Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

VI. Vom Ideal des philosophischen Denkens

Tiefe und Klarheit

Der Geist der Wahrhaftigkeit
wird euch den Weg in alle Wahrheit
weisen.
   Ev. Johannis 16, 13

Heute, in letzter Stunde, will ich Ihnen vom Ideal des philosophischen Denkens, so wie ich es verstehe, einen Begriff zu vermitteln suchen.

Fragen Sie einen beliebigen Philosophen, welche seines Erachtens die Eigenschaften wären, die den Denker vor allen auszeichnen sollten, so wird er Ihnen antworten: Tiefe und Klarheit. Diese Begriffe umfassen in der Tat alles, was vom Denker zu verlangen ist, allein sie bestimmen es nicht; es ist das Schicksal allzu großer Worte, keine deutlichen Vorstellungen zu erwecken. Wenn Ihnen von Napoleon berichtet wird, er sei der genialste Eroberer gewesen, den die Neuzeit aufzuweisen hat, so mag Ihnen eine Ahnung dessen aufsteigen, wer Napoleon gewesen sei, aber wer er tatsächlich war, das erfahren Sie nicht. Und mit unbestimmten Vorstellungen ist wenig vorgestellt. Suchen wir deshalb genau festzustellen, welches die Grunderfordernisse des philosophischen Denkens sind, deren allgemeiner Rahmen durch die Begriffe der Klarheit und Tiefe richtig genug umschrieben sein mag, und beginnen wir mit einem konkreten Beispiele, vom Besonderen zum Allgemeinen hinansteigend.

Wer heute unvorbereitet die Werke Hegels zur Hand nimmt, der wird sich eines respektvollen Schreckens kaum erwehren können. Er begegnet dort Sätzen, die, beim Worte genommen, schlechterdings nicht zu fassen sind, Definitionen, welche, anstatt ihr Objekt zu bestimmen und zu erklären, nur zu sehr dazu angetan sind, das dämmernde Verständnis für immer in Finsternis zurückzuverwandeln. Man erinnere sich z. B. Hegels vielzitierter, wahrhaft verblüffender Definition der Elektrizität: die Elektrizität ist die Form, die sich von ihr befreit. So liegt es dem Leser denn nahe, diese Weisheit als Blödsinn von sich zu weisen, um so näher, als der scharfsinnige Schopenhauer nicht anders verfahren ist. Überwindet er indessen die erste Stimmung, liest er weiter, sucht er ehrlich zu verstehen, was Hegels ungefüge Sätze wohl besagen mögen, so gelangt er zu einer Entdeckung, die der erste Eindruck schlechterdings nicht zu erwarten gestattete und die ihn für die Zukunft in der Bewertung erster Eindrücke etwas zurückhaltender machen dürfte: der Entdeckung, dass in Hegels Metaphysik ein ganz gewaltiger Geist zum Ausdruck kommt. Hegel war ein Geist von wunderbarer Tiefe, von umfassendstem Anschauungsvermögen, er besaß überdies eine Kraft der Synthese, eine Sicherheit in der Abstraktion, eine Meisterschaft im logischen Denken, wie nur wenige Philosophen der Menschheitsgeschichte. So wird sich denn Hegels ursprünglicher Verspötter, wenn er nur Ausdauer besitzt und zum Denken befähigt ist, zu dessen Verehrer verwandeln.

Deswegen aber wird er den Wortlaut seiner Philosophie nicht günstiger beurteilen können, als er es zu Anfang tat. Ja, je besser er ihn versteht, desto mehr wird es ihn wundern, wie es nur möglich war, dass ein so großer Geist so schlecht hat schreiben können. Und eines wird ihn schier unbegreiflich dünken: dass sein Zeitalter ihn ohne weiteres verstand. Damals fand kaum einer eine Schwierigkeit darin, Hegels Gedanken zu fassen, was heute den Scharfsinnigsten dunkel vorkommt, schien damals Durchschnittsköpfen sonnenklar. Wie ist dieses Netzwerk scheinbarer Widersprüche aufzulösen? — Durch die folgende Überlegung: die Art, wie ein Denker seine Erkenntnisse ausdrückt, ist Funktion dessen, was ihm und seiner Zeit als deutlich und selbstverständlich gilt; was aber deutlich erscheint, braucht es durchaus nicht zu sein. Ja es hat sich überaus häufig gerade das als das Fragwürdigste erwiesen, was den kritischsten Geistern viele Jahrhunderte überhaupt kein Problem bedeutet hat.

