erklärung dessen, dass das Leben nicht zu begreifen ist: die Innenseite des Ausschnitts der Wirklichkeit, der die Welt möglicher Erfahrung umgrenzt, ist von dieser her auf keine Weise zu erreichen, der Erfahrungsprozess lässt sich nicht umkehren. Wenn es daher eine Erkenntnis des Transzendenten gibt, so muss sie auf anderem Wege gewonnen werden und vollkommen anderer Art sein, als die jeder nur erdenklichen Wissenschaft.

Kant war von seinem Standpunkte aus im Recht, dass er die Möglichkeit einer Erkenntnis des Transzendenten abwies, denn er erkannte nur Erkenntnis im Sinne der Wissenschaft an, und seine Nachfolger, die von seiner Kritik aus zum Absoluten, zur Metaphysik haben vordringen wollen, sind eben deswegen fehlgegangen. Es ist wahrhaft tragisch, zu beobachten, wie gewaltige Geister von tiefer Wahrhaftigkeit, wie Fichte, Schelling, Hegel und in gewissem Sinne auch Schopenhauer, statt Wahrheiten Irrtümer in die Welt setzten, nur weil sie sich über diesen einen Punkt nicht klar geworden waren. Fichte hat den tiefsten Grund des Lebens für identisch gehalten mit Kants erkenntnistheoretischem Ich und es dann unternommen, die ganze Welt aus dem Ich heraus a priori zu konstruieren. Und sein Unternehmen ist gescheitert, eben weil er verkannt hatte, dass Kants Ich nur der abstrahierte Rahmen des erfahrenden Bewusstseins ist und dass es apriorische Erkenntnis nur vom Formal-Menschlichen in bezug auf eine mögliche Erfahrung geben kann, Schellings künstlerischer Geist — von Natur einer der größten, die es gegeben hat, — lebte tief im Wesen der Dinge, aber statt dieses einfach auszudrücken, suchte er sie aus Gründen zu entwickeln und sein Naturgedicht brach daher entzwei, Hegel verdarb sich seine grandiose Anschauung des fortschreitenden Geistes durch die Voraussetzung, dass dieser Fortschritt den Anforderungen der Vernunft entsprechen müsse und seine aus dieser entspringende dialektische Methode, und Schopenhauer endlich versuchte schrittweise von der Kritik zur Metaphysik hinüberzulavieren, was auf keine Weise möglich und denkbar ist. Wenn es eine Erkenntnis der metaphysischen Wirklichkeit gibt, so muss sie einen anderen Charakter tragen als alles, was an Wissenschaft erinnert.

