Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

III. Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie

Lebensmilieu

Bei oberflächlichem Hinsehen scheinen die Objektivität der logischen Normen und die Wirklichkeit der Phänomene Bestimmungen zu sein, die dem Kantischen Weltbegriffe widerstreiten. Zum mindesten scheint dieser gegenstandslos und überflüssig zu werden, wenn die anderen Bestimmungen richtig sind. Soll man überhaupt bei der Theorie verweilen, dass unsere Welt Vorstellung ist, von den Erkenntnisformen bedingt und gestaltet, wenn diese Vorstellungswelt dennoch wirklich ist, soll man den apriorischen Charakter der logischen Grundsätze überhaupt betonen, wenn diesen universale Gültigkeit zukommt? — In der jüngsten Zeit, wo die Erkenntnisse, zu welchen ich Sie hinführe, offenbar in der Luft liegen, ist dieser rasche Schluss nicht selten gezogen worden, und desto zuversichtlicher, je undeutlicher die Prämissen und ihr Sinn erfasst worden waren. Er ist indes in keiner Hinsicht berechtigt. Der leitende Gedanke der Vernunftkritik, dass der Sinn der Begriffe im Menschen und nicht in der Außenwelt zu suchen und dass die Objektivität der Erkenntnis durch die Denkformen und nicht durch die Gegebenheit als solche zu definieren ist, hat sich überall als richtig erwiesen. Heute wissen wir mit vollendeter Klarheit1 und Gewissheit, dass, um das Verhältnis mit extremer Schärfe zu formulieren, die naturwissenschaftliche Begriffsbildung nicht fortschreitend der gegebenen Natur zuführt, sondern im Gegenteil von ihr abführt; je anthropomorpher eine Wissenschaft ist, desto besser entspricht sie ihrem Zwecke, das Nichtmenschliche begreiflich zu machen. Die Begriffe, dank welchen wir die Dinge erschöpfend begreifen, bezeichnen nicht, wie einstmals gewähnt wurde, deren konstitutive Prinzipien, sondern die Art, auf welche wir uns ihrer bemächtigen können. So gibt die Formel H₂O nicht etwa das Wesen des Wassers wieder, sondern sie umreißt diejenigen seiner Eigenschaften, die einer bestimmten Handhabung zugänglich sind und weist den Weg zu eben dieser Handhabung; so ist die Energie nicht Essenz der Welt, sondern das handlichste Symbol für den Zusammenhang der Phänomene, und der Äther keine metaphysische Wirklichkeit, sondern das Postulat, dank welchem unzählige sonst unvereinbare Vorgänge auf einen Nenner gebracht werden können. Die vollendete Wissenschaft würde nicht die sein, welche die Gegebenheit, wie sie ist, am exaktesten beschriebe, sondern die, welche die Gegebenheit durch ein Begriffssystem ersetzte, dessen Elemente mit den Erscheinungen als solchen nirgends zur Deckung zu bringen wären, das aber gerade deswegen die Erscheinungen vollkommen zu beherrschen gestattete. Die wissenschaftlichen Theorien sind also Instrumente der Erkenntnis, sie sind zweckmäßig oder unzweckmäßig, nicht wahr oder falsch, und dieses sichere Ergebnis der modernen methodologischen Analyse ist zugleich der entscheidende Gedanke der Kritik der reinen Vernunft. Wohl mag alles Gegebene gleich wirklich sein, so dass der phänomenale Charakter der Welt anders zu verstehen wäre, als Kant ihn vielleicht verstanden hat; wohl ist der Sinn der logischen Grundnormen dahin zu korrigieren, dass ihre Gültigkeit sich nicht bloß auf das menschliche Denken, sondern auf das Daseiende überhaupt erstreckt, so dass der Antithese a priori-a posteriori eine andere Bedeutung zukommt, als Kant sie ihr beigelegt hat: die Hauptthese der Vernunftkritik, dass Erkenntnis nur nach Begriffen zustande kommt, die ihren Grund einzig und allein in uns selbst haben und keinen Schluss auf das Wesen der Dinge gestatten, bleibt wahr. Und ebenso wahr bleibt Kants Zurückführung aller Kategorien auf die Notwendigkeiten unseres Denkens und Schauens. Selbst wenn die Behauptung einen Sinn hätte, dass die Kategorie der Kausalität unabhängig vom erkennenden Menschen wirksam wäre, selbst wenn es sich nachweisen ließe, dass die Welt genau so ist wie sie uns erscheint, oder dass die Vorstellung einer empirischen Wirklichkeit, die nicht durch die Art ihres Erscheinens definiert würde, blind ist, Kants Weltansicht bliebe als Vorderansicht die richtige. Vom erkennenden Subjekte aus gesehen, ist alles Wirkliche Funktion seiner Erkenntnisart. Also kann das Problem, den Sinn der Vernunftkritik im Zusammenhang der kritischen Wissenschaften zu begreifen, nicht dadurch gelöst werden, dass man den Kantischen Thesen ihre Wahrheit oder Gegenständlichkeit abstreitet.