An irgendeinem Punkte hört nämlich jeder auf, sich über seine Gedanken Rechenschaft abzulegen; irgend etwas versteht sich für jeden von selbst. Was aber als selbstverständlich erscheint, hängt in der Regel nicht vom objektiven Charakter des Gedankens ab, sondern von psychologischen Voraussetzungen individueller und epochaler Art. Eine Zeit wird immer zu verstehen glauben, was ihrem Geiste gemäß ist, und ob es gleich Unsinn sei; was den Grundtendenzen des einzelnen entspricht, wird dieser kaum jemals beanstanden. Hegels Begriffe entsprachen, so ungegenständlich sie waren, den Vorstellungskomplexen, die im damaligen Deutschland vorherrschten: daher verstand man entweder, was Hegel eigentlich meinte, weil seine uns verwirrenden Ausdrücke damals unmittelbar begriffen wurden, oder aber Hegel selbst war in eben den Voraussetzungen gefangen wie seine Zeitgenossen, und dachte über die Berechtigung gewisser Annahmen und Ausdrücke nicht weiter nach. So bedeutet denn einerseits so mancher Ausdruck, der einem Zeitalter genau und gegenständlich erscheint, vom Standpunkte späterer ein konventionelles Symbol, und wird er nicht symbolisch verstanden (was eine Frage der Einbildungskraft ist), so entzieht er sich überhaupt dem Verständnisse, denn die intellektuellen und emotionellen Voraussetzungen, dank welchen ein Wort eine bestimmte Vorstellung wachruft, beharren als solche nicht (dieses gilt übrigens nicht allein von Epoche zu Epoche, sondern sehr häufig sogar von Mensch zu Mensch; in seinen patriotischen Gesprächen meint Fichte

Die Sprache liegt in der Region der Schatten. Was ich daher ausspreche, ist nie meine Anschauung selber, und nicht das, was ich sage, sondern das, was ich meine, ist unter meinem Ausdrucke zu verstehen); —

andrerseits aber bedingt jedes Datum gewisse Irrtümer, denen auch die freiesten Geister fast immer unterliegen, weil es über die Kraft des einzelnen geht, das vollständig zu überwinden und seinem Charakter nach klar zu erkennen, was zur eigentlichen Konstitution seiner geistigen Individualität gehört. Wie einer seine Eltern und sein Vaterland nicht objektiv beurteilt, so glaubt er an die Richtigkeit gewisser Grundgedanken. Hegel nun hat, dank seiner besonderen Natur, die bei aller Begabung ein seltsamer Mangel der Befähigung auszeichnete, die ich die naturwissenschaftliche heißen möchte, seiner Zeit einen übergroßen Tribut gezollt. Er hat schlankweg mit Ideen und Vorstellungen operiert, die ihm und seiner Zeit wohl berechtigt dünkten, einer sachlichen Kritik jedoch nicht standhalten können, und auf diese Weise einerseits das Wahre uneigentlicher ausgedrückt, als dies geboten erschien, anderseits direkte Irrtümer vertreten, die er hätte vermeiden können.

Hegel, der sowohl ein unbedingt tiefer als, in bedingtem Sinne, auch ein klarer Geist war, hat sonach nicht so philosophiert, dass man ihn zum Vorbilde nehmen dürfte. Jetzt, wo Sie wissen, worauf ich hinaus will, will ich Ihnen in abstracto auseinandersetzen, welchen Anforderungen das philosophische Denken zu genügen hat, wenn es zu dauerhaften Ergebnissen führen soll: es muss von bestimmten, präzisen Vorstellungen und Begriffen ausgehen und darf sich nur solcher bedienen; es muss exakt verfahren; es muss gegenständlich sein. Gehen wir diese Anforderungen, die sich, wie Ihnen sofort aufgefallen sein wird, mit denen decken, welche an den Naturforscher zu stellen sind, im einzelnen durch.