Dieses hat zuerst Bergson mit vollendeter Deutlichkeit erkannt und in Schriften ausgeführt, die zu dem Wenigen gehören, was von unserer Epoche fortleben wird. Er zuerst hat ganz deutlich gemacht (was freilich alle großen Denker gewusst haben), dass Wissenschaft und Metaphysik grundverschiedene Geistesbetätigungen sind, die gar nichts miteinander gemein haben4. Ob aber die Erkenntnismethode, die Bergson zu definieren versucht hat, als solche eine Zukunft hat, das scheint mir zweifelhaft. Es gibt begnadete Geister, die das Wesen intuitiv zu erfassen vermögen, allein ich fürchte, ihre Kunst, ihr Können ist nicht zu erlernen. Sucht man die Intuition, die Sympathie irgendwie als objektive Technik zu bestimmen, so metamorphosiert sie sich, schon allein um bestimmt werden zu können, zur intellektualen Anschauung, von der Kant und Fries bereits dargetan haben, dass sie nicht möglich ist: es existiert nur eine Anschauung des Empirischen, oder aber sie erweist sich als Methode einer unmittelbaren Erkenntnis, welche es, in des Wortes strikter Bedeutung, ebenso wenig gibt wie die intellektuale Anschauung. Sogar in der scheinbar unverfänglichen Bedeutung, in welcher Fries und seine Schule ihren Begriff verwandt haben, entbehrt dieser der Berechtigung. Wohl geht es nicht an, Erkenntnis durch das Zusammenstimmen des Erkennens mit seinem Objekte zu definieren: in dieser Hinsicht sind speziell Nelsons Darlegungen ebenso zutreffend als aufklärend; aber die positive Bestimmung, welche dieser dann gibt — der Wahrheit als Zusammenstimmens der mittelbaren mit der unmittelbaren Erkenntnis — ist weder glücklich noch zutreffend: es gibt überhaupt kein unmittelbares Erkennen aus dem Grunde, weil Erkennen nur durch Reflexion im Bewusstsein zustande kommt. Die Dinge liegen in Wahrheit so, dass es verschiedene Ordnungen des Gegebenen gibt — im Falle der Erfahrung also Erscheinungen und Denkformen — die beide im gleichen Sinne unmittelbar gegeben sind, jedoch nur mittelbar, durch Reflexion im Bewusstsein, miteinander verglichen werden können. Unmittelbare Erkenntnis in diesem Zusammenhange ist ein Unbegriff. Und sie ist dies erst recht in dem tieferen Sinne, wie sie von den großen Metaphysikern, Mystikern und religiösen Sehern behauptet worden ist. Zweifellos, diese haben Dinge gewusst, die auf keinem Umwege zu erfahren waren, durch kein Experimentieren, kein Deduzieren, keine Schule und kein zufälliges Glück, man darf also wohl sagen, dass sie dieselben unmittelbar gewusst haben. Aber hieraus folgt nicht, dass ihnen die Gabe unmittelbarer Erkenntnis zu eigen war: eine solche gibt es nicht. Was sie in Wahrheit auszeichnete, war das Folgende: sie sind sich ihres tiefsten Seins bewusst gewesen, mithin auch des Verhältnisses, in dem sie zu allem Seienden standen. Anstatt um sich selbst herumzugehen und von außen das Innere zu umschreiben, haben sie unmittelbar in sich selbst gelebt und insofern in allen Dingen. Sie hatten sich so weit verinnerlicht, dass ihr Denken und Fühlen mit dem schöpferischen Prinzip in ihnen zusammenfiel, dass dieses ihr tiefstes Sein in jenem zum Ausdruck kam. Die Wahrheiten, die sie auf diese Weise kündeten, waren dann aber keine Erkenntnisse in des Wortes genauer Bedeutung, sie waren nichts Erfahrenes, nichts Erworbenes, durch methodische Arbeit Verdientes: sie waren der Ausdruck ihres inneren Wesens; sie waren in Form des Wissens eben das, was die Metaphysiker selbst in Form des Seins waren. Sie waren keine Theorien, über die sich streiten lässt, keine Schlussfolgerungen aus erwiesenen Voraussetzungen, sondern absolute, unergründliche Wahrheiten, absolut wie das Leben selbst. Daher ist es kein Wunder, dass alle tiefen Geister im Grunde das gleiche behauptet haben heißen sie Yajñavalkya, Eckhart, Heraklit, Plotin oder Hegel das lebendige Sein, das absolut Wirkliche, dem sie alle Ausdruck verliehen, kann gar nicht verschieden erscheinen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es als solches überhaupt nicht erscheint. Nur indem es sich ausdrückt, tritt es in die Erscheinung. Nun mögen die Ausdrücke, je nach den Individuen und ihrer Sprache, so verschieden als nur möglich ausfallen: sie besagen überall doch das gleiche. Sie künden vom nämlichen Leben, vom gleichen obersten Seinsprinzip, vom einigen lebendigen Geiste.