Der Überblick, nach dem wir streben, ist nur dadurch zu gewinnen, dass diese Thesen tiefer erfasst werden. Und dieses bietet heute, wo die Ergebnisse der Wissenschaften sich wie von selbst zu einer höheren Synthese zusammenschließen, keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr. Wenn wissenschaftliche Theorien nur als Instrumente begriffen werden können, so haben sie ihren Sinn offenbar nicht in sich, sondern in dem, der sie nutzt; folglich setzt die wissenschaftliche Wahrheit als Begriff den Begriff eines erkennenden oder erkennenwollenden Geistes voraus. Der Erkenntnistrieb ist also nicht durch die Wissenschaft, sondern umgekehrt die Wissenschaft durch den Erkenntnistrieb zu definieren. Können wir diesen nun als letzte Voraussetzung gelten lassen? Schwerlich; denn ein Trieb ist nur als Bedürfnis zu verstehen, und ein Bedürfnis nur als Bestimmung eines, welcher bedarf. So setzt denn der Erkenntnistrieb, um verstanden zu werden, das Dasein eines lebendigen Menschen voraus. Wenn nun der Erkenntnistrieb nur im Zusammenhange des Menschen-Lebens zu begreifen ist, so muss er, da dieses einen Spezialfall alles Lebens überhaupt bezeichnet, offenbar am erschöpfendsten im Zusammenhange des Gesamtlebens zu begreifen sein. Und so ist es in der Tat. Es hat sich erwiesen — ich berühre diese Verhältnisse nur kurz, da sie im besonderen schon häufig und mit genügender Ausführlichkeit dargestellt worden sind2 —, dass das Erkennen kein isoliertes Geschehen ist, mit besonderen Gründen und Zielen, sondern ein Lebensmittel, eine zweckmäßige Reaktion auf die Außenwelt; es liegt also, biologisch betrachtet, auf einer Ebene mit sämtlichen spezifisch lebendigen Vorgängen. So ist es denn nicht nur möglich, sondern zwecks erschöpfenden Verständnisses unmittelbar geboten, den ganzen Erfahrungsprozess und mit ihm die Ergebnisse der Vernunftkritik vom Leben her zu betrachten.

Welchen allgemein-biologischen Sinn mag die kritische Erkenntnis haben, dass unsere Welt Vorstellung ist, von den Erkenntnisformen bedingt und gestaltet? — Keinen anderen, als die allgemeine und wohlbegründete Erkenntnis der Biologie, dass die Welt jedes Lebewesens sein Milieu ist. Milieu oder Umwelt heißt der Ausschnitt aus der Welt, in welchem sich das Leben des betrachteten Organismus abspielt und an welchen es gebunden ist3. Da dieses Milieu bei keinem bekannten Organismus mit dem Universum zusammenfällt und jeder nur das erfahren kann, was sich innerhalb seiner Umwelt ereignet, so ergibt sich daraus ohne weiteres, dass bei jedem Organismus eine Reihe von Wirklichkeiten jenseits der Grenze möglicher Erfahrung belegen sind. Das Universum des Meerschwammes ist das Meer, und auch dieses nicht in der Gesamtheit seiner Eigenschaften, sondern nur in der spezifischen Form, in der es ihn unmittelbar berührt. Dem Eingeweidewurm bedeutet der Darm, in welchem er haust, das All der Natur, denn über den Darm reicht sein Lebensmilieu nicht hinaus; von den übrigen Dingen braucht er und ahnt er nichts. Wir Menschen sind genau in der gleichen Lage: auch unsere Welt reicht über unsere Umwelt nicht hinaus, auch bei uns fällt diese mit dem Weltall nicht zusammen, auch wir können nur einen Teil der Wirklichkeit auffassen. Wohl haben wir es