Betrachten wir zuvörderst die Präzision. Ich sagte: der Philosoph müsse von bestimmten, präzisen Vorstellungen und Begriffen ausgehen und dürfe sich nur solcher bedienen. Dies bedeutet, negativ ausgedrückt, dass er sich nie und nimmer bei dem Ungefähr, bei vagen Vorstellungen und Gedanken beruhigen darf. Hierzu gehört zunächst, dass die Begriffe eindeutig definiert werden; es darf kein Zweifel darüber bestehen, was mit einem Ausdrucke gemeint sei. Dieser Anforderung scheint nun Hegel besser als irgend einer zu genügen, denn seine Definitionen sind klassisch in ihrer Art. Allein es handelt sich um etwas Tieferes, Bedeutsameres, als das Definieren überhaupt: es handelt sich darum, dass die Definition selbst vollkommen deutlich sei, dass sie ihrerseits keine à-peu-près, keine zweideutigen Vorstellungen einschließe, dass sie keine Unklarheit bringe oder übrig lasse; und dieses lässt sich von Hegels Definitionen, so gut sie in sein System passen, nicht immer behaupten. Es ist schwer, in Sätzen wie:

der Geist ist das Bei-sich-Sein der Idee oder die Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt, — die Natur ist die Idee in der Form des Andersseins oder der Entäußerung —

Sätzen, die dem Wissenden tiefe Erkenntnisse zum Ausdruck bringen, glückliche und aufklärende Bestimmungen anzuerkennen. Halten wir nun solchen Sätzen eine beliebige kantische Definition gegenüber, z. B. die folgende:

Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird; oder erhaben ist ein Gegenstand, dessen Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken.