Aus diesen Bestimmungen geht ohne weiteres hervor, dass es eine Methode der Metaphysik nicht geben kann: metaphysisches Wissen kann dem Nicht-Wissenden ebenso wenig vermittelt werden, wie Unlebendiges zum Leben zu erwecken ist. Das metaphysische Wissen ist unmittelbarer, unvermittelbarer Lebensausdruck, es ist daher mit keinerlei Wissenschaftserkenntnis zu vergleichen, sondern einzig mit lebendigen Wirklichkeiten. Es ist eines Sinnes mit der leiblichen Gestalt, mit der Liebe, dem schöpferischen Tun. Im Körper tritt eben das in die Erscheinung, wovon die Mystik kündet, die Schönheit der Frau spricht das gleiche aus wie die Weisheit weltabgekehrter Denker. — Es ist wesenseins mit der echten Kunst, denn auch diese ist Wesensausdruck. Der Maler kopiert nicht die äußere Natur, er schafft sie von innen heraus wieder; der Dichter reimt keine Beobachtungen zusammen, seine Verse sind Wiedergeburten. Das schöpferische Prinzip, das im Künstler lebt, ringt nach gesteigertem Ausdruck. — Es ist schließlich wesenseins mit dem religiösen Gefühl, Seelen von tiefer Innerlichkeit mit vorwiegendem Gemütsleben sind sich des überindividuellen Zusammenhangs, dem sie angehören, unmittelbar bewusst. Gleichviel, zu welchen Vorstellungen sie sich bekennen, der Grund ihres Glaubens ist ein Wirkliches, und dieses Wirkliche bringt er zum Ausdruck. Das metaphysische Wissen ist, ich wiederhole es, nichts als Ausdruck. Es entstammt keiner inneren Erfahrung (die als solche mit der äußeren identisch wäre), keinem Denken und keinem Gefühl. Es ist daher nicht zu begründen, nicht zu beweisen, es ist da wie das Leben selbst. Es ist der geistige, asymptotisch verstandesgemäße Ausdruck des Grundes der Wirklichkeit. Es ist das Gegenteil einer Theorie. Ebendarum aber besitzt es eine Kraft der Evidenz, die keinem Begründbaren eignet: es wirkt als Offenbarung. Wer mit offenem Gemüte, in reiner Stimmung, die Aussprüche weiser Männer liest, glaubt Altbekanntes zu vernehmen: das ist es ja, was ich von jeher gemeint habe! Das ist es, was ich immer gefühlt! — Wie sollte es anders sein? Sie bringen doch eben das zum Ausdruck, was immer war, jetzt ist und immer sein wird, in jedem Einzelnen sowohl als überall; sie sprechen keine besondere Meinung, sondern die Wahrheit aus. Und jetzt werden Sie verstehen, weswegen wir alle den Dichter höher schätzen als den Gelehrten, und den Handelnden höher als den, der bloß begreift: das Eigentliche liegt jenseits jeder nur möglichen Wissenschaft, denn das Eigentliche für uns ist das Leben. Um dieses geht jene ewig herum, sie kann es nicht fassen, nicht greifen. Das Leben ist nur zu leben, nur auszudrücken: und in der Form des Wissens tut dies die Metaphysik.

Das metaphysische Wissen ist jedesmal, wo es sich unmittelbar aussprach und nicht bloß in Gleichnissen spiegelte, im Rahmen eines von zwei Begriffen zutage getreten, die sich als Begriffe widersprechen und deren Inhalte sich auszuschließen scheinen: der Begriffe des Seins und des Werdens. Dem Mystiker, der sich in sein Inneres versenkt, entschwindet alle Farbe und Gestalt. Er weiß von keiner Zeit und keiner Vielheit, er weiß von keinem Werden noch Geschehen. Er ist sich nur eines Etwas bewusst, welches ist und wirkt, welches lebt und schafft, aber nicht bestimmt werden kann. Es kann unmöglich bestimmt werden, weil das, was jenseits des Ausdrucks lebt, als solches nicht auszudrücken ist. Der einzige Begriff, der es nicht verfehlt, ist der eines einigen Seins. So hat denn alle Mystik vom reinen Sein gekündet, und Negation aus Negation gehäuft, bis dass die Natur vergraben schien. Das Geistige des Sehers drängt unaufhaltsam hinaus zu körperhaftem Ausdruck; ihm erwächst das Wesen zur Vision, ihm offenbart sich das Schaffen als Schöpfung. Er verneint nicht die Welt, er schafft sie wieder, er beseelt sie von innen heraus. Daher ist ihm das Wirkliche ein Werden, der Geist ein Prozess, und sein vollendeter Ausdruck die Geschichte. Sein und Werden scheinen Gegensätze, die Behauptung klingt überraschend, dass die indische Mystik und Hegels Philosophie das gleiche meinen und besagen. Und doch ist es nicht anders. Das Wirkliche an und für sich ist ein unaussprechliches Sein, in seinem Ausdruck ein Werden.

1 La Science et l’hypothèse p. 173
2 Vgl. S. 120
3 Vgl. meine Abhandlung Zur Psychologie der Systeme im Logos 1, 3.
4 Man lese seine Einführung in die Metaphysik (deutsch, bei Eugen Diederichs in Jena erschienen): die hier in Frage kommenden Grundgedanken sind dort so klar ausgeführt, dass von einer erläuternden Wiedergabe füglich abgesehen werden kann.
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
V. Das Leben
© 1998- Schule des Rades
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