vermocht, unser Milieu beträchtlich zu erweitern: unsere mögliche Erfahrung ist nicht mehr auf die unmittelbaren Daten unserer Sinne angewiesen, wir helfen uns durch körperliche und geistige Instrumente und erschließen vieles von dem, was wir nicht wahrnehmen können. Gleichwohl entgehen uns nicht bloß eine Fülle von Stoffen und Kräften, von Beziehungen und Ereignissen, die gewisslich vorhanden sind und von welchen andere, sogar niedriger organisierte Wesen wissen mögen — wir sind unfähig, zu den Wirklichkeiten, die nicht unmittelbar zu uns gehören und die wir durch eine Art Gewaltakt unserer Umwelt eingefügt haben, ein rechtes Verhältnis zu gewinnen. Die Begriffe z. B., die sich mit der Physik des Äthers befassen, der als solcher nicht zu unserer möglichen Erfahrung gehört, sind in sich widerspruchsvoll und daher nicht zu verstehen, während das Verständnis uns unmittelbar berührender Vorgänge ohne Schwierigkeiten vor sich geht; da der Verstand ursprünglich nur zur Behandlung materieller Vorgänge dienen soll4, so ist der eigentliche Lebensprozess, der in fortwährender Neuschöpfung besteht, mit dem Verstande überhaupt nicht zu begreifen. Die genannten Probleme, denen sich viele andere angliedern ließen, sind transzendent im Kantischen Sinne, d. h. sie liegen jenseits des Umkreises möglicher Erfahrung; und dies bedeutet, dass sie außerhalb unserer Umwelt belegen sind. Wenn es von einem Probleme heißt, es sei für die Wissenschaft unlösbar, so hat dieses Urteil genau den gleichen Sinn wie die Aussage über den Schwamm, dass er nur vom Meer etwas wissen kann. Der Satz: meine Welt ist Vorstellung, ist also gleichen Inhaltes mit dem allgemeineren: die Welt jedes Organismus ist sein spezifisches Milieu. Und jetzt werden wir auch verstehen, was es heißen soll, dass unsere Welt durch die Erkenntnisformen bedingt und gestaltet wird: beim Menschen wie bei jedem Lebewesen werden die Grenzen seiner erfahrbaren Welt, d. h. die Grenzen seines Milieus, durch seine Organe abgesteckt; außerhalb dessen, was er auffassen kann, gibt es nichts für ihn, und nur das vermag er aufzufassen, wozu er die nötigen Organe besitzt5.

Suchen wir uns z. B. das mögliche Weltbild eines Schwammes auszumalen. Die einzigen Sinnesorgane dieses Tieres befinden sich nach innen zu, in den Bauchhöhlungen, es besitzt nichts unseren Augen, Ohren, unserem Tastsinn Vergleichbares. Seine Weltanschauung dürfte nicht unähnlich der eines Menschen ausfallen, dessen einziger Sinn der Geschmack wäre und der daher des Glaubens leben müsste, alles Wirkliche in seinem Munde zu beherbergen. Dieses fremdartige Milieu ist aber offenbar bedingt durch die Organisation des fremdartigen Wesens; einem anders gearteten Tier sieht die Welt entsprechend anders aus. Der Charakter der Umwelt ist überall Funktion der Organisation, die Organe wählen die Teile der Wirklichkeit aus, die für das Leben in Betracht kommen, und schneiden sie den Bedürfnissen entsprechend zu. Eben das hat Kant für das erfahrende Bewusstsein nachgewiesen; ersetzen wir in der Formel meine Welt ist Produkt meiner Erkenntnisformen Erkenntnisformen durch Organisation, so spricht sie für alles Lebendige wahr. Andrerseits aber wird uns auch der Sinn von Kants Ergebnissen bedeutend einleuchtender und