Was immer gegen die Ausdrucksweise vorzubringen sei: die Definitionen sind präzis; jedem Satze entspricht ein vollkommen klarer Gedanke, jedem Begriffszusammenhang eine vollkommen deutliche Vorstellung, und jeder, der die deutsche Sprache beherrscht, ob er heute, morgen oder nach hundert Jahren leben mag, wird das gleiche Urteil fällen müssen. Will man den Unterschied zwischen der Kantischen und der Hegelschen Definitionsart auf besonders prägnante und ein wenig übertreibende Art formulieren, so dürfte man vielleicht sagen: Kant führt das Undeutliche überall auf Deutliches, Hegel nicht selten Deutliches auf Undeutliches zurück. Hätte Hegel sich beim Ungefähr nicht beruhigt, hätte er den Geistesprozess schärfer ins Auge gefasst und genauer bestimmt, er hätte unbeanstandbare Erkenntnisse zum Ausdruck gebracht, wie denn Bergsons Aussagen über den gleichen Gegenstand tatsächlich kaum zu beanstanden sind. Nun begegnen wir aber in jeder Philosophie Vorstellungen und Begriffen, die aus dem gegebenen Zusammenhang nicht abzuleiten, mithin auch nicht eigentlich zu definieren sind, weil sie eben die Voraussetzungen dieses Zusammenhangs bezeichnen welche Kriterien gibt es hier für die Präzision, für die unbedingte Genauigkeit? — Es sind erstens die Unmöglichkeit, die Voraussetzung weiter abzuleiten, zweitens ihre Zweckmäßigkeit hinsichtlich des Verständnisses der Einzelfälle, endlich die unbedingte Notwendigkeit ihrer Annahme. Hier gilt es peinlich genau sein, bei jeder Gelegenheit zu fragen: ist meine Voraussetzung wirklich die letzte Instanz? Ist sie die richtige; d. h. die, unter welcher allein das Faktische erschöpfend zu begreifen wäre? Muss ich sie annehmen? — Kant erkannte als oberste Voraussetzungen einerseits das erkennende Ich, anderseits die gegebene Natur an. Diese Prämissen trotzen allen nur möglichen Einwänden: ich muss die Existenz meiner selbst, muss auch die der Natur voraussetzen, und innerhalb dieser Grenzen ruht die ganze erfahrbare Welt. Aber wie steht es mit Hegels absoluter Idee? Dass sie als Begriff undeutlich ist, kann ihr verziehen werden, dieses ist ein häufiges Schicksal oberster, unableitbarer Voraussetzungen. Aber ist sie als solche wirklich nicht abzuleiten? Bedeutet sie wirklich die letzte Instanz? — Ich bin der letzte, der bestreiten wollte, dass Hegel etwas Wirkliches und Letztes gemeint hat: aber da er der Idee Eigentümlichkeiten zuerkannte, die nur Denkprinzipien besitzen, so kann man sie als Letztes nicht gelten lassen, Denkprinzipien setzen ihrerseits unbedingt das Dasein eines denkenden Geistes voraus. Also hat Hegel seine Prämisse schlecht gewählt oder wenigstens das, was er meinte, falsch ausgedrückt, was dem Erfolge nach auf das gleiche hinausläuft. Von einem beträchtlichen Teil der heutigen Philosophen lässt sich das gleiche aussagen: auch sie gehen von schlecht gegründeten Voraussetzungen aus. Zu diesen gehört z. B. die Erfahrung, das erste und letzte Wort des Pragmatismus sowohl als der antimetaphysischen Naturphilosophie. Die Erfahrung ist als Begriff weder aus sich selbst evident noch auch unableitbar; sie ist nur als bestimmt gearteter Zusammenhang bestimmter Faktoren zu verstehen, muss sonach aus vorher Vorausgesetztem definiert werden. Setzt man Erfahrung-Wirklichkeit, dann fällt dieses Bedenken zwar weg, aber es wird durch das gewichtigere abgelöst, ob es wohl einen Sinn habe, eine so undeutliche, nur dem kurzsichtigsten Blicke ihre Gebrechen nicht offen vorweisende Formel als Grundlage der Forschung anzunehmen. — Schließen wir diese Betrachtung ab: alle Philosophien, die von beanstandbaren Voraussetzungen ausgehen, deren Grundannahmen und Hauptbegriffe unklar, unpräzise sind, sind siech geboren, sie sind daher nicht vollwertig und setzen kränkelnde Erben in die Welt. Eine Zeit mag sie lärmend als höchste Weisheit preisen — einmal kommt die Wahrheit doch an den Tag und sie verschwinden im Dunkel, von wannen sie gekommen waren.

Das zweite Grundgebot für das philosophische Denken, das übrigens vom ersten kaum zu trennen ist, betrifft die Exaktheit. Vergegenwärtigen Sie sich, was exakte Naturforschung heißt, und Sie werden leicht erfahren, was ich meine. Exakt forschen bedeutet nicht bloß richtig beobachten in dem Sinne, dass man nichts Falsches wahrnimmt, sondern auf die Weise beobachten, dass die Wahrnehmungen Erkenntnisse vermitteln. Und dieses gelingt nur, wenn man seine Versuche so anstellt, dass ihr Ergebnis die gestellte Frage entscheidet. Nicht jeder zuverlässige Beobachter darf ein exakter Forscher genannt werden: er mag das Wahrgenommene missverstehen, aus dem Geschehen falsche Schlüsse ziehen, oder auch seine Experimente so anstellen, dass sie über nichts zu belehren fähig sind. Ich mag tausend und abertausend richtige Beobachtungen machen: wenn ich sie nicht auf solche Weise anzuordnen weiß, dass mir das Beobachtete seiner Bedeutung nach verständlich wird, so habe ich gar nichts getan. — Übertragen wir dieses Verhältnis auf die Philosophie: es kommt nicht auf das Denken überhaupt an, auch nicht auf richtiges Denken im Sinne der formalen Logik, sondern auf ein Denken solcher Art, dass etwas dabei herauskommt, dass das Problem, um das es sich handelt, erschöpfend begriffen wird. Und dieses gelingt nur, wenn die Fragen richtig gestellt wurden. Das Ergebnis eines Gedankenganges hängt unmittelbar vom Ausgangspunkte und der eingeschlagenen Richtung ab: der bestbegabte Philosoph, der logisch zu fehlen unfähig wäre, wird jede Erkenntnis umgehen, wenn er von falscher Seite an sein Objekt herantritt. Solches haben nur zu viele getan: die Beiträge John Stuart Mills, Taines, Ostwalds, Ernst Machs zur Theorie der Erkenntnis sind deswegen ohne Bedeutung für die Wissenschaft, weil diese übrigens hochverdienten Männer die Fragestellung, die zur Lösung erkenntniskritischer Probleme einzig in Betracht kommt, nicht gefunden und auf diesem Felde daher nicht exakt geforscht haben.1 Exaktheit: das ist letzten Grundes die eigentliche Bedeutung dessen, was meistens als Tiefe bezeichnet wird. Einen Zusammenhang tief erfassen heißt nichts anderes als ihn so anpacken, dass er in seiner Totalität begriffen wird. Ist dieses geschehen, so ist alles getan; mehr kann kein Tiefsinn hervorholen. Man nennt aber den Philosophen tief, der seine Fragen richtig stellt, während man dem Naturforscher bloß das bescheidenere Prädikat der Exaktheit zuerkennt, weil jenem die Totalität Objekt ist und die Totalität überhaupt nur tief gefasst werden kann, wenn anders sie gefasst werden soll. Hier gibt es keine Teilprobleme, wie sie dem Naturforscher begegnen, keine Teilprobleme, die richtig gelöst werden können, ohne dass der Totalzusammenhang begriffen würde: dem Philosophen wird das Einzelne ausschließlich vom Ganzen her bestimmt. Daher können in der Philosophie überhaupt nur tiefe Geister exakt verfahren, während unter großen Naturforschern recht oberflächliche vorgekommen sind. Und jetzt werden Sie wohl ganz verstehen, was ich sagen will, wenn ich Kant als Meister des Tiefsinns bezeichne, jenen neueren Denkern hingegen, welche den Gegenstand der Erkenntnis in einem Sollen zu finden glauben, oder die Wirklichkeit auf Wertsetzungen begründen, diese Eigenschaft absprechen muss: Kant hat seine Fragen überall auf solche Weise gestellt, dass das Einzelne im richtigen Verhältnis zur Totalität erschien, dass also das Ganze dem Teil seinen Ort anwies. Denn da er überhaupt nur die Erkenntnisart des Subjekts untersuchen wollte, kann es ihm nicht als Fehler angerechnet werden, dass er den Totalzusammenhang nicht so hinstellte, wie er als solcher am besten zu übersehen war. Was aber hat Rickert getan? Er hat das Wirklichkeitsproblem gleichsam in einen Winkel gedrängt und den totalen Zusammenhang, den er freilich an keiner Stelle zerrissen hat, dann in einer Perspektive betrachtet, die sie arg verzerren musste. Es erwies sich ihm, und von seinem Standpunkte aus mit Recht, dass uns eigentlich nur Urteilsforderungen gegeben sind, und um diese halbkontingente Gesetzmäßigkeit zu begreifen, konnte er nicht umhin, auf genau dem gleichen Wege, welchen Physiker in solchen Fällen betreten, ein Prinzip zu erdenken, das unter allen Umständen richtig, alles Zweifelhafte unter sich begriff: das Prinzip des transzendenten Sollens. Gegen Rickerts Konstruktion lässt sich, ihre Richtigkeit betreffend, nicht das mindeste einwenden, sie ist sogar bewundernswert als Werk eines seltenen Scharfsinns, aber sie ist kein Produkt exakten Forschens im oben bestimmten Sinne, und seine Erkenntnisse sind daher nicht tief. Rickerts Philosophie gibt keinen erschöpfenden Weltbegriff, weil sie den Zusammenhang von Weltall und Menschengeist, den auch sie voraussetzen muss, von einem Standpunkte aus betrachtet, der das Ganze nicht zu übersehen gestattet und das, was von ihm aus sichtbar ist, in verzerrter Perspektive zeigt. Aber die Philosophie des Sollens erscheint doch wahrhaft tiefsinnig, wenn man ihr die Philosophie der Werte gegenüberhält. Das Unternehmen, alles Gegebene im Zusammenhang als gültig vorausgesetzter Werte zu betrachten, ist ohne Zweifel ein mögliches Unternehmen. An sich selbst ist jeder Standpunkt, der innerhalb des Gegebenen liegt, ein möglicher Standpunkt, und im Reiche der Vorstellungen gibt es leider keine harten Tatsachen, die der Urteilskraft des experimentierenden Forschers ihr Geschäft erleichtern. Nichtsdestoweniger ist es schwer zu verstehen, wie klar denkende Männer an einer solchen Philosophie je haben Genüge finden können. Denn was ist ihr Sinn? Sie ordnet die ganze reiche Gegebenheit, deren Dasein nicht in Zweifel zu ziehen ist, einer Spezialgegebenheit unter, deren Dasein nur durch Postulate zustande kommt! Mögen anerkannte Werte die Voraussetzungen jedes Kulturgebildes sein — sie gelten nur in bezug auf den Geist, der sie anerkennt, und auch die Kulturphilosophie ist oberflächlich, die nicht tiefer greift, als bis zum Dasein der Werte. Heute sind Weltanschauungen modern, deren Gerüst gleichsam oberhalb des Menschen ruht: in der Sphäre freigesetzter Begriffe. Es entspricht dem Kleinarbeitergeiste unserer Zeit, das Zierliche dem Soliden vorzuziehen, und reine Begriffsgebilde sind ja allerdings leichter zu behandeln, als das großzügige, spröde Gefüge der wirklichen Welt. Allein Sie können mir glauben: diese Mode wird vergehen, Philosophie ist keine Kleinkunst. Die Begriffskonstruktionen genannter Art werden bald vergessen werden, denn sie sind nicht gegenständlich.