deutlicher, als er es früher sein konnte, wenn wir sie aus allgemein-biologischer Perspektive betrachten. Dann erscheint es auf den ersten Blick evident, dass wir hinter die Erscheinungen nicht blicken können, dass die Erkenntnisformen die Grenzen möglicher Erfahrung abstecken, dass wir über das an sich der Dinge nichts auszusagen vermögen: denn die Welt, wie sie uns entgegentritt, ist eben Funktion unserer Organisation, und da wir aus uns selbst nicht hinauskönnen, so ist es uns auch versagt, die Grenzen unserer Umwelt zu überwinden. Nicht weniger selbstverständlich erscheint es jetzt, dass es nicht gelingen kann, die Formen der Erfahrung aus der Außenwelt zu deduzieren: sie gehören zur Definition des erkennenden Menschen als Naturproduktes und nicht zur Definition der ihn umgebenden Natur; die Eigentümlichkeiten des Organismus sind aus dem, was er nicht ist, nicht abzuleiten. Aber freilich vermag jener von der Welt nur im Rahmen betagter Eigentümlichkeiten Kenntnis zu erlangen. Endlich dürfte es erst von unserem Gesichtspunkte aus ganz klar werden, weshalb eine Kritik der Erfahrung unter allen Umständen notwendig ist und weswegen die Ergebnisse der Kantischen Kritik in den Grundzügen vernünftigerweise nicht angefochten werden können: der Erfahrungsbegriff hat ohne Bezugnahme, auf ein erfahrendes Subjekt keinen Inhalt, er ist ein leeres Wort, ein flatus vocis; erst nach und durch Bestimmung des Subjektes erlangt er überhaupt einen Sinn. Dieses erfahrende Subjekt ist aber keine tabula rasa, es steht aktiv der Welt gegenüber, mit einer geistigen Organisation versehen, und die Bestreitung dieser Organisation, deren Charakter eben durch Kants Kritik festgestellt worden ist, kommt der Behauptung gleich, dass zur Erfahrung nur die Außenwelt, kein erfahrender Organismus erforderlich wäre6. Der Satz: meine Welt ist Vorstellung, durch die Erkenntnisformen gestaltet und bedingt, bedeutet also eine besondere Fassung der allgemeinen Wahrheit, dass die Welt jedes Organismus sein Milieu ist, dessen spezifischer Charakter seinerseits von der spezifischen Organisation des fraglichen Lebewesens abhängt, und aus diesem Grunde nicht das Ansichsein der Dinge, sondern deren Inbetrachtkommen für den Organismus zum Ausdruck bringt. Kant hat eine Frage beantwortet, die er mit Bewusstsein gar nicht gestellt hat: die reinbiologische Frage, nach welchen Gesetzen, unter welchen Bedingungen, innerhalb welcher Grenzen der Organismus Mensch, als erkennendes Wesen betrachtet, auf die äußere Natur reagiert. Und vor allen Biologen, ja bevor die Biologie als Wissenschaft überhaupt geboren wurde, hat er erkannt, dass die Welt des Lebendigen sein Milieu ist, dass es von den Dingen nur erfährt, insofern es sie braucht, dass seine Organe zweckmäßig eingerichtet sind, dass der letzte Zweck jeder Lebensäußerung kein anderer ist als das Leben selbst. So geht es den ganz großen Geistern: ihre Gedanken sind wahrer als ihr Ausdruck es ahnen lässt, und ihr Sinn oft ein tieferer als sie es selber wussten. Keiner von uns wird sich vermessen, seinen Geist mit dem Kantischen zu vergleichen; und doch sind wir, dank glücklicheren Zeitumständen, in der Lage, sein Lebenswerk besser zu erfahren, als er es selbst zu erfassen vermocht hat.

Jetzt wird es uns gelingen, die Wahrheit, dass unsere Welt Vorstellung ist, von den Erkenntnisformen bedingt und gestaltet, mit den anderen zu vereinbaren, dass alles Erscheinende gleich wirklich ist und dass den logischen Normen, deren Validität für uns a priori feststeht, nicht bloß immanente sondern auch transiente Gültigkeit zukommt, und auf diese Weise von der Stellung des erkennenden Menschen im Zusammenhang der Phänomene einen deutlichen Begriff zu bilden. Vergleichen wir die konstruierte Vorstellungswelt des Meerschwammes mit der unserigen und fragen wir uns versuchsweise, welche von diesen beiden wohl richtig sein möge, oder ob am Ende beide falsch sein sollten? denn so viel ist gewiss, die beiden Weltbilder haben kaum eine einzige Eigenschaft gemein, und wenn das menschliche Weltbild das richtige ist, so müsste — diese Folgerung ist nicht abzuweisen — der Schwamm sich zeitlebens im Irrtum befinden. Die aufgeworfene Frage lässt nun offenbar keine Entscheidung zu, und dieses aus dem einfachen Grunde, weil sie des Sinnes entbehrt. Die Frage, ob unsere Welt wirklicher ist als die des Schwammes, hat nicht mehr Sinn als die Frage, ob die blaue Farbe wirklich blau und ob sie nicht eigentlich rot wäre, d. h. sie ist absurd. Die empirische Realität einer Erscheinung kann überhaupt nur durch ihr Vorgestelltwerden definiert werden7, d. h. die Welt ist nur insofern real für uns, als sie Erscheinung ist, von den Lebensformen gestaltet und zugeschnitten, und das gleiche gilt natürlich für den Schwamm. Die eigentümliche Vorstellungswelt, die er erlebt, ist der jedem Organismus wesentliche Ausdruck der Wirklichkeit und daher nicht bloß der richtige, sondern der einzig mögliche Ausdruck für ihn. Infolgedessen sind alle spezifischen Weltbilder gleich richtig und gleich wahr, wie wenig sie unter einander übereinstimmen mögen, weil sie eben verschiedene Definitionen der gleichen Wirklichkeit von verschiedenen Gerichtspunkten aus bezeichnen, weil von jedem Gesichtspunkte aus nur eine Definitionsart des gleichen zulässig ist, und für jeden Gesichtspunkt nur die ihm entsprechende Bestimmung richtig sein kann. Oder anders getagt: die verschiedenen Vorstellungswelten bedeuten verschiedene Sprachen, in welchen der gleiche Gedanke ausgedrückt wird. Für den Deutschen, der keine fremde Sprache beherrscht, existiert ein Gedanke überhaupt nur in deutscher Fassung; ganz im gleichen Sinne ist es uns versagt, die Welt in der Vorstellung des Schwammes wiederzuerkennen, oder überhaupt irgend eine Wirklichkeit auszudenken, die nicht unserer Erkenntnisart gemäß wäre. Folglich hat es keinen Sinn, nach einer Realität der Dinge jenseits ihrer Erscheinungsart zu spähen, da ihre Realität für uns einzig und allein durch ihr Erscheinen definiert werden kann; folglich beweist es ein vollendetes Verkennen des Tatbestandes, wenn aus der Phänomenalität der Welt ihre Unwirklichkeit gefolgert wird. Alles Erscheinende ist wirklich und jenseits des Erscheinenden gibt es nichts für uns. Da unsere Vorstellungsform die Sprache bedeutet, in der alles Wirkliche sich notwendig für uns ausdrücken muss, so kann der Wahrheitswert unserer Erfahrungen durch die Erkenntniskritik nicht geschmälert werden. Die logischen Normen gelten weiter für alles Daseiende, die Sinneseindrücke behalten ihre Wahrhaftigkeit bei. Was lehrt uns dann die Vernunftkritik? — Den Sinn und die Stellung des Erfahrungsprozesses im Zusammenhange alles Wirklichen; sie lehrt, was Wirklichkeit bedeutet. Sie zeigt, dass diese nicht aus der Außenwelt an sich, sondern nur aus deren Zusammenhang mit einer spezifisch organisierten Intelligenz zu begreifen ist, sie stellt den Rahmen fest, der uns umgrenzt und den wir daher jedem Objekte aufzwängen, zu dem wir in Beziehung treten. Aber die Wirklichkeit zu begründen vermag sie nicht. Das Äußerste, was ihr zusteht, ist die Entwirrung des Verhältnisses, in welchem die Denkkategorien und Verstandesbegriffe — gegebene Erkenntnisbedingungen — zur äußeren Gegebenheit stehen.