Hiermit wären wir bereits tief in die Betrachtung des dritten Grunderfordernisses des philosophischen Denkens hineingeraten, der Forderung, dass das Denken gegenständlich sei, das heißt, dass es nur objektive, wirklich bestehende Zusammenhänge zusammenfasse. Es ist ja ein leichtes, zwischen jedem Gegenstande der Welt und jedem anderen eine Beziehung zu statuieren, die Zahl möglicher Verknüpfungen ist unendlich und einem geistreichen Manne mag es als anmutiges Spiel hingehen, wenn er zwischen unvereinbaren Dingen die Netze seiner Gedanken ausspinnt. Aber ernst sind diese Netze nicht zu nehmen. Sie mögen literarischen Wert haben, sie mögen als Anregungen sogar nützlich sein, philosophische Bedeutung kommt ihnen niemals zu. Denn die Philosophie soll nun einmal Erkenntnis vermitteln, und dieses vermögen ungegenständliche Gedanken nicht. In unserer Epoche essayistischer Tendenzen, denen sogar tiefe Geister nicht immer widerstehen, ist es schwer, einem klugen Buche zu begegnen, dessen Gedanken nicht zur Hälfte ungegenständlich wären. Dieses gilt zumal von Schriften, welche die Kunst oder soziale Probleme behandeln, weil diese Themen besonders verführerisch sind. Die Verfasser solcher Bücher gehen meist auf die folgende Weise vor: sie werfen zwei oder drei beliebige Begriffe aus, und sehen dann zu, was sich in dem Netze, das diese umrahmen, heimbringen lässt. Es ist natürlich alles nur Mögliche, denn der Geist müsste schon gar von Gott verlassen sein, der im Binnenraume dreier Koordinaten nicht das Weltall einzufangen vermöchte. Aber was steht dafür, dass den gesetzten Grundbegriffen reale Grundlagen der Wirklichkeit entsprechen? dass sie ohne Vorurteil auf das Ganze des fraglichen Gebietes anzuwenden sind? dass sie nicht die Umrisse fiktiver Konstruktionen hinzeichnen, innerhalb welcher auch die Wirklichkeiten, die ihnen als Elemente eingefügt werden, zu Hirngespinsten zerrinnen müssen? — Hiernach wird gar nicht gefragt. Und doch ist dieses das erste, was aufzuklären wäre, denn diese Fragen entscheiden darüber, ob die Zurückführung auf Begriffe Erkenntnis bedeutet oder nicht. Noch einmal: wer bloß unterhalten will, der mag auf die bezeichnete Weise verfahren, der Philosoph, der nicht besser zu denken weiß, hat seinen Beruf verfehlt.

Philosophie kann nur als wertvoll gelten, wenn sie die Prädikate der Exaktheit, der Gegenständlichkeit und der Bestimmtheit verdient. Eine Erkenntnis, die den Anforderungen nicht genügte, die wir im Laufe dieser Stunde entwickelt haben, wird sicher einmal überholt, sie bedeutet im glücklichsten Falle den vorletzten Ausdruck, und unsterblich ist immer nur das letzte Wort. Auch der tiefste Gedanke muss genau gefasst und ausgesprochen werden, wenn anders er als solcher fortleben soll. Es hat ja niemals an Seelen gefehlt, die von Ahnungen über die letzten Zusammenhänge erfüllt sind und ehrlich nach Ausdruck ringen. Die meisten finden ihn nicht, Musikern und Dichtern gelingt es zuweilen, ihre unbestimmten Ahnungen vermitteln bestimmter Gefühle bestimmt auszudrücken und auf diese Weise Tüchtiges zu leisten: das gedankliche Ungefähr entspricht oft einer deutlichen Empfindung. Aber der Philosoph, der seine Gedanken nicht bestimmen kann, ist eine verfehlte Existenz. Philosophie hat ausgesprochen zu sein, sonst ist sie überflüssig, ihr ganzer, ihr einziger Wert beruht darauf, dass sie das unzweideutig feststellt, was alle vielleicht ahnen. Heute, wohl unter dem Einflusse eines halbabsichtlichen, weil dem Ergebnisse nach hochwillkommenen Missverstehens der Bergsonschen Philosophie, wird häufig behauptet: das Dunkle sei gerade das Wahre, klare Begriffe sprächen immer Lügen aus. Daran ist soviel richtig, dass der Grund des wirklichen Werdens allerdings dunkel ist, und dass eine Reihe bejahrter und abgeklärter Begriffe außerstande sind, das zu leisten, was heute von ihnen verlangt wird. Vollkommen verfehlt und geradezu ungeheuerlich ist aber die Folgerung, die aus diesen nicht eben unerhörten Ergebnissen neueren Forschens gezogen wird: die Erkenntnis müsse auf Klarheit verzichten! solches zu behaupten ist unverschämt, ist sündhaft. Erkennen heißt schlechterdings nichts anderes, als das sich klar machen, was vordem dunkel war, eine unklare Erkenntnis kann es nicht geben. Also muss auch die Erkenntnis des Dunklen als solche eine helle sein, denn vorher ist dieses nicht erkannt. Wir sind heute in der glücklichen Lage, neue Probleme vor uns zu sehen, die wegen ihrer Neuheit zunächst natürlich dunkel erscheinen. Wissen wir nichts Besseres zu tun, als nun schnell das Gebot der Dunkelheit echter Erkenntnis zu proklamieren, so sind wir des Hohngelächters der ganzen Nachwelt gewiss.

1 Diesen Punkt habe ich im dritten Kapitel vom Gefüge der Welt des näheren ausgeführt.
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
VI. Vom Ideal des philosophischen Denkens
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