Was der Sinn und die Bedeutung der Vernunftkritik ist, dürfte Ihnen jetzt völlig klar geworden sein. Doch möchte ich Sie noch, ehe ich Sie entlasse, zu einer kleinen methodischen Untersuchung auffordern, die zur endgültigen Klärung unseres Problems ein Erkleckliches beitragen wird. Es gibt nämlich überraschend wenig Menschen, selbst unter den gutbegabten, welche die Sonderstellung der Erkenntniskritik und ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften, die das Erkennen betreffen, richtig verstehen, die meisten wissen sie gegen Logik und Psychologie nicht reinlich abzugrenzen und viele haben sogar den befremdlichen Versuch unternommen, die Erkenntniskritik durch Psychologie zu ersetzen, oder die Bedingungen der Erfahrung mit den Normen der reinen Logik in Zusammenhang zu bringen. Diese Versuche, die sich beim Publikum noch heute eines gewissen Ansehens erfreuen, sind offenbar von Grund aus verfehlt. Da die Vernunftkritik die Organisation feststellt, mit welcher der erkennende Mensch an die Außenwelt herantritt, da Organisation etwas Formales, nichts Materiales ist, so sollte es jedem Urteilsfähigen von vornherein einleuchten, dass die Kritik etwas anderes sein muss als die empirische Psychologie, welche sich nicht mit der Form, sondern den Inhalten des Bewusstseins befasst, und deren Stellung im Zusammenhange des Wirklichen gar nicht in Frage stellt. Und nicht minder evident sollte es ihm vorkommen, dass sie etwas anderes ist als die formale Logik, — denn diese bestimmt die Denkgesetze an und für sich, ohne Rücksicht auf die Denkinhalte, sie stellt die immanenten Normen des Geistesprozesses fest, nicht deren Verhältnis zur erfahrbaren Welt. Für die Psychologie gibt es keinen Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit, und für die Logik keinen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, welche Unterschiede hinsichtlich der Erfahrung die entscheidenden sind. Gleichwohl dürfen wir uns bei der Evidenz nicht bescheiden, wir müssen den wahren Sachverhalt genau und unzweideutig feststellen. Angesichts der großen und verderblichen Unklarheit, die über diese Dinge unter Physikern, Philosophen und Psychologen herrscht, wird es sich sogar nicht vermeiden lassen, ein wenig pedantisch vorzugehen. Nur wenn das letzte deutlich ausgesprochen wird, so dass kein Raum für falsche Schlüsse übrig bleibt, dürfen wir hoffen, das Missverständnis für immer aus der Welt zu schaffen.

1 Der Autoren sind so viele, die bei dieser Klärung mitgearbeitet haben, und die Ergebnisse sind auf so verschiedenen Wegen und in so mannigfachen Zusammenhängen gewonnen worden, dass es kaum möglich erscheint, auf einen besonderen Forscher und eine besondere Arbeit hinzuweisen. Ich will nur die Werke nennen, deren Studium mir besonders empfehlenswert erscheint: sämtliche Schriften allgemeinen Inhalts von Henri Poincaré, alle Arbeiten von Bergson, P. Duhem La théorie physique (Paris 1906, Chevalier & Rivière), Édouard Le Roy Un positivisme nouveau (Revue de Métaphysique et de Morale, no. de Mars 1901), Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum. Sehr fördernd ist auch die Lektüre der Einleitungen zu den Mechaniken von Hertz, Kirchhoff, Newton u. a., welche von der Wiener philosophischen Gesellschaft in einem Sammelbande (erschienen in Leipzig 1899 bei I. A. Barth) herausgegeben worden sind, denn diese großen Naturforscher haben mehr als alle Philosophen außer Kant zur methodischen Grundlegung der Erkenntnis beigetragen.
2 Vgl. unter anderem den Epilog zu meinem Gefüge der Welt.
3 Das Werk J. von Uexkülls Innenwelt und Umwelt der Tiere sollte jeder Philosoph studieren, denn durch den Vergleich der wahrscheinlichen Weltbilder verschiedengearteter Wesen untereinander und mit dem menschlichen wird er lebendige Anschauungen gewinnen, die mehr wert sind als alle noch so fehlerfreien abstrakten Gedankenketten. Von Uexküll stammt übrigens der glückliche Ausdruck Umwelt her.
4 Vgl. Henri Bergson Matière et Mémoire und L’Evolution Créatrice (Paris, Alcan), deutsch bei Eugen Diederichs in Jena.
5 Ob Bergson sich, als er ihn niederschrieb, des vollen Sinnes des Satzes: notre représentation de la matière est la mesure de notre action possible sur les corps (Matière et Mémoire p, 25) bewusst gewesen ist?
6 Brauche ich besonders hervorzuheben, dass ich nicht das Dasein besonderer geistiger Organe behaupte? In der geistigen Sphäre kann von solchen selbstverständlich nicht die Rede sein, weil hier der Zusammenhang eben ein geistiger ist. Aber dieses beweist nicht die Nicht-Existenz einer Organisation!
7 Dieses meint wohl auch der Pragmatist Dewey mit seinem Theorem: Reality is what it is experienced as. Aber die Erkenntnisse der Pragmatisten sind im günstigsten Falle Halbwahrheiten, weil es ihren Grundsätzen und ihrer Methode anscheinend widerspricht, ihre Gedanken zu Ende zu denken und zu methodischer Klarheit zu bringen.
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
III. Